1923 – das Jahr der Entscheidung

Jakob Mone­ta


Redak­tio­nel­le Vorbemerkung

Der nach­fol­gen­de Auf­satz unse­res Genos­sen Jakob Mone­ta (1914 - 2012) wur­de erst­mals in Inpre­korr, Nr. 362/363 von Dezem­ber 2001 ver­öf­fent­licht. Wir geben sei­nen Text unver­än­dert wie­der, haben aber offen­sicht­li­che Feh­ler kor­ri­giert und die Über­schrif­ten redak­tio­nell bear­bei­tet. H. N., 26. Dezem­ber 2022.


Anfang 1923 zeich­ne­te sich eine rela­ti­ve wirt­schaft­li­che Sta­bi­li­sie­rung ab. Zum ers­ten Mal seit 1918 waren die Sozi­al­de­mo­kra­ten nicht mehr in der Regie­rung. Reichs­kanz­ler Wil­helm Cuno, der im Novem­ber 1922 eine rein bür­ger­li­che Regie­rung gebil­det hat­te – er war Direk­tor einer der größ­ten Schiffs­bau­ge­sell­schaf­ten –, mach­te sich dar­an, eine der grund­le­gen­den Errun­gen­schaf­ten der Novem­ber­re­vo­lu­ti­on von 1918 – den Acht­stun­den­tag – aus­zu­höh­len. Aber ein völ­lig uner­war­te­tes Ereig­nis änder­te mit einem Schlag die gesam­te poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Lage.

Reichsbanknote 100 Billionen Mark, 15. Februar 1924. (Foto: Gemeinfrei.)

Reichs­bank­no­te 100 Bil­lio­nen Mark, 15. Febru­ar 1924. (Foto: Gemeinfrei.)

Nach dem Schei­tern einer inter­na­tio­na­len Kon­fe­renz über die deut­schen Repa­ra­ti­ons­zah­lun­gen ließ der fran­zö­si­sche Minis­ter­prä­si­dent Poin­ca­ré das Ruhr­ge­biet mili­tä­risch beset­zen, und zwar am 11. Janu­ar 1923. Bald danach erschüt­ter­te eine gewal­ti­ge Kri­se Deutsch­land. Die Reichs­mark, die bereits vor der Infla­ti­on ange­fres­sen war – 50.000 Reichs­mark (RM) waren so viel wert wie ein Pfund Ster­ling – fiel in einem ein­zi­gen Monat auf ein Fünf­tel ihres Wertes.

Die Reichs­re­gie­rung for­der­te zum „pas­si­ven Wider­stand“ an der Ruhr auf. Jeg­li­che Zusam­men­ar­beit, jeg­li­cher Kon­takt mit den fran­zö­si­schen Besat­zungs­be­hör­den wur­de ver­bo­ten. Der Streik wur­de zur patrio­ti­schen Pflicht!

Aber der „Wider­stand“ bei einer galop­pie­ren­den Infla­ti­on, die z. B. den Preis für ein Ei von 300 RM am 3. Febru­ar 1923 auf 30.000 RM am 30. August 1923 hin­auf­trieb, wäh­rend die Kapi­ta­lis­ten mit ihren „Sach­wer­ten“ sich eine gol­de­ne Nase ver­dien­ten, muss­te zusammenbrechen.

Da die Arbeit mit wert­lo­sem Papier­geld ent­lohnt wur­de, der Export aber Devi­sen, also wert­be­stän­di­ge aus­län­di­sche Wäh­rung, ein­brach­te, konn­ten Groß­ka­pi­ta­lis­ten rie­si­ge Ver­mö­gen zusam­men­raf­fen. So kauf­te allein Stin­nes 1.300 Unter­neh­men in den ver­schie­dens­ten Wirt­schafts­zwei­gen auf. Jeder, der „Sach­wer­te“ und Waren besaß, konn­te sich berei­chern. Wer nur sei­ne Arbeits­kraft zu ver­kau­fen hat­te oder Rent­ner war, hun­ger­te, sank in bit­te­res Elend ab. Da es kei­ne glei­ten­de Lohn­ska­la gab, um mit der wahn­sin­ni­gen Infla­ti­on Schritt zu hal­ten, ver­lo­ren die Gewerk­schaf­ten ihre Exis­tenz­be­rech­ti­gung. Sie konn­ten nicht ein­mal eine bru­ta­le Sen­kung des Lebens­stan­dards auf­hal­ten. Es kam des­halb zu mas­sen­haf­ten Aus­trit­ten aus den Gewerkschaften.

Infla­ti­on schwächt Gewerkschaften
Die Wut der Arbei­ten­den rich­te­te sich gegen die Gewerk­schaf- ten, die sie nicht schütz­ten und pas­siv blie­ben. Es gab kei­ne „Arbei­ter­aris­to­kra­tie“ mehr; es gab kei­ne bevor­rech­te­ten Beam­ten, Poli­zei und Mili­tär wur­den zer­setzt, jeder Begriff von Ord­nung, Gesetz und Recht wur­de zu einer sinn­lo­sen Leer­for­mel. Als Mona­te spä­ter die Wäh­rung sta­bi­li­siert wur­de, waren 4.000 Mil­li­ar­den RM – vier Bil­lio­nen – so viel wert wie ein ein­zi­ger US-Dollar!

Wie reagier­te nun die KPD auf die­se Lage, in der tat­säch­lich alle, die von Lohn, Gehalt oder Ren­ten bzw. Pen­sio­nen leb­ten, in Mit­lei­den­schaft gezo­gen wur­den? Sie hat­ten alle schließ­lich für das Par­la­ment oder auch die staat­li­che „Ord­nung“ nur noch ein müdes Lächeln übrig.

