(Zur Überschrift siehe Fußnote 1)
Helmut Dahmer
Vor 250 Jahren, am 28. August 1770, wurde Hegel als Sohn eines herzoglich-württembergischen Beamten in Stuttgart geboren. Seit 1817 Fichtes Nachfolger an der Berliner Universität, führte er die von Kant begonnene „philosophische Revolution“ zu Ende (Heine, 1834).2 Das Projekt Hegels und seiner Studienfreunde am Tübinger Stift, Schelling und Hölderlin, war es, ihre „Zeit in Gedanken zu erfassen“, sie also sich und ihren Zeitgenossen verständlich zu machen.
Ihr Studium (der Philosophie und Theologie) fiel mit der von den französischen „Enzyklopädisten“ (Diderot, D‘Alembert, Holbach, Rousseau, Turgot, Voltaire) vorbereiteten, antifeudalen französischen Revolution der Jahre 1789-1794 zusammen.
Im Schlusskapitel seiner geschichtsphilosophischen Vorlesungen3 schrieb Hegel: „Der Gedanke, der Begriff des Rechts machte sich mit einem Male geltend, und dagegen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten. […] Es war dieses […] ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert.“4
Die dialektische Philosophie der Fichte, Schelling und Hegel war ein groß angelegter, kontrovers vorgetragener Versuch, die Periode der Gesellschaftsgeschichte, die sie durchlebten, zu begreifen. In ihrer Lebenszeit ging es um die Beseitigung einer jahrhundertealten Sozialordnung durch einen Volksaufstand; die Proklamation allgemeiner Menschenrechte unter der Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“; den (utopischen) Versuch, Gleichheit und Vernunftreligion terroristisch (mit Hilfe von Guillotine und Bürgerkrieg) durchzusetzen; die Entmachtung der plebejischen Massen durch die Jakobiner und das Rückläufigwerden der Revolution (seit dem „Thermidor“ von 1794); die kriegerische Verteidigung und Internationalisierung des auf bürgerliche Interessen zurückgestutzten Revolutionsprogramms5 durch den General Napoléon Bonaparte, der sich selbst zum Kaiser krönte, und schließlich die lange Phase der Restauration (optimistisch auch „Vormärz“ genannt)…
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Was Hegel als „herrlichen Sonnenaufgang“ beschrieb, war die Erfahrung, dass die jahrhundertelang in Europa bestehende Sozialordnung (das „bodenvermittelte Herrschaftsverhältnis“), die als schlechtweg „natürliche“ und zudem „geheiligte“ (nämlich gottgewollte) gegolten hatte, von der französischen Revolutionsregierung (des „Dritten Stands“) praktisch von einem Tag auf den andern beseitigt werden konnte.
Seit dem Hochmittelalter hatte sich in den europäischen Handwerks- und Handelsstädten eine neuartige Form von indirekter Vergesellschaftung (über Geld und Markt) herausgebildet. Diese Inseln städtischer Autonomie, die aus ständischen Bindungen freigesetzten Individuen (Patriziern, Plebejern, Söldnern) Lebensmöglichkeiten boten und in der Lage waren, ihre Autonomie militärisch zu verteidigen, waren die „steinerne Wiege“ der Bourgeoisie und der „,freien‘ Lohnarbeiterschaft“. Und Jakobiner und Girondisten träumten von einer Renaissance der antiken griechischen Stadtstaaten und der römischen Republik und beseitigten – im Bunde mit den plebejischen Sansculotten – die althergebrachten Privilegien von Adel und Geistlichkeit samt der Monarchie. So setzten sie nun auch politisch und in nationalem Maßstab die Herrschaft der Bourgeoisie durch.
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Hegel hat die für seine Generation prägende Erfahrung der antifeudalen Revolution in dem berühmten Kapitel seiner Phänomenologie des Geistes (1806/07) über das „Selbstbewußtsein“ klassisch dargestellt, demzufolge – nach einem Kampf auf Leben und Tod – der „Knecht“ am Ende obenauf kommt, weil nur er (in seiner, vom „Herrn“ erzwungenen Knechtsarbeit, deren moderne Form Marx später als „Lohnsklaverei“ bestimmte) neue Erfahrungen mit seiner eigenen und mit der von ihm bearbeiteten äußeren Natur machen kann.
