Die Kapitulation der Gewerkschaft vor dem faschistischen Regime*
Georg Jungclas
Eine wichtige – wahrscheinlich die entscheidende – Waffe im Kampf gegen den Faschismus wäre der politische Massenstreik und schließlich der Generalstreik gegen die Verfassungsbrüche des „eisernen Generals“ Hindenburg gewesen. Aber einerseits hatte die Gewerkschaftsführung im Kielwasser des rechten Flügels sozialdemokratischer Politik diesen Präsidenten mit auf den Schild gehoben, und zum andern hofften sie, daß man in Deutschland nicht ohne sie, geschweige denn gegen sie, regieren könne.
Diese letztere Annahme wäre richtig gewesen, wenn die Gewerkschaften die Kraft der organisierten Arbeiter zur Verteidigung der demokratischen Rechte eingesetzt hätten. Aber die Führung setzte ihre Hoffnungen nicht auf die Kraft der gewerkschaftlichen Aktionen, sondern auf die bessere „Einsicht“ der durch den „sozialen General“ Schleicher repräsentierten politischen Kräfte. Durch diesen „Ausweg“ sollten die schlimmsten Auswüchse des Faschismus verhindert, die Ruhe im Land wieder hergestellt und Hitler der Weg in die Reichskanzlei versperrt werden.
Wie der SPD-Vorstand, so gaben sich auch die Gewerkschaftsführer aller Lager der Illusion hin, daß man die Organisationen durch einen Kurs der unbedingten Legalität und der politischen Neutralität retten könne. Sie vermochten nicht die Lektion zu lernen, die auf dem Gebiete der Gewerkschaftsausschaltung das faschistische Regime Italiens von 1925-1927 erteilt hatte.
Es war ein verzweifelter Versuch, durch den politischen Selbstmord den organisierten Tod zu verhindern.
Durch ihr Zögern seit dem 30. Januar hatten die freien Gewerkschaften, die stärksten Stützen des IGB [Internationaler Gewerkschaftsbund], nicht nur ihre eigenen, sondern auch viele internationale Chancen verspielt. Am 19. April, nachdem der ADGB [dem Vorläufer des DGB] den Aufruf zum 1. Mai offen bekundet hatte, kam es zum endgültigen Bruch zwischen dem ADGB und dem Internationalen Gewerkschaftsbund.
Geplante Unterdrückung
Ende 1932 war man sich in der NSDAP darüber einig, daß die bestehenden Gewerkschaften als „Klassenkampforganisationen“ zu verschwinden hätten, um an ihre Stelle Organe eines Kooperativ-Staates treten zu lassen. Nur über das Wie und das Wann des Vorgehens gingen die Meinungen auseinander. So war die Politik Hitlers zunächst darauf abgestellt, den Block der organisierten Arbeiterschaft möglichst behutsam zu umgehen, die Arbeitswilligkeit des Arbeiters zu erhalten und den Eindruck zu vermeiden, als sollte dem Arbeiter etwas genommen werden.
Da sich die Gewerkschaften in der ersten Phase von Hitlers „nationaler Revolution“ deshalb einer gewissen Nachsicht erfreuten, verstärkte sich die Auffassung in der Gewerk- schaftsführung, daß die Gewerkschaften bei genügender Anpassung an die neue Macht als Glied des neuen „kooperativen Staates“ anerkannt würden.
Hitler hatte aus den ersten Ergebnissen der im März angelaufenen Betriebsräte-Wahlen erneut gesehen, daß er mit Hilfe der NSBO [Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation] die Betriebsräte nie in die Hand bekommen würde. Trotz stärkstem Druck auf die Arbeiterschaft, trotz Listenverbindungen mit national-tendierenden Angestelltenverbänden und mit unbedeutenden lokalen reaktionären Ar- beitervereinigungen erreichte die NSBO nur 25 % aller Betriebsräte-Mandate, und das auch nur dort, wo das Spezialisten- und Angestellten-Element den Großteil der Belegschaft ausmachte. Da man fürchtete, die Wahlen in der Großindustrie würden zu Demonstrationen gegen die NSDAP benutzt, wurde durch örtliche Behinderungen die Wahl in den größeren Betrieben hinausgezögert, bis das Gesetz über die Betriebsvertretungen vom 4. April die Handhabe bot, alle Betriebsrätewahlen bis auf das Ende des Jahres zu verschieben und staatsfeindliche „Arbeitnehmer“ aus den noch bestehenden Betriebsräten zu entfernen, so daß Nazis eingeschoben werden konnten.