Nach dem 3. Welt­kon­gress der Kom­mu­nis­ti­schen Inter­na­tio­na­le (KI) von 1921 war die Wen­de zur Poli­tik der Ein­heits­front mit Ach und Krach durch­ge­setzt wor­den. Sie begann auch, die Mas­sen anzu­zie­hen. Die KPD trat in lang­wie­ri­ge Ver­hand­lun­gen mit den Sozi­al­de­mo­kra­ten ein und ging auch sehr päd­ago­gisch in den Gewerk­schaf­ten vor. Die­se Linie hielt die KPD nach 1921 – nach dem 3. Welt­kon­gress – zwei Jah­re lang durch und erziel­te damit auch außer­or­dent­lich gute Ergeb­nis­se. Ihr Ein­fluss in den Gewerk­schaf­ten – ables­bar an der Zahl der von ihr erober­ten Dele­gier­ten­man­da­te – wuchs beträchtlich.

Tapezieren einer Wand mit Ein-Markscheinen, 1923. (Foto: Gemeinfrei.)

Tape­zie­ren einer Wand mit Ein-Mark­schei­nen, 1923. (Foto: Gemeinfrei.)

Gleich­zei­tig wur­de aber die­se neue Linie der Ein­heits­front zu einer Art Rou­ti­ne, von der sozu­sa­gen auto­ma­tisch Ergeb­nis­se erwar­tet wur­den, ohne sie immer wie­der in Bezug zur rea­len Ent­wick­lung zu set­zen. Und genau das soll­te sich im Kri­sen­jahr 1923 ver­hee­rend auswirken.

Die Arbei­ter ver­lie­ßen 1923 nicht nur die Gewerk­schaf­ten in Mas­sen, son­dern wand­ten sich auch von der Sozi­al­de­mo­kra­tie ab. In den Revo­lu­ti­ons­jah­ren 1918/19 hat­te die SPD davor gewarnt, das Cha­os durch einen Sieg der Bol­sche­wi­ken her­auf­zu­be­schwö­ren. Jetzt aber war das furcht­ba­re Cha­os der Infla­ti­on da, und die SPD hat­te es kei­nes­wegs ver­hin­dern können!

Erwar­tun­gen an die KPD
Die KPD schien in die­ser Stun­de die ein­zi­ge Kraft zu sein, die der Arbei­ter­klas­se einen Aus­weg anzu­bie­ten ver­moch­te. Sie konn­te sich damals außer­dem auf das gro­ße Pres­ti­ge stüt­zen, das die sieg­rei­che Okto­ber­re­vo­lu­ti­on in der deut­schen Arbei­ter­klas­se errun­gen hat­te. Die Mas­sen wand­ten sich der KPD zu und erwar­te­ten von ihr, dass sie die Initia­ti­ve ergreife.

Zurecht ver­mied die Arbei­ter­klas­se, sich in frucht­lo­se spon­ta­ne Kämp­fe zu stür­zen, ohne dass die­se mit­ein­an­der koor­di­niert wären, die nach­ein­an­der erfolg­ten und des­halb leicht zer­schla­gen wer­den konn­ten. Sie hat­te aus ihren Erfah­run­gen von 1918/19, aus der März­ak­ti­on, aus der Baye­ri­schen Räte­re­pu­blik ihre Leh­ren gezo­gen. Sie wuss­te, dass ver­streu­te Kämp­fe nicht den gro­ßen Sieg brin­gen konn­ten und oft genug nur mit Blut bezahlt wurden.

Ihrer­seits aber war­te­te die Füh­rung der KP auf ein Zei­chen der Mas­sen, auf einen spon­ta­nen Aus­bruch, weil sie glaub­te, die Arbei­ter­klas­se sei zu erschöpft, um zu han­deln. Als gebrann­te Kin­der der März­ak­ti­on 1921 fürch­te­ten sich die Füh­rer, eine vor­zei­ti­ge Akti­on zu star­ten, und taten nichts, um die Mas­sen zu mobi­li­sie­ren. Gewiss, die kon­fu­se „Lin­ke“ in der Par­tei, Ruth Fischer vor allem, hat­te stets ver­langt, die Par­tei soll­te sich an die Spit­ze der Bewe­gung set­zen, um die Macht zu erobern. Aber, ob die Zeit hier­für reif war oder nicht, sie hat­te das immer gefor­dert. Dar­um hör­te auch dies­mal auf sie kaum jemand.

Auf dem 8. Par­tei­tag der KPD (er fand vom 28. Janu­ar bis zum 1. Febru­ar 1923 in Leip­zig statt) wur­de über die „Arbei­ter-Ein­heits­front“ und die „Arbei­ter­re­gie­rung“ dis­ku­tiert. Die Füh­rung der Par­tei mit Hein­rich Brand­ler und August Thal­hei­mer an der Spit­ze setz­te sich für eine Ein­heits­front mit den Sozi­al­de­mo­kra­ten auch „von oben“ ein. Sie schlug vor, in Sach­sen und Thü­rin­gen, wo die Sozi­al­de­mo­kra­ten zusam­men mit den Kom­mu­nis­ten eine Mehr­heit im Land­tag hat­ten und wo es eine star­ke Lin­ke in der SPD gab, eine „Arbei­ter­re­gie­rung“ zu bilden.