Aus der Erfahrung mit Aufklärung und Revolution (die, Heine zufolge, wie „Blitz“ und „Donner“, Gedanke und Tat aufeinander folgten) hat Hegel – in Kooperation mit Schelling – das Programm seiner Philosophie entwickelt: „Es kommt nach meiner Einsicht […] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“6
Was als „Substanz“ (also zeitlos Zugrundeliegendes) erscheint, sind die zu Institutionen auskristallisierten Gesellschaftsverhältnisse, die – vor vielen Generationen, auf einem bestimmten Niveau der Naturbeherrschung, notgedrungen und planlos entstanden – als „Natur“ imponieren, ohne es zu sein. Sie als „Subjekt“ aufzufassen, heißt, ihnen den Naturschein abzustreifen, der sie gegen Veränderung immunisiert.
Mit Fichte zu reden, kommt es darauf an, die vermeintlichen „Tatsachen“ (wieder) als „Tathandlungen“ zu begreifen, um sie, neuen Bedürfnissen entsprechend, umzugestalten oder abzuschaffen. Hegels eigentliche Domäne war die Entzauberung der Pseudonatur obsolet gewordener Institutionen.
Diese (Re-)Subjektivierung von „Substanz“ hat er dann totalisiert, indem er auch die (außermenschliche) Natur als eine geistige, nämlich als „Geist in seinem Anderssein“ interpretierte, als Teil und Widerpart des „Weltgeists“, der im Laufe der Natur- und Menschengeschichte allmählich zu sich selbst kommen werde.
Was schulbildend wirkte, war aber die von ihm begründete Institutionenkritik als Wissenschaft, die Erklären und Verstehen kombiniert, besser: die darauf aus ist, Erklärungen in neuartige Einsichten zu überführen.7 Vermittelt durch Ludwig Feuerbachs anthropologische [menschenkundliche] Religionskritik hat Hegel nicht nur das Denken von Marx und Engels (und vieler anderer Theoretiker des Anarchismus und Kommunismus) geprägt, sondern (direkt und indirekt) auch das Werk der großen Kritiker Schopenhauer, Nietzsche und Freud und die Plejade [Gruppe] der „Frankfurter“ Sozialphilosophen.8
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Hegels kritisches Verfahren (zur Auflösung vorgeblicher „Substanzen“) war die viel geschmähte, selten verstandene „Dialektik“. Sie verdankt sich der Suche nach einem Ausweg aus dem Labyrinth der (jeweiligen) Gegenwart mit Hilfe der „Energie des Denkens“, dieser „ungeheure[n] Macht des Negativen“9, und soll – Teil der Knechts-Arbeit – den „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ antizipieren [vorwegnehmen] und befördern, auf den, Hegel zufolge, die geschichtliche Entwicklung gerichtet ist.
Auch Begriffe sind „Institutionen“, Bausteine des „Labyrinths“. Unsere „Welt“ – die innere, psychisch variable, ebenso wie die sogenannte „Außenwelt“ (die durch die Arbeit vieler Generationen zu einem Habitat umgestaltete „Natur“) – „haben“ wir, „begreifen“ wir nur als eine sprachlich vermittelte. Die Begriffe unserer Sprache aber sind abstrakt-allgemeine. Das Individuelle, Besondere, um das es uns jeweils geht, können sie nicht fassen, es entgleitet ihnen. Das nötigt zur Arbeit an und mit den Begriffen, zum Versuch, die Differenz zwischen Sachverhalt und Formulierung zu verringern, aus Begriffsschablonen „lebendige“, sachhaltige Begriffe zu machen, sie zu historisieren.
Hegels „Logik“ sollte die erstarrten, konventionellen Begriffe, mit denen wir uns über unsere Welt und über einander verständigen, wieder zum Leben erwecken: Sie sollen „konkret“ werden, die in steter Veränderung begriffene Welt nicht feststellen, sondern zum Ausdruck bringen.