Dieses Gesetz bildete bereits eine Station in dem längst bestehenden Plan, sich durch eine schlagartige Aktion auf Reichsebene der Gewerkschaften zu bemächtigen. Und im Rahmen dieses Aktionsprogrammes wurde das raffinierteste Täuschungsmanöver eingefädelt: die Erhebung des 1. Mai zum „Feiertag der nationalen Arbeit“ durch das Gesetz vom 10. April 1933.
Ein selbst in der [faschistischen] Partei streng [geheim] gehaltenes „Aktionskomitee“ zum „Schutze der Arbeit“ unter nomineller Führung Leys arbeitete bis zum 13. April die Einzelheiten des Übernahmeprogramms aus, während Goebbels sich als Spezialist für Inszenierung von Massenveranstaltungen der Vorbereitung des Maifeiertages widmete.
Goebbels schrieb in seinem Tagebuch: „Den ersten Mai werden wir zu einer grandiosen Demonstration deutschen Volkswillens gestalten. Am 2. Mai werden dann die Gewerkschaftshäuser besetzt. Gleichschaltungen auch auf diesem Gebiet. Es wird vielleicht ein paar Tage Krach geben, aber dann gehören sie uns. Man darf hier keine Rücksicht mehr nehmen.“
Anbiederung des ADGB
Der Vorsitzende des ADGB, Leiphart, sandte einen „offenen“ Brief an Hitler, worin er erklärte, daß die sozialen Aufgaben der Gewerkschaften gelöst werden müssten, „ungeachtet des Charakters der Staatsführung […] mit der Forderung nach und der Anerkennung von Öffentlicher Schlichtung haben die Gewerkschaften gezeigt, daß sie das Recht des Staates, in die Auseinandersetzungen zwischen der organisierten Arbeiterschaft und den Unternehmern einzugreifen, anerkennen. Die Gewerkschaften fordern keine Einmischung in die Staatspolitik.“
Auf einer Versammlung der gewerkschaftlichen Vertrauensleute des Orts-Kartells Groß-Hamburg erklärte der Vorsitzende des Kartells, John Ehrenteit: „Wir sind gewillt und imstande, dem Führer des neuen Staates zu helfen, die Wünsche und Erwartungen der Arbeiter auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet zu erfüllen … Selbst in diesem Augenblick dürfen die Gewerkschaftsorganisationen ihre wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben nicht versäumen. Die augenblickliche Reichsregierung hat sich dasselbe Ziel gesetzt wie wir. Diese Tatsache macht es den Gewerkschaften möglich, ohne Schwierigkeiten ihren Platz innerhalb des Regierungsprogramms zu finden.“
Durch diese unwürdige Kapitulation erreichten die Gewerkschaftsführer nur, daß sie den Nazis gegenüber ihre Ohnmacht demonstrierten, und daß Hitler sie später nach der Übernahme der Gewerkschaften durch Robert Ley & Kumpane ob dieser Anbiederungsversuche öffentlich verhöhnte.
Die Umwandlung des traditionellen internationalen Kampftages der sozialistischen Arbeiterbewegung in einen nationalen Rummel war eine großangelegte Provokation. Es wäre zu erwarten gewesen, daß sich die Gewerkschaftsführung gegen diese Vergewaltigung des 1. Mai zur Wehr setzen würde. Jedoch im offiziellen Organ des ADGB erschien zum 1. Mai ein Artikel von Walter Pohl, in dem es heißt: „Wir brauchen gewiss nicht unsere Flagge zu streichen, um den Sieg des Nationalsozialismus anzuerkennen. Obgleich er gewonnen wurde im Kampf gegen eine Partei, die wir ebenfalls als Träger der sozialistischen Idee anzusehen gewohnt waren, ist es unser Sieg, denn heute steht die Aufgabe des Sozialismus vor der ganzen Nation.“
In einem Aufruf des ADGB im Stile der nationalsozialistischen Phraseologie heißt es: „Wir begrüßen mit Freuden, daß die Reichsregierung diesen unseren Tag zum Festtag der nationalen Arbeit, einen deutschen Volksfeiertag, erklärt hat. An diesem Tage soll, wie es in den offiziellen Verlautbarungen heißt, der deutsche Arbeiter im Mittelpunkt des Festes stehen. Der deutsche Arbeiter soll am 1. Mai standesbewußt demonstrieren, dass er ein gleichberechtigtes Mitglied der Volksgemeinschaft ist.“
Nach dieser Unterwerfung konnte nicht mehr erwartet werden, daß die Massen der Arbeiterorganisationen, die noch am 5. März durch ihre Stimmenabgaben für die Arbeiterparteien (Sozialdemokraten 7 Millionen 176 Tausend − Kommunisten 4 Millionen 845 Tausend) trotz faschistischen Wahlterrors ihre Treue zur sozialistischen Arbeiterbewegung bewiesen, sich den Provokationen spontan widersetzten.