Die Leit­sät­ze „zur Tak­tik der Ein­heits­front und der Arbei­ter­re­gie­rung“, die mit 118 gegen 59 Dele­gier­ten­stim­men ange­nom­men wur­den, waren im Wesent­li­chen durch­aus rich­tig und bedeu­te­ten einen Schritt nach vorn.

Die „Lin­ke“ mit Ruth Fischer, Arka­dij Maslow und Ernst Thäl­mann woll­te nur eine „Ein­heits­front von unten“, nur an der Basis, befür­wor­ten. Eine Arbei­ter­re­gie­rung, mein­te sie, dür­fe nur unter Füh­rung der KP gebil­det werden!

Ruhr­be­set­zung kein Thema
Aber das bren­nends­te Pro­blem, das aku­te Pro­blem der Ruhr­be­set­zung und die Fol­gen, die sich hier­aus erga­ben – damit beschäf­tig­te sich der 8. Par­tei­tag nicht. Und zwar weder die „Rech­te“ noch die „Lin­ke“. Da die „Lin­ke“ aber nicht wie­der ins Zen­tral­ko­mi­tee (ZK) gewählt wur­de, brach erneut der inter­ne Streit hef­tig aus und führ­te an den Rand einer Spaltung.

Französische Besatzungssoldaten im Ruhrgebiet, 1923. (Foto: Gemeinfrei.)

Fran­zö­si­sche Besat­zungs­sol­da­ten im Ruhr­ge­biet, 1923. (Foto: Gemeinfrei.)

Die „Lin­ke“ setz­te nun ihre eige­ne Poli­tik an der Ruhr fort, wo sie Zusam­men­stö­ße her­vor­rief. Es gab Tote. Die KP ergriff am 13. April 1923 „die Macht“ – in Mül­heim! Arbei­ter­rä­te und Mili­zen wur­den gebil­det. Eine Zeit lang waren Bochum und Gel­sen­kir­chen im Auf­stand. Die Par­tei­füh­rung ver­ur­teil­te die­se Aktio­nen der „Lin­ken“ als Putsch, obwohl die „Lin­ke“ sie gar nicht aus­ge­löst hat­te. Die­se loka­len „Unru­hen“ waren in Wirk­lich­keit eher ein Zei­chen für den in der Arbei­ter­klas­se wach­sen­den oder wie­der­be­leb­ten Kampf­geist. Sie blie­ben jedoch ohne all­ge­mei­nes Ziel!

Im Mai 1923 setz­te das Exe­ku­tiv-Komi­tee der Drit­ten Inter­na­tio­na­le noch­mals durch, dass die „Lin­ke“ einem Kom­pro­miss zustimmte.

Die Linie der „Ein­heits­front“ wur­de noch­mals bestä­tigt, und revo­lu­tio­nä­re Initia­ti­ven wur­den ver­ur­teilt, solan­ge bis es auch im übri­gen Deutsch­land und in Frank­reich eine revo­lu­tio­nä­re Bewe­gung geben wer­de. In Frank­reich und im Ruhr­ge­biet leis­te­te damals die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei Frank­reichs (KPF) unter (dem spä­ter zu den Faschis­ten über­ge­gan­ge­nen) Jugend­füh­rer Dori­ot eine her­vor­ra­gen­de revo­lu­tio­nä­re Arbeit unter den Sol­da­ten, die sich viel­fach mit den deut­schen Arbei­tern solidarisierten.

Die Ver­tre­ter der Inter­na­tio­na­le tra­ten im Mai 1923 für ein Bünd­nis der KP mit dem lin­ken Flü­gel der SPD in Sach­sen ein, aber gegen die Betei­li­gung der Kom­mu­nis­ten an der Lan­des­re­gie­rung. Für ganz Deutsch­land wur­de die Losung einer „Arbei­ter­re­gie­rung“ aus­ge­ge­ben. Das ZK der KP soll­te durch Füh­rer der „Lin­ken“ erwei­tert wer­den, die sich aber ver­pflich­ten muss­ten, den „Bür­ger­krieg“ inner­halb der Par­tei einzustellen.

Es kann kei­nen Zwei­fel geben, dass hier die Kom­mu­nis­ti­sche Inter­na­tio­na­le mit sehr viel Takt und einem star­ken Sinn für ihre Ver­ant­wor­tung gehan­delt hatte.

Neue Lin­ke“ in der SPD
Inzwi­schen ver­schärf­te sich die Kri­se in Deutsch­land. Die deut­sche Bour­geoi­sie war dies­mal in einer sehr viel kri­ti­sche­ren Lage als 1918/19, weil ihre sta­bils­te Stüt­ze, der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Appa­rat, zusam­men­brach. Die Füh­rung der SPD war eben­so reak­tio­när und zynisch wie zur Zeit von Noske, aber zum ers­ten Mal ent­stand inner­halb der SPD ein lin­ker Flü­gel, der nichts mehr mit den alten „Unab­hän­gi­gen“, den USEPETERN, zu tun hatte.

Die­ser lin­ke Flü­gel, der in Oppo­si­ti­on zur Par­tei­füh­rung stand, erkann­te die Not­wen­dig­keit einer Ein­heits­front der Arbei­ter­klas­se an. In Sach­sen war die­ser Flü­gel unter der Füh­rung von Zeig­ner sehr stark. Im März 1923 lös­te die SPD im säch­si­schen Land­tag ihre Koali­ti­on mit den bür­ger­li­chen Par­tei­en auf, und die neue Regie­rung Zeig­ner stütz­te sich auf die Stim­men der kom­mu­nis­ti­schen Landtagsfraktion.

