W. A.
Im Folgenden sollen die wesentlichen Elemente von Trotzkis Faschismusanalyse dargestellt werden. Eine Diskussion der Beiträge Trotzkis in Relation zu anderen, ins- besondere marxistischen Ansätzen zu einer Theorie des Faschismus würde den Rahmen sprengen.1
1922 und 1923 regte eine neuartige politische Erscheinung, der „Faszismus“, der in Italien und Deutschland zu beobachten war, eine Diskussion in der Kommunistischen Internationale an, die damals noch in offener Weise geführt werden konnte und zu differenzierten Beiträgen führte.2
Das Auftreten des Faschismus bezeichnete Trotzki 1922, als Mussolinis „Fasci“ nach Rom marschierten, als symptomatisch für die Lehren, die die herrschenden Klassen Westeuropas aus den Erfahrungen der russischen Revolution gezogen hatten, d. h. für deren Bereitschaft, der Gefahr einer neuen Revolution mit allen Hilfsmitteln und Strategien entgegenzutreten. Und er fügte hinzu, dass auch die Gefahr eines „deutschen Mussolini“ drohe.3
Als Trotzki im Sommer 1924 den „Zusammenbruch der deutschen Revolution“ vom Herbst 1923 den Beginn einer neuen Periode in der Entwicklung Europas nannte4, blieb seine Definition des Faschismus noch verschwommen. Der Faschismus konnte nach seiner Ansicht in verschiedenen Ländern eine sozial unterschiedliche Gestalt annehmen.5 Aber seinem Wesen nach sei der Faschismus eine „Formation der Bourgeoisie zur Zeit des Bürgerkrieges“. Er stelle einen nur kurze Zeit andauernden Ausnahmezustand der bürgerlichen Gesellschaft dar, der entweder im Falle des Sieges der sozialistischen Revolution von der Diktatur des Proletariats abgelöst werde oder im Falle einer proletarischen Niederlage durch die „normale bürgerliche ‚Ordnung‘“.6
Stalins im September 1924 verkündete These, derzufolge die Sozialdemokratie „ein objektiv gemäßigter Flügel des Faschismus“ war, lehnte er als „absolut unsinnig“ ab. Wohl könne man die Sozialdemokratie als linken Flügel der bürgerlichen Gesellschaft charakterisieren, wenn man nicht die sozialdemokratische Arbeiterbasis und damit den für die Sozialdemokratie bestehenden Zwang vergesse, in einem be- stimmten Rahmen, „nicht allein mit dem Willen ihres bürgerlichen Herren zu rechnen, sondern auch mit den Interessen ihrer betrogenen proletarischen Auftraggeber“. Man dürfe aber nicht übersehen, „daß die Sozialdemokratie und der Faschismus zwei verschiedene Pole der − im Moment der Gefahr einheitlichen − bürgerlichen Front darstellen, aber immerhin zwei Pole“.7
Intensiv begann sich Trotzki mit der Faschismusproblematik nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion auseinanderzusetzen. In der am 13. November 1929 fertiggestellten Broschüre Die österreichische Krise, die Sozialdemokratie und der Kommunismus8 sind bereits die wesentlichen Elemente seiner in den folgenden Jahren vertieften Faschismustheorie enthalten.9 Seine Analyse der österreichischen Krise schälte den Unterschied zwischen Sozialdemokratie und Faschismus anhand der österreichischen Konstellation schärfer als bisher heraus. Den Faschismus bezeichnete er in Relation zur Sozialdemokratie als den „zweite(n) Knecht der Bourgeoisie, ganz anders als der erste und ihm Feind“.10 Der Faschismus könne eine umso bedeutendere Rolle spielen, je klarer „der Widerspruch zwischen den Erfordernissen der historischen Situation und der praktischen Politik der sozialdemokratischen Massenpartei“ werde. Der Faschismus trete „als notwendige Ergänzung der Sozialdemokratie auf“, lebe von ihr und komme mit ihrer Hilfe zur Macht.11
Als die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf das Gefüge der Weimarer Republik sich wirtschaftlich in einer verheerenden Massenarbeitslosigkeit, politisch in der Auflösung der parlamentarischen Demokratie und dem Anschwellen der nationalsozialistischen Flut, insbesondere seit den Reichstagswahlen vom 14. September 1930, bemerkbar machten, begann Trotzki in einer Reihe von Artikeln und Broschüren12 die deutsche Entwicklung ausführlicher als zuvor zu analysieren.