Nietzsche hat in der Dialektik die „Waffe der Unterdrückten“ gesehen, denen der gesellschaftliche Status quo unerträglich ist. Im Hinblick auf Sokrates schrieb er: „Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. […] Sie kann nur Nothwehr sein in den Händen Solcher, die keine andren Waffen mehr haben. Man muss sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr.“10
Das dialektische Verfahren, wie die Feuerbach-Schüler Marx und Freud (der „Marx der Psychologie“) es praktizierten, ist das genealogische [das die Entwicklungsforschung betreffende]: Obsolet gewordene, die vergesellschafteten Individuen nicht mehr fördernde, sondern bedrückende Institutionen der Sozial- und Lebensgeschichte11 werden in Frage gestellt; ihre verdrängt-vergessene Entstehungsgeschichte wird (in therapeutischen Erinnerungsdialogen) rekonstruiert, um den „denkenden und leidenden Menschen“ (Marx) die Möglichkeit zu verschaffen, sich von ihnen zu distanzieren, sich dem fatalen Wiederholungszwang zu entziehen, der auf der „Bewusstlosigkeit der Beteiligten“ (Engels) beruht.
Fußnoten
1 Alexander Herzens, des russischen Sozialrevolutionärs, treffende Charakteristik der Hegelschen Logik. Alexander Herzen, [1854-70], Erinnerungen, Bd. I, Berlin (Wiegandt & Grieben) 1907, S. 272: „Die Philosophie Hegels ist eine Algebra der Revolution, sie übt eine wahrhaft befreiende Wirkung und lässt keinen Stein von der christlichen Welt, der alten Welt der Überlieferungen, die sich selbst überlebt hat, auf dem anderen.“ – Lenin, „der materialistische Denker, der über diese Fragen am ernsthaftesten nachgedacht“ hat (Max Horkheimer), hat im Herbst 1914, nach dem Zusammenbruch der sozialdemokratischen Internationale, Hegels Logik studiert und mit Randglossen versehen.
2 Die Geschichte dieser philosophischen Revolution schrieb Richard Kroner [1921-24], Von Kant bis Hegel, Tübingen (Mohr-Siebeck) 1961.
3 Die, zusammen mit seiner „Rechtsphilosophie“, Hegels Soziologie ausmachen.
4 G. W. F. Hegel [1822-30], Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie-Werkausgabe, Bd. 12, Frankfurt (Suhrkamp) 1970/71, S. 529.
5 Statt der „Freiheit“: die uneingeschränkte Nutzung des Privateigentums bei Kauf und Verkauf von Produktionsmitteln, vor allem von Arbeitskraft; statt der „Gleichheit“: das formal gleiche Recht für alle, gleichviel, ob sie es nutzen und durchsetzen können oder nicht; statt der „Brüderlichkeit“: die Konkurrenz aller gegen alle.
6 Hegel [1807], Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, a. a. O. (Anm. 4), S. 22 f. („Vorrede“).
7 Vgl. dazu Karl-Otto Apel [(1966) 1968], „Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthro- pologischer Sicht“; in: Apel [1973], Transformation der Philosophie, Frankfurt (Suhrkamp) 1973, Bd. II, S. 96-127.
8 Max Horkheimer [1937), „Traditionelle und kritische Theorie“; in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt (Fischer) 1988. Theodor W. Adorno [1966], Negative Dialektik; in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt (Suhrkamp), 1973.
9 Hegel [1807], a. a. O. (Anm. 6), S. 36. – Hegel glaubte nicht nur, die Bewegung der philosophischen Denkens in Gestalt seines Systems zum Abschluss gebracht zu haben, sondern deutete, die Dialektik stillstellend, den preußischen Staat der Restaurationszeit (1815-1830) als Vernunftstaat …
10 Friedrich Nietzsche [1888], Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt; in: Sämtliche Werke (Kritische Studienausgabe), Bd. 6, München (dtv/de Gruyter) 1980, S. 70 („Das Problem des Sokrates“, 6).
11 Privateigentum und Staat, Markt und Familie auf der einen Seite, neurotische Zwänge auf der anderen.