Das Kräf­te­ver­hält­nis inner­halb der Arbei­ter­klas­se änder­te sich in ganz Deutsch­land rasch zuguns­ten der KP. Von den Ber­li­ner Metal­lern erhiel­ten die Ver­tre­ter der KP im Deut­schen Metall­ar­bei­ter­ver­band, dem Vor­läu­fer der IG Metall, 54.000 Stim­men, die SPD nur 22.000. Es gab eine Rei­he von Mas­sen­or­ga­ni­sa­tio­nen, die unter kom­mu­nis­ti­scher Kon­trol­le stan­den: Preis­über­wa­chungs­aus­schüs­se, Betriebs­rä­te, es ent­stand eine neue Schicht von revo­lu­tio­nä­ren Obleu­ten, von Arbeitermilizen.

Sta­lin: Nicht anspornen!
Die KP-Füh­rung beschloss, am 11. Juni 1923 in Ber­lin eine Mas­sen­de­mons­tra­ti­on durch­zu­füh­ren und für den 29. Juli einen „anti­fa­schis­ti­schen Tag“. Die preu­ßi­sche Regie­rung ver­bot die Demons­tra­ti­on. Dar­auf­hin unter­warf sich die KP-Füh­rung dem Ver­bot. Die „Lin­ke“ in der KP betrach­te­te dies als Kapitulation.

Wie­der muss­te die KI inter­ve­nie­ren, und dies­mal nahm der neue Gene­ral­se­kre­tär der Par­tei, Sta­lin, zum ers­ten Mal Stel­lung in einer Fra­ge, die Deutsch­land betraf. Er führ­te alle außer­ge­wöhn­li­chen Umstän­de auf, die den Sieg der Bol­sche­wis­ten in Russ­land wäh­rend der Revo­lu­ti­on des Jah­res 1917 begüns­tigt hat­ten, und er schloss mit den Wor­ten: „Die deut­schen Kom­mu­nis­ten haben im gegen­wär­ti­gen Augen­blick nichts des­glei­chen. Gewiss, sie haben in ihrer Nach­bar­schaft die Sowjet- uni­on, was wir nicht hat­ten, aber was kön­nen wir ihnen im gegen­wär­ti­gen Augen­blick bie­ten? Wenn die Macht heu­te in Deutsch­land sozu­sa­gen fal­len wür­de und die deut­schen Kom­mu­nis­ten sie auf­näh­men, wür­den sie mit Krach durchfallen.“

KPD-Flugblatt, Herbst 1923. (Foto: Privatarchiv.)

KPD-Flug­blatt, Herbst 1923. (Foto: Privatarchiv.)

Er riet dem Polit­bü­ro ein­dring­lich, alles zu unter­las­sen, was irgend­wie die kom­mu­nis­ti­sche Akti­vi­tät in Deutsch­land ermun­tern könn­te, weil sie der Bour­geoi­sie und den Sozi­al­de­mo­kra­ten in Deutsch­land („heu­te ste­hen alle Chan­cen auf ihrer Sei­te“) den Vor­wand zu einem ent­schei­den­den Schlag gegen den Kom­mu­nis­mus hät­te lie­fern kön­nen. „Ich bin der Mei­nung, dass wir die deut­schen Kom­mu­nis­ten nicht nur nicht anspor­nen dür­fen, son­dern sie viel­mehr zurück­hal­ten müs­sen.“ Sta­lin über­sah aller­dings, dass im Gegen­satz zu Russ­land im Jah­re 1917 die deut­sche Indus­trie­ar­bei­ter­schaft eine viel grö­ße­re – ja die ent­schei­den­de – Rol­le im revo­lu­tio­nä­ren Pro­zess spie­len konnte.

Obwohl nun die Demons­tra­ti­on in Ber­lin per Tele­gramm abge­sagt wur­de, kamen in Ver­samm­lun­gen 250.000 Men­schen zusam­men, und die Pas­si­vi­tät der KP-Füh­rung wur­de scharf kri­ti­siert. Dies­mal sporn­ten die Mas­sen die Füh­rung an!

Die revo­lu­tio­nä­re Tem­pe­ra­tur stieg fie­ber­haft an. Betrie­be wur­den besetzt. Über 100.000 Metall- und Berg­ar­bei­ter tra­ten in Ober­schle­si­en in den Streik. Zum ers­ten Mal in der deut­schen Geschich­te streik­ten mehr als 120.000 Land­ar­bei­ter in Ost­preu­ßen. Die Arbei­ter der Staats­dru­cke­rei tra­ten in den Aus­stand. Da es des­halb kei­ne Bank­no­ten mehr gab, wur­de der gesam­te Zah­lungs­ver­kehr gelähmt. In Ber­lin rief ein in den Be- trie­ben ent­stan­de­ner „Aus­schuss der 15“ zum Gene­ral­streik auf, der fast geschlos­sen befolgt wurde.

Die­ser Fünf­zeh­ner-Aus­schuss der revo­lu­tio­nä­ren Ber­li­ner Betriebs­rä­te war ein Jahr zuvor, am 27. August 1922, gebil­det wor­den. Er hat­te gegen den Wil­len der Gewerk­schafts­füh­rung eine Ber­li­ner Betriebs­rä­te­voll­ver­samm­lung am 30. August 1922 durch­ge­führt, ließ sich aber nie­mals zu gewerk­schafts­feind­li­chen Äuße­run­gen pro­vo­zie­ren. 6.000 Mit­glie­der von Betriebs­rä­ten waren zu die­ser Voll­ver­samm­lung erschienen!