Das Anwachsen des Nationalsozialismus war Trotzki zufolge das Produkt zweier Faktoren gewesen: einerseits der scharfen gesellschaftlichen Krise und andererseits der „revolutio- nären Schwäche des deutschen Proletariats“.13
Die allgemeine Ursache für den Verfall der bürgerlichen Demokratie sah Trotzki im imperialistischen Entwicklungsstadium des Kapitalismus begründet. Der Kapitalismus habe seine „Blütezeit“ überschritten. Er zerstöre „durch nationale und internationale Gegensätze im Inneren eines jeden Landes die demokratische Struktur“. Wo sich die „fortschrittliche Klasse“, also das Proletariat unfähig zeige, die Macht zu ergreifen und Wirtschaft und Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage neu zu gestalten, könne der niedergehende, sterbende Kapitalismus nur mittels der barbarischen Methoden des Faschismus aufrechterhalten werden.14
Es sei verhängnisvoll für die Arbeiterklasse, den Unterschied zwischen bürgerlicher Demokratie und Faschismus zu leugnen oder zu verwischen. Zwar bezeichnete er beide als lediglich unterschiedliche Arten kapitalistischer Herrschaft. Aber in der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie sei die Existenz unabhängiger proletarischer Organisationen wie politischer Parteien und Gewerkschaften möglich. Diese Organisationen bildeten vom Standpunkt der revolutionären Marxisten Keime der proletarischen Demokratie im Rahmen der bürgerlichen Demokratie, d. h. Stützpunkte, von denen aus die Arbeiter den revolutionären Kampf für ihre Interessen und gegen die Herrschaft des Kapitals führen könnten.15
Der Faschismus hingegen sei „ein besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft“. Die Aufgabe eines faschistischen Systems bestehe nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Vorhut, sondern auch darin, die ganze Arbeiterklasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten. Das bedeute die Vernichtung aller proletarischen Organisationen, aller Stützpunkte der Arbeiter. Die physische Ausrottung der revolutionären Arbeiterschicht allein sei ungenügend.
Der Nationalsozialismus werde sich nicht auf sein drohendes Vernichtungswerk in Deutschland beschränken, warnte er. Auch die Sowjetunion müsse mit einer direkten Bedrohung durch ein faschistisches Deutschland rechnen. Denn: „Hitlers Sieg bedeutet Krieg gegen [die] USSR“.17
„Der Verfall der kapitalistischen Gesellschaft“ stellte nach Ansicht Trotzkis „den Bonapartismus − neben dem Faschismus und im Zusammenhang mit diesem − auf die Tagesordnung“.18 Unter Bonapartismus verstand er in diesem Kontext ein labiles, weil nur auf den „militärisch-polizeilichen Apparat“19 und nicht auf eine soziale Massenbasis gestütztes, diktatorisches Übergangsregime, das die parlamentarische Demokratie ablöse. Vor allem versuche es, die Funktion eines scheinbar neutralen, über den Gesellschaftsklassen stehenden Vermittlers zwischen zwei sich feindlich gegenüberstehenden großen sozialen Lagern zu erfüllen, damit den Ausbruch eines Bürgerkrieges zu verhindern und die bürgerliche Herrschaft zu erhalten.20 Erst wenn die „,normalen‘ militärisch-polizeilichen Mittel der bürgerlichen Diktatur mitsamt ihrer parlamentarischen Hülle für die Gleichgewichtserhaltung der Gesellschaft“ nicht mehr ausreichten, werde die Bourgeoisie den Bonapartismus durch den Faschismus zu ersetzen versuchen.21
