Die faschis­ti­sche Gefahr*

 

Hel­mut Dahmer

1.

Vor 100 Jah­ren hat­ten Arbei­ter- und Sol­da­ten­re­vo­lu­tio­nen dem Ers­ten Welt­krieg und den Mon­ar­chien ein Ende gemacht. Der anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Flü­gel die­ser Bewe­gung wur­de von refor­mis­tisch-natio­na­lis­ti­schen Regie­run­gen mit Hil­fe von kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Trup­pen nie­der­ge­kämpft (aus denen sich dann auch die ers­ten faschis­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen rekru­tier­ten). Das Resul­tat die­ser bür­ger­kriegs­ar­ti­gen Kämp­fe waren par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tien – pre­kä­re poli­ti­sche Über­bau­ten der vor­de­mo­kra­tisch orga­ni­sier­ten kapi­ta­lis­ti­schen Wirtschaftsgesellschaft.

Als die öko­no­mi­sche Kri­se von 1929 die­se vor­läu­fi­ge „Sta­bi­li­sie­rung“ der Nach­kriegs-Ver­hält­nis­se ins Wan­ken brach­te, wur­de das par­la­men­ta­ri­sche Sys­tem durch Prä­si­di­al­dik­ta­tu­ren ersetzt, deren letz­te 1933 das „Kabi­nett Hit­ler“ war. Die deut­schen Faschis­ten liqui­dier­ten die anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Arbei­ter­or­ga­ni­sa­tio­nen und zim­mer­ten sich – in Koope­ra­ti­on mit der (ari­sier­ten) Büro­kra­tie – einen staat­li­chen Über­bau, der dem oli­go­pol­ka­pi­ta­lis­ti­schen Unter­bau ent­sprach; Indus­trie und Ban­ken erhoff­ten sich vom NS-Kriegs­ka­pi­ta­lis­mus Extra­pro­fi­te. Dies his­to­ri­sche Modell ist ver­pönt, aber (wie alles Ver­pön­te) eben dar­um attrak­tiv. Und so sehen wir, dass – wie schon in den drei­ßi­ger Jah­ren des vori­gen Jahr­hun­derts – eine der weni­gen noch exis­tie­ren­den par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tien nach der ande­ren zu einer „illi­be­ra­len“, also auto­ri­tä­ren mutiert.

2.

Im Zuge der Indus­tria­li­sie­rung hat­ten sich die euro­päi­schen Gesell­schaf­ten aus Gesell­schaf­ten von klei­nen und mitt­le­ren Selb­stän­di­gen in Stadt und Land zu Gesell­schaf­ten von Lohn­ar­bei­te­rin­nen und Lohn­ar­bei­tern, also von abhän­gig Beschäf­tig­ten in Indus­trie und Ver­wal­tung ent­wi­ckelt. Heer­scha­ren von Unzu­frie­de­nen und Ori­en­tie­rungs­lo­sen waren 1914 an die Kriegs­fron­ten geeilt und hat­ten im Über­le­bens­kampf der „Mate­ri­al­schlach­ten“ einen Pro­zess der Ver­ro­hung durch­lau­fen. Außer Mil­lio­nen von Toten und Ver­stüm­mel­ten, Hun­ger und Elend hat­te ihnen der gro­ße Krieg nichts gebracht, und auch die Hoff­nun­gen auf eine Bes­se­rung der Lebens­ver­hält­nis­se in der Nach­kriegs­zeit erwie­sen sich als trü­ge­risch. Mit nicht-auto­ri­tä­ren, also demo­kra­ti­schen Lebens­for­men wuss­te die Kriegs­ge­nera­ti­on nichts anzu­fan­gen, und die arbeits­los gewor­de­nen Front­sol­da­ten ver­ding­ten sich, wenn es um die „Wie­der­her­stel­lung der Ord­nung“ ging, bereit­wil­lig als Kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re und Pogro­mis­ten. Rasch fan­den sich Dem­ago­gen (vom Typus Mus­so­li­ni oder Hit­ler), die Heer­scha­ren von „Abhän­gi­gen“ (Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter, Ange­stell­ten, Arbeits­lo­sen, Ent­rech­te­ten und Vete­ra­nen) zu „mas­sen­feind­li­chen Mas­sen­be­we­gun­gen“ bün­del­ten und deren Res­sen­ti­ments aus­zu­rich­ten wussten.

3.