Für den 10. August 1923 lud die Ber­li­ner Gewerk­schafts­füh­rung alle Par­tei­en ein: Sozi­al­de­mo­kra­ten, Unab­hän­gi­ge, Kom­mu­nis­ten, um her­aus­zu­fin­den, ob die Gewerk­schaf­ten die sich spon­tan aus­brei­ten­den Streiks unter­stüt­zen soll­ten. Hät­ten die Gewerk­schaf­ten die­se Streik­be­we­gung offi­zi­ell unter­stützt, wäre der Sturz der bür­ger­li­chen Regie­rung und die Bil­dung einer Arbei­ter­re­gie­rung (die Karl Legi­en schon nach dem Kapp-Putsch vor­ge­schla­gen hat­te) so gut wie sicher gewesen.

SPD: Streiks als „Anar­chie“
Vie­le Gewerk­schafts­füh­rer waren für die offi­zi­el­le Aus­ru­fung des Streiks, aber der Sozi­al­de­mo­krat Otto Wels sah das „Haupt der Anar­chie“ hin­ter die­ser Streik­be­we­gung sich erhe­ben. Die Cuno-Regie­rung wit­ter­te sofort die Gefahr und mach­te der Arbei­ter­klas­se eini­ge Ver­spre­chun­gen. Jeden­falls wur­de der Vor­schlag der KP, den Streik gewerk­schaft­lich offi­zi­ell zu machen, ver­wor­fen. Trotz­dem ging die Streik­be­we­gung wei­ter und brei­te­te sich sogar im Lan­de aus. Aber am 12. August bil­de­te Stre­se­mann zusam­men mit den Sozi­al­de­mo­kra­ten eine neue Regie­rung, der Streik starb lang­sam ab, die Sozi­al­de­mo­kra­tie hat­te wie­der ein­mal die Bour­geoi­sie gerettet.

Am 23. August 1923 bemerk­te das Polit­bü­ro der KP end­lich, dass es in Deutsch­land eine außer­or­dent­li­che revo­lu­tio­nä­re Chan­ce gab (die aber zu die­sem Zeit­punkt – nach dem Ein­tritt der SPD in die Reichs­re­gie­rung – wahr­schein­lich schon vor­bei war!). Hein­rich Brand­ler, der nach Mos­kau gefah­ren war, um erneut Maß­nah­men gegen die eige­ne Par­tei­lin­ke zu for­dern, war dort völ­lig über­rascht wor­den von einer lei­den­schaft­li­chen Dis­kus­si­on über die Not­wen­dig­keit eines „deut­schen Oktober“.

Brand­ler wur­de nahe­ge­legt, sich auf einen revo­lu­tio­nä­ren Auf­stand vor­zu­be­rei­ten, obwohl gera­de er die „Lin­ke“ – die das aller­dings in einer äußert kon­fu­sen und unerns­ten Wei­se gefor­dert hat­te – stets bekämpft hatte.

Brand­ler wei­ger­te sich jedoch strikt, einen Ter­min für den Auf­stand fest­zu­le­gen. Er erhielt die Zusa­ge, dass ihm eine Rei­he erfah­re­ner sowje­ti­scher Mili­tärs zur Ver­fü­gung gestellt wür­den, was auch geschah. Die neue deut­sche Stre­se­mann-Regie­rung mit der SPD als Koali­ti­ons­part­ner ver­such­te inzwi­schen, die wirt­schaft­li­che Lage in den Griff zu bekom­men. Sie stimm­te einer glei­ten­den Lohn­ska­la zu, was die gewal­ti­gen Pro­fit­span­nen ver­rin­ger­te, aber die Infla­ti­on ging vor­läu­fig weiter …

Jetzt aber berei­te­te sich die KP ernst­haft auf den Auf­stand vor. Nur geschah dies in einem bereits rela­tiv beru­hig­ten sozia­len Kli­ma und ohne, dass die Par­tei die Mas­sen in Bewe­gung setz­te. Sie fürch­te­te sich näm­lich davor, der Armee einen Vor­wand zum Ein­grei­fen zu liefern.

Dies­mal ver­hiel­ten sich übri­gens sowohl die „Rech­ten“ wie auch die „Lin­ken“ in der Par­tei glei­cher­ma­ßen vorsichtig.

KPD tritt in SPD-Regie­rung ein
Anfang Okto­ber 1923 for­der­te der säch­si­sche sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Minis­ter­prä­si­dent Zeig­ner die Kom­mu­nis­ten dazu auf, in sei­ne Regie­rung ein­zu­tre­ten. Hein­rich Brand­ler, der sich damals in Mos­kau auf­hielt, war dies­mal gegen eine Regie­rungs­be­tei­li­gung, weil dies (im Augen­blick, in dem ein Auf­stand vor­be­rei­tet wur­de) die Mas­sen ver­wir­ren wür­de. Aber Sino­wjew ver­lang­te von ihm im Namen des Exe­ku­tiv­ko­mi­tees der KI, in die Regie­rung ein­zu­tre­ten, weil der ent­schei­den­de Augen­blick in vier oder sechs Wochen ein­tre­ten wer­de und man des­halb alle wich­ti­gen Pos­ten beset­zen müs­se, wenn Zeig­ner sich bereit zei­gen soll­te zu kämpfen.