Besetzung der Gewerkschaftshäuser
Am 2. Mai wurden in ganz Deutschland die Gewerkschaftshäuser durch SS, SA und Polizei besetzt. Die prominenten Gewerkschaftsführer wurden trotz ihrer Anbiederungsversuche verhaftet. Durch ihre widerlichen Kapitulationsangebote wollten sie „ihre Organisation retten“. Viele retteten nicht einmal ihren Kopf.
Trotz allem war die Masse der freigewerkschaftlich geschulten Arbeiter nicht zu blenden. Sie opponierten durch Passivität. Kaum 30 % der Berliner Betriebe beteiligten sich an der zentralen Kundgebung auf dem Tempelhofer Feld.
Mit der Präzision eines Uhrwerks lief die nationalsozialistische Aktion am 2. Mai ab. Schlagartig besetzten um 10 Uhr vormittags SS- und SA-Kommandos als „Hilfspolizei“ im ganzen Reichsgebiet die Häuser der freien Gewerkschaften, die „Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten“ in Berlin samt ihren Filialen im Reich (jetzt Bank für Gemeinwirtschaft), alle örtlichen Zahlstellen und die Redaktionsbüros der freigewerkschaftlichen Presse.
Neben Leiphart, Graßmann und Wissell wurden die Vorsitzenden aller einzelnen Verbände, die Direktoren der Arbeiterbank, die Geschäftsführer und die leitenden Funk- tionäre der gesamten Gewerkschaftsbürokratie und die Redakteure der Gewerkschaftspresse in „Schutzhaft“ genommen. Das gesamte freigewerkschaftliche Vermögen wurde beschlagnahmt und die Konten gesperrt. Mit Ausnahme weniger Fälle (4 Ermordungen in Duisburg) konnten die Aktionen innerhalb einer Stunde widerstandslos abgewickelt werden. Noch am selben Tage wurde auf die restlichen Gewerkschaftsverbände (Christen usw.) ein Druck zwecks „freiwilliger Unterstellung“ ausgeübt, und am 5. Mai konnte Ley Hitler melden, daß sich alle wesentlichen Arbeiter- und Angestelltenverbände mit über 8 Millionen Mitgliedern „in gleicher Weise bedingungslos unterstellt hätten.“
Der 2. Mai 1933 war eine Demonstration des Zusammenbruchs der deutschen Arbeiterbewegung, der bis dahin größten und traditionsreichsten organisierten Massenbewegung der Welt. Ihre Ohnmacht machte erst den Sieg des Faschismus möglich. Dieser Sieg beendete eine ganze geschichtliche Periode.
Die spätere Niederlage des Nationalsozialismus eröffnete einen neuen Abschnitt deutscher Geschichte. Es scheint jedoch, daß die große Mehrzahl der neuen Führungsgarnitur bis heute aus dem tragischen Schicksal der deutschen Arbeiterbewegung in den Jahren 1923-1933 nichts gelernt hat.
* Redaktionelle Anmerkung
Die Unterwerfung der deutschen Gewerkschaftsführung unter den Faschismus gipfelte am 1. Mai 1933 im Aufruf des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) zur Beteiligung am „Tag der nationalen Arbeit“.
Die Vergewaltigung des internationalen Kampftags der arbeitenden Klasse durch das Nazi-Regime betrachtete damals die Linke Opposition der KPD (LO) als raffinierten Schachzug der braunen Herrscher. Die erzwungenen Aufmärsche unter den „Fahnen der schamlosesten und blutigsten Unterdrückung“ sollten, so die LO-Zeitung Unser Wort, die „Niederlage in die Köpfe des Proletariats […] hämmern“.
Zudem sei der 1. Mai 1933 nur ein „ausgeklügeltes Vorspiel“ zu den Ereignissen des 2. Mai gewesen. Der Faschismus habe mit der Zerschlagung der freien Gewerkschaften die letzten bedeutenden proletarischen Widerstandsstrukturen kampflos ausschalten können. Dies sei nicht nur der Todesschlag Hitlers gegen die Gewerkschaftsbewegung gewesen, sondern auch zugleich gegen die Sozialdemokratie und die stalinistische KPD, die alle eine Einheitsfront gegen den Faschismus verhindert hätten.