Das Kleinbürgertum, das durch die Wirtschaftskrise in eine verzweifelte Lage geraten war, stellte Trotzki zufolge die soziale Massenbasis der faschistischen Bewegung dar. Der Kern der nationalsozialistischen Ideologie zog diese zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankende Klasse an: Sie versprach, diese Schichten durch einen Umsturz zu retten, der den „Marxismus“ an einer weiteren Blockierung der Prosperität von Han- del, Gewerbe und Landwirtschaft hindern sollte.22 Die Hauptmasse der Faschisten bestehe aus „menschlichem Staub“, der lediglich bei Wahlen zahlenmäßig von Gewicht sein könne, aber aufgrund seiner wirtschaftlichen Rolle und seiner Heterogenität keineswegs auch nur entfernt das Gewicht der Arbeiterschaft in sozialen Auseinandersetzungen erreichen könne.23 Zweifellos besitze die nationalsozialistische Bewegung erfahrene Kampfkader und Sturmabteilungen, aber ihre eigentliche Stärke beruhe vor allem auf der Zersplitterung der Kräfte ihres Todfeindes − der Arbeiterbewegung.24
Die reale Kampfkraft einer politischen Bewegung, ihre gesellschaftliche Relevanz, hob Trotzki deshalb hervor, weil er die Analyse der sozialen Ursachen des Faschismus keineswegs auf eine rein theoretische Betrachtung einengte, sondern einen politischen Ausweg aus einer spezifischen historischen Situation vermitteln wollte.25 Trotzki stützte sich dabei insbesondere auf die politischen Erfahrungen der Bolschewiki aus dem Revolutionsjahr 1917 und die taktischen Lehren der ersten vier Weltkongresse der Komintern.26
Wie bereits erwähnt, bezeichnete Trotzki die politische Schwäche des Proletariats als zweite Ursache für das Anwachsen des Nationalsozialismus.27 Sie setzte sich seiner Ansicht nach „aus zwei Elementen zusammen: aus der beson- deren historischen Rolle der Sozialdemokratie, dieser allmächtigen kapitalistischen Agentur in den Reihen des Proletariats, und aus der Unfähigkeit der zentristischen Leitung der Kommunistischen Partei, die Arbeiter unter dem Banner der Revolution zu vereinigen“.28 Die KPD stelle den „subjektiven Faktor“ dar. Hingegen sei die SPD „ein objektives Hindernis, das man hinwegräumen muß“29, zumal sie „alle Bedingungen für den Sieg des Faschismus vorbereitet“ habe.30
Grundtenor seiner Schriften war die leidenschaftliche Aufforderung an KPD und Komintern, ihren verhängnisvollen Kurs − die Einschätzung der Sozialdemokratie als Hauptfeind, die Unterschätzung der faschistischen Gefahr − aufzu- geben. Denn diese Politik erlaube es der SPD − trotz des auch in den Augen breiter Massen immer offensichtlicher werdenden Bankrotts ihrer reformistischen Politik − weiterhin den Großteil ihrer Anhänger unter Kontrolle zu halten.31 Stattdessen sollte sie zur Einheitsfronttaktik „von oben und von unten“ zurückkehren. Er war davon überzeugt, dass diese nicht nur das einzige Mittel sei, um die Arbeiterklasse vereint in den Abwehrkampf gegen den Nationalsozialismus zu führen und um breite Teile der Arbeiterschaft dem Einfluss der SPD-Führung zu entziehen, sondern auch die Voraussetzung schaffe, um in die revolutionäre Offensive überzugehen.32 Mehr als zuvor liege die Stärke der revolutionären Partei während der Krise des bürgerlichen Regimes im außerparlamentarischen Massenkampf.33 Nur auf diesem Gebiet könne der Kommunismus entscheidende Erfolge erringen, die soziale und po- litische Bedeutung des Proletariats voll zur Entfaltung bringen und somit die Grundlage für ein Bündnis mit dem Kleinbürgertum herstellen.34
Auf die Grundzüge der Faschismusanalyse Trotzkis konnte sich die Vereinigte Linke Opposition vom Zeitpunkt ihres Bestehens an stützen. Als massenwirksames Propagandamittel in Form von Broschüren stand sie den „trotzkistischen“ Kommunisten im Wesentlichen jedoch erst ab Herbst 1931 zur Verfügung.35