Man sol­le auch sofort 50.000 bis 60.000 Men­schen bewaff­nen und den Chef der Reichs­wehr in Sach­sen, Gene­ral Mül­ler, ins Lee­re lau­fen lassen

Am 10. Okto­ber 1923 tra­ten die Kom­mu­nis­ten in die Län­der­re­gie­run­gen von Sach­sen und Thü­rin­gen ein, aber weder war damit eine Mobi­li­sie­rung der Arbei­ter­klas­se ver­bun­den noch auch ihre Bewaff­nung. Genau die­ser Ein­tritt der KPD in die Län­der­re­gie­run­gen dien­te aber jetzt der deut­schen Bour­geoi­sie, ein­schließ­lich der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Minis­ter in der Ber­li­ner Reichs­re­gie­rung, als Vor­wand für bewaff­ne­tes Ein­grei­fen gegen einen völ­lig lega­len Regie­rungs­ein­tritt der im Land­tag ver­tre­te­nen KP von Sach­sen und Thüringen.

Ebert setzt SPD-Regie­rung ab
Am 14. Okto­ber 1923 beauf­trag­te der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Reichs­prä­si­dent Fried­rich Ebert Gene­ral Mül­ler, die Ord­nung in Sach­sen wie­der her­zu­stel­len und die Regie­rung von Sozi­al­de­mo­kra­ten und Kom­mu­nis­ten abzu­set­zen! Auch vie­le Sozi­al­de­mo­kra­ten emp­fan­den dies als uner­hör­te Herausforderung.

Am 21. Okto­ber 1923 for­der­te eine Kon­fe­renz der Gewerk­schaft der Hafen­ar­bei­ter in Ham­burg die Aus­ru­fung eines Gene­ral­streiks, um die Inter­ven­ti­on der Reichs­wehr gegen die säch­si­sche Regie­rung zu ver­hin­dern. Kom­mu­nis­ten waren dage­gen. Sie woll­ten kei­nen vor­zei­ti­gen Kampf aus­lö­sen und war­te­ten auf das Signal zum Aufstand.

Am sel­ben 21. Okto­ber 1923 tag­te in Chem­nitz die „Kon­fe­renz der säch­si­schen Arbei­ter­or­ga­ni­sa­tio­nen“. Ihre Tages­ord­nung war auf einer frü­he­ren Sit­zung, die vor den kata- stro­pha­len Fol­gen des Ein­marschs fran­zö­si­scher und bel­gi­scher Trup­pen ins Ruhr­ge­biet statt­ge­fun­den hat­te, beschlos­sen wor­den. Es soll­ten aus­schließ­lich sozia­le Fra­gen behan­delt wer­den: Löh­ne, Prei­se, Unter­stüt­zung der Arbeits­lo­sen usw.

Reichswehreinsatz gegen „Kommunisten“ in Sachsen, Herbst 1923. (Foto: Gemeinfrei.)

Reichs­wehr­ein­satz gegen „Kom­mu­nis­ten“ in Sach­sen, Herbst 1923. (Foto: Gemeinfrei.)

Wegen des Ein­marschs der Reichs­wehr in Sach­sen und Thü­rin­gen hat­te die „per­ma­nen­te Kom­mis­si­on der Kon­fe­renz“ auf Antrag ihrer kom­mu­nis­ti­schen Mit­glie­der die Ein­be­ru­fung auf Sonn­tag, den 21. Okto­ber vorverlegt.

Anwe­send auf die­ser Kon­fe­renz waren in Chem­nitz 140 Betriebs­rä­te, 120 Dele­gier­te der Gewerk­schaf­ten, 79 Ver­tre­ter von Kon­troll­aus­schüs­sen (etwa ver­gleich­bar gesetz­lich nicht ver­an­ker­ten Mit­be­stim­mungs­gre­mi­en), 26 höhe­re Ange­stell­te von Kon­sum­ver­ei­nen, 15 Funk­tio­nä­re anti­fa­schis­ti­scher Akti­ons­aus­schüs­se und 26 lei­ten­de Ange­stell­te der Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie. Kei­nes­wegs war die­se Kon­fe­renz reprä­sen­ta­tiv für die gesam­te Arbeiterschaft.

Bei Beginn der Tagung bean­trag­te nun eine Dele­ga­ti­on des ZK der KPD, die Fra­ge des Ein­marschs der Reichs­wehr vor­ran­gig zu behan­deln und als Gegen­maß­nah­me den Gene­ral­streik in ganz Deutsch­land zu proklamieren.

Dar­auf­hin erklär­te der lin­ke Sozi­al­de­mo­krat Grau­pe, Minis­ter in der Koali­ti­ons­re­gie­rung SPD/KPD von Sach­sen, er wer­de an der Spit­ze der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Dele­gier­ten sofort den Sit­zung­s­aal ver­las­sen, wenn von der fest­ge­leg­ten Tages­ord­nung – den sozia­len Fra­gen also – abge­wi­chen wür­de und man die Fra­ge des Gene­ral­streiks gegen den Reichs­wehr­ein­marsch behan­deln werde.

Brand­lers Scheu vor dem Auf­stand
Ohne die lin­ke SPD woll­te das ZK der KPD unter Füh­rung von Hein­rich Brand­ler die Ver­ant­wor­tung für die Aus­ru­fung eines Gene­ral­streiks nicht über­neh­men. Dazu kam aber auch, dass die Losung „Gene­ral­streik“ für die seit August durch die KP mit Hil­fe der Sowjet­uni­on geschaf­fe­ne Mili­tär­po­li­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on (MPO) das Stich­wort für die Aus­lö­sung des bewaff­ne­ten Auf­stan­des war. Auch die „lin­ke“ Oppo­si­ti­on der KPD unter Ruth Fischer stimm­te dies­mal Brand­ler bei.