Es ist kein Zufall, dass sich diese Einschätzung auch in dem nachfolgenden Text unseres Genossen Georg Jungclas wieder- findet. Sein Vortrag über die Ereignisse am 1. und 2. Mai 1933 wurde zuerst als Anhang in der von der RKJ (Revolutionär Kommunistische Jugend) herausgegebenen Broschüre Zur Geschichte der Mai-Demonstration (o. O. [Mannheim] und o. J. [1971]) veröffentlicht. Sie enthält das Referat, das Georg Jungclas im April 1970 bei einer Schulung der GIM (Gruppe Internationale Marxisten, deutsche Sektion der IV. Internatio- nale) gehalten hatte.
Wir geben den Text in der ursprünglichen Schreibweise wieder, haben aber offensichtliche Fehler korrigiert.
Wer war Georg Jungclas?
Georg „Schorsch“ Jungclas (22. Februar 1902 - 11. September 1975) engagierte sich schon früh für die Überwindung des Kapitalismus. 1915 schloss er sich der Freidenker-Jugend an, 1916 der Freien Sozialistische Jugend und 1919 der KPD.
Nach seiner Buchhändlerlehre arbeitete er bei der Hamburger Werft Blohm und Voß. 1921 beteiligte er sich an der aufständischen „März-Aktion“ der KPD. Danach gab er bis 1922 als Wanderlehrer der KPD in Thüringen Kurse zur Geschichte der Arbeiterbewegung. In der Folgezeit unterstütze er in Worpswede den Ausbau von Heinrich Vogelers Kinderheim Barkenhoff für die Rote Hilfe. 1923 wurde Georg Mitglied des Militärapparates der KPD und beteiligte sich am Hamburger Aufstand.
Bis 1926 war er unter anderem als Angestellter der kommunistischen Buchhandlung Carl Hoym tätig. Seit 1926 unterstützte er die linke Opposition der KPD. 1928 wurde er Mitglied des neu gegründeten Leninbunds.
1930 beteiligte er sich mit der Minderheit des Leninbundes an der Gründung der Linken Opposition der KPD (LO). Als führendes Mitglied der Hamburger Ortsgruppe half er, den illegalen Seetransport des Bulletins der Opposition in die stalinistische Sowjetunion zu organisieren. Deshalb war er in Kontakt mit Trotzkis Sohn Leo Sedow und korrespondierte mit Trotzki.
1933 musste Georg aus Nazideutschland nach Dänemark fliehen. Dort arbeitete er nicht nur mit dänischen Mitgliedern der Internationalen Linken Opposition zusammen, sondern baute auch eine Exilgruppe der deutschen LO auf und hielt Kontakt mit der Hamburger Ortsgruppe. Ab April 1940 war Georg nach der Besetzung Dänemarks durch die Wehrmacht aktiv im illegalen antifaschistischen Widerstand und engagierte sich als Fluchthelfer für jüdische Menschen.
Im Mai 1944 verhaftete ihn die Gestapo und ließ ihn in die Kerker des Deutschen Reichs abtransportieren. Im April 1945 befreiten ihn US-Truppen in Bayreuth aus der Gefangenschaft und retteten ihn damit vor dem sicheren Todesurteil des „Volksgerichtshofs“ wegen „Hochverrats“.
Ab 1946 war Georg als hauptamtlicher Sekretär der deutschen Sektion der IV. Internationale maßgeblich an deren Wiederaufbau beteiligt. Ab 1953 wurde er wiederholt in die engere Führung der IV. Internationale gewählt. Er arbeitete an verschiedenen Zeitschriften wie Sozialistische Politik oder Freies Algerien mit und unterstützte sehr aktiv den algerischen Befreiungskampf.
Von den Stalinisten wurde er als „Agent“ verleumdet und bekämpft.
1962 heiratete er die Kölner Sozialistin Helene („Leni“) Perz.
Trotz zunehmender Gesundheitsprobleme war Georg Jungclas bis zu seinem Tod im Jahr 1975 führendes Mitglied der deutschen Sektion der IV. Internationale – lange Jahre übrigens gemeinsam mit dem Mannheimer Willy Boepple.
1980 wurde posthum die Dokumentation Georg Jungclas 1902 - 1975 veröffentlicht (Junius Verlag Hamburg).
W. A., 24.04.2023