Nach einer län­ge­ren Debat­te wur­de schließ­lich von der KPD-Füh­rung fol­gen­des beschlossen:

In irgend­ei­ner Stadt wird ein „spon­ta­ner“ Auf­stand ange­kur­belt. Löst die­ser Auf­stand ech­te spon­ta­ne Mas­sen­be­we­gun­gen in den gro­ßen Indus­trie­be­trie­ben aus, kommt es zu bewaff- neten Auf­stän­den in ver­schie­de­nen Tei­len des Rei­ches, dann wäre dies ein siche­res Anzei­chen für das Vor­han­den­sein einer aku­ten revo­lu­tio­nä­ren Situa­ti­on. Dann könn­te das ZK der KPD, ohne sich von den Mas­sen zu iso­lie­ren, den Gene­ral­streik in ganz Deutsch­land pro­kla­mie­ren und damit den bewaff­ne­ten Auf­stand mit dem Ziel der Macht­er­grei­fung entfesseln,

Soll­te aber die loka­le bewaff­ne­te Akti­on nicht zün­den und das Fass der auf­ge­spei­cher­ten Volks­em­pö­rung nicht zur Explo­si­on brin­gen, dann wür­de damit der Beweis gelie­fert, dass die sub­jek­ti­ven Vor­aus­set­zun­gen für die Ent­schei­dungs­schlacht eben noch nicht gege­ben wären. Der loka­le Auf­stand wür­de dann eben als spon­ta­ne Akti­on erklärt, für die das ZK der KPD kei­ne Ver­ant­wor­tung habe, und es hät­te die Fol­gen hier­für nicht zu tragen.

Auf der Kon­fe­renz der säch­si­schen Arbei­ter­or­ga­ni­sa­tio­nen war Brand­lers Vor­schlag, den Gene­ral­streik aus­zu­ru­fen und bewaff­ne­ten Wider­stand gegen den Ein­marsch der von Ber­lin ent­sand­ten Mili­tärs zu leis­ten, auf eisi­ge Stil­le gesto­ßen. Nach der Dro­hung des sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Minis­ters Grau­pe, mit sei­nen Genos­sen die Kon­fe­renz zu ver­las­sen, wenn die­ses The­ma auch nur dis­ku­tiert wür­de, wur­de die Reso­lu­ti­on von Brand­ler still beerdigt.

Brand­ler, der nicht selbst die Ver­ant­wor­tung für den Auf­stand tra­gen woll­te, der den Auf­stand von Dele­gier­ten ent­schei­den las­sen woll­te, die zum ers­ten Mal mit die­sem Pro­blem kon­fron­tiert wor­den sind und deren sozia­le Zusam­men­set­zung kei­nes­wegs reprä­sen­ta­tiv war für die Arbei­ter­klas­se ins­ge­samt, muss­te vor allem dar­um schei­tern, weil ohne eine vor­aus­ge­gan­ge­ne Mobi­li­sie­rung der Mas­sen nie­mand das Gefühl hat­te, dass es dies­mal ernst war und es tat­säch­lich Chan­cen gab zu siegen!

Der „Ham­bur­ger Aufstand“
Nur durch ein Miss­ver­ständ­nis wur­de in Ham­burg dann doch noch der berühmt-berüch­tig­te „Auf­stand“ aus­ge­löst: Die Ham­bur­ger Kom­mu­nis­ten haben sich hero­isch geschla­gen, aber wäh­rend sie eine Poli­zei­sta­ti­on nach der ande­ren besetz­ten, nach­dem Hans Kip­pen­ber­ger, der her­vor­ra­gen­de mili­tä­ri­sche Orga­ni­sa­tor und poli­ti­sche Lei­ter des Auf­stan­des, mit­ten in der Nacht geweckt wor­den war, um sich in die­ses Aben­teu­er zu stür­zen, gin­gen die Arbei­ter, die von all dem nichts wuss­ten, ruhig zur Arbeit.

Hans Kip­pen­ber­ger, der spä­ter wäh­rend der Stalin‘schen Säu­be­run­gen „liqui­diert“ wur­de (er ist inzwi­schen reha­bi­li­tiert), hat einen genau­en Bericht über den Ham­bur­ger Auf­stand ver­fasst. Er ist in Der bewaff­ne­te Auf­stand, einer von A. Neu­berg (Pseud­onym) 1928 her­aus­ge­ge­be­nen und 1971 neu auf­ge­leg­ten Text­samm­lung, ver­öf­fent­licht worden.

In der Dis­kus­si­on, die hin­ter­her in der KI über den ver­fehl­ten deut­schen Okto­ber geführt wur­de, erklär­te Leo Trotz­ki: Wenn die KP eine schar­fe Wen­dung voll­zo­gen hät­te, wenn sie die fünf oder sechs Mona­te, die ihr die Geschich­te ein­räum­te, dazu ver­wen­det hät­te, direkt, poli­tisch, orga­ni­sa­to­risch, tech­nisch die Macht­er­grei­fung vor­zu­be­rei­ten, hät­te der Aus­gang des Kamp­fes ganz anders sein können.

Erst im Okto­ber aber hat die Par­tei sich umori­en­tiert. Es blieb ihr zu wenig Zeit, um ihren Elan zu ent­wi­ckeln. Ihre Vor­be­rei­tun­gen gewan­nen einen fie­ber­haf­ten Cha­rak­ter, die Mas­sen konn­ten nicht fol­gen. Der Man­gel an Selbst­si­cher­heit über­trug sich auch auf das Pro­le­ta­ri­at, das im ent­schei­den­den Augen­blick sich wei­ger­te zu kämp­fen. Die Par­tei hat es ver­säumt, zu Beginn der neu­en Pha­se (Mai - Juni 1923) sich vom Auto­ma­tis­mus ihrer vor­he­ri­gen Poli­tik zu befrei­en, in der sie sich für alle Ewig­keit ein­ge­rich­tet zu haben schien. Sie hat es ver­säumt, in ihrer Agi­ta­ti­on klar die Orga­ni­sa­ti­on, die Tech­nik, das Pro­blem der Macht­er­grei­fung zu stellen.

Reichswehreinsatz gegen „Kommunisten“ in Sachsen, 1. Oktober 1923. (Foto: Gemeinfrei.)

Reichs­wehr­ein­satz gegen „Kom­mu­nis­ten“ in Sach­sen, 1. Okto­ber 1923. (Foto: Gemeinfrei.)

Ver­spä­te­ter Kurs auf den Auf­stand
Erich Wol­len­berg, der wäh­rend der Mün­che­ner Räte­re­pu­blik Kom­man­deur der Infan­te­rie der Armee­grup­pe Dach­au war und unter dem Namen „Wal­ter“ eine im Mai 1923 im Zusam­men­hang mit einem Gene­ral­streik im Ruhr­ge­biet spon­tan aus­ge­bro­che­ne bewaff­ne­te Erhe­bung in Bochum lei­te­te, schreibt in Der bewaff­ne­te Auf­stand (S. 34): „Eine der Ursa­chen der Nie­der­la­gen der deut­schen Revo­lu­ti­on 1923 lag dar­in, dass die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei Deutsch­lands viel zu spät den Kurs nahm auf die unmit­tel­ba­re Vor­be­rei­tung des bewaff­ne­ten Auf­stan­des. Das Nahen einer unmit­tel­bar revo­lu­tio­nä­ren Situa­ti­on in Deutsch­land hät­te, wäre eine bol­sche­wis­ti­sche Füh­rung unse­rer Par­tei vor­han­den gewe­sen, die­se zwei­fels­oh­ne schon im Augen­blick der Beset­zung des Ruhr­ge­bie­tes und des Rhein­lands durch die fran­zö­si­schen Trup­pen, oder unmit­tel­bar nach ihr, vor­aus­se­hen können.

Eben von die­sem Moment ab setz­te die ein­schnei­den­de wirt­schaft­li­che und die durch sie her­vor­ge­ru­fe­ne poli­ti­sche Kri­se in Deutsch­land ein. Eben damals bereits wur­de in meh­re­ren Bezir­ken Deutsch­lands (Sach­sen, Hal­le, Mer­se­burg u. a.) auf Initia­ti­ve der Arbei­ter selbst mit der Orga­ni­sie­rung der pro­le­ta­ri­schen Kampf­hun­dert­schaf­ten begon­nen. Dem­ge­gen­über nahm das ZK der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei den Kurs auf die Bewaff­nung der Arbei­ter, auf den bewaff­ne­ten Auf­stand, erst wäh­rend des drei­tä­gi­gen Gene­ral­streiks Anfang August, der die (deutsch­na­tio­na­le) Regie­rung Cunos hin­weg­feg­te, man hat­te sich beträcht­lich viel Zeit ent­ge­hen lassen …

Unse­re Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei, rich­ti­ger ihre Füh­rung, hat die Bedeu­tung der Beset­zung des Ruhr­ge­bie­tes und des Rhein­lan­des durch Frank­reich nicht recht­zei­tig erkannt, sie hat die Bedeu­tung der im Zusam­men­hang damit für die deut­sche Wirt­schaft ein­ge­tre­te­nen Ver­lus­te von 80 Pro­zent der Eisen- und Stahl­er­zeu­gung und 71 Pro­zent der Koh­le sowie die Bedeu­tung der Poli­tik des ‚pas­si­ven Wider­stands‘ der deut­schen Regie­rung gegen die Besat­zungs­mäch­te nicht erfasst. Infol­ge­des­sen ver­moch­te sie das Nahen der Wirt­schafts­kri­se im Lan­de, die in ihrem Gefol­ge die revo­lu­tio­nä­re Kri­se aus­lös­te, nicht recht­zei­tig vorauszusehen.“

Die Leh­ren der Erfah­rung von 1921, von 1923, aus der Räte­re­pu­blik in Bay­ern, der Novem­ber-Revo­lu­ti­on 1918/19 – aber ins­be­son­de­re auch aus der kata­stro­pha­len kampf­lo­sen Nie­der­la­ge von 1933 – dür­fen nicht ver­ges­sen werden.

Sie bezeu­gen einer­seits eine Kampf­tra­di­ti­on der deut­schen Arbei­ter­klas­se, die hin­ter dem revo­lu­tio­nä­ren Elan ande­rer Län­der nicht zurück­steht. Nur wenn wir die Erin­ne­rung an die­se wach­hal­ten, kön­nen wir hof­fen, dass sie in ähn­lich kri­ti­schen Situa­tio­nen zu neu­em Leben auf­er­ste­hen wird.

Sie bezeu­gen aber auch die Bedeu­tung einer revo­lu­tio­nä­ren Füh­rung, die auf­grund einer sorg­fäl­ti­gen Ein­schät­zung der Kräf­te­ver­hält­nis­se sich weder zu for­schen Aben­teu­ern hin­rei­ßen lässt, noch auch davor zurück­schreckt, sich auf einen Kampf ein­zu­las­sen, wenn die­ser nicht die Gewiss­heit, aber die Chan­ce zum Sieg bietet.

Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Janu­ar 2023
Tagged , , , , , , , , , . Bookmark the permalink.