In Deutsch­land zeich­ne­ten sich im Lau­fe des Kri­sen­jahrs 1923 mit dem „Ham­bur­ger Auf­stand“ der KPD und dem Hit­ler-Putsch schon die Alter­na­ti­ven zum Klassen-„Kompromiss“ der „Wei­ma­rer Repu­blik“ ab. Neun Jah­re spä­ter errang die NSDAP, gestützt auf ihre para­mi­li­tä­ri­schen Kampf- ver­bän­de (SA und SS), bei den letz­ten „frei­en“ Wah­len 13,7 Mil­lio­nen (37 Pro­zent) der Stim­men. Eine „Ein­heits­front“ von SPD und KPD (die ein­an­der wech­sel­sei­tig für ihren „Haupt­feind“ hiel­ten) kam nicht zustan­de. Ende März 1933 war die KPD bereits ver­bo­ten, und wäh­rend die bür­ger­li­chen Par­tei­en alle­samt dem „Ermäch­ti­gungs­ge­setz“ zustimm­ten, das das Ende der ers­ten deut­schen Repu­blik besie­gel­te, stimm­ten die SPD-Abge­ord­ne­ten, die kei­ner­lei außer­par­la­men­ta­ri­schen Rück­halt mehr hat­ten, tap­fer noch ein­mal dage­gen. Nach dem kampf­lo­sen „Sieg“ der mit der DNVP ver­bün­de­ten Hit­ler­par­tei wur­de die orga­ni­sier­te Arbei­ter­be­we­gung (Par­tei­en, Orga­ni­sa­tio­nen und Gewerk­schaf­ten) ver­bo­ten und die lin­ke, auf Eman­zi­pa­ti­on ori­en­tier­te Kul­tur der Wei­ma­rer Repu­blik liqui­diert. Hit­ler hat­te sich bei­zei­ten die Unter­stüt­zung der „Reichs­wehr“, der Groß­grund­be­sit­zer und der Groß­in­dus­tri­el­len für sei­ne repres­si­ve Innen- und expan­si­ve Außen­po­li­tik gesi­chert. Das von ihm instal­lier­te Raub- und Ter­ror­sys­tem bewähr­te sich: Die in stän­di­ger Mobi­li­sie­rung und Indok­tri­na­ti­on gehal­te­ne Bevöl­ke­rungs­mehr­heit blieb loy­al, bis die alli­ier­ten Trup­pen das Land besetz­ten und unter sich aufteilten.

4.

Ver­schie­de­ne deut­sche Sozi­al­wis­sen­schaft­ler (Theo­dor Gei­ger, Wil­helm Reich, Erich Fromm, Theo­dor W. Ador­no) waren durch die Pas­si­vi­tät der Lohn­ar­bei­ter­schaft wäh­rend des Unter­gangs der Wei­ma­rer Repu­blik auf die Bedeu­tung schicht­ty­pi­scher Men­ta­li­tä­ten für die poli­ti­sche Ori­en­tie­rung und das Wahl­ver­hal­ten der Bevöl­ke­rung auf­merk­sam gewor­den. In den vier­zi­ger Jah­ren mach­ten sich in die USA geflüch­te­te Sozio­lo­gen um Max Hork­hei­mer an die em- piri­sche Erfor­schung sol­cher Men­ta­li­tä­ten („sozia­ler Vor­ur­tei­le“) und konn­ten schließ­lich sowohl den Typus der „auto­ri­tä­ren“ (faschis­to­iden) Per­sön­lich­keit als auch des­sen Gegen­stück, den Typus der rela­tiv „Vor­ur­teils­frei­en“, prä­zi­se beschrei­ben. Der typi­sche Wäh­ler und Gefolgs­mann faschis­ti­scher Par­tei­en fin­det sich frei­lich, so ihr Befund, in allen Sozi­al­schich- ten und bei allen poli­ti­schen Strö­mun­gen; er gilt dar­um vie­len als „nor­mal“.

Er fin­det sich in allen Län­dern und sei­ne Kenn­zei­chen sind: Ste­reo­ty­pie der Urteils­bil­dung (das Ein­tei­len oder Rubri­zie­ren von Men­schen); Kon­for­mis­mus (die auto­ma­ti­sche Anpas­sung und Selbst-Gleich­schal­tung); mit Unwis­sen­heit gepaar­te Gleich­gül­tig­keit gegen­über gesell­schaft­li­chen Fra­gen, die Per­so­na­li­sie­rung unper­sön­li­cher Ver­hält­nis­se und die Nei­gung zu Aber­glau­ben und Ver­schwö­rungs-Gerüch­ten. Die Prä­gung die­ses Typus wur­de von den Autoren auf die vor­herr­schen­den gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se bzw. auf das „kul­tu­rel­le Kli­ma“ zurückgeführt.

5.

Für das in den heu­ti­gen, durch zuneh­men­de Ungleich­heit der Lebens­chan­cen cha­rak­te­ri­sier­ten „Wohl­stands-Oasen“ vom Typus der BRD (oder Öster­reichs) herr­schen­de „kul­tu­rel­le Kli­ma“ (mit Freud zu reden: für das „Unbe­ha­gen in der Kul­tur“) sind fol­gen­de Kom­po­nen­ten ausschlaggebend:

Die Angst vor Krieg, Wirt­schafts- und Kli­ma-Kri­se; die Dis­kre­di­tie­rung aller bis­he­ri­gen Ver­su­che, durch Auf­stän­de und Revo­lu­tio­nen die kapi­ta­lis­ti­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se abzu­lö­sen; die ver­dräng­te Erin­ne­rung an die unge­heu­ren Mas­sa­ker, die Jah­re oder Jahr­zehn­te zurück­lie­gen, unver­stan­den und unge­sühnt blie­ben und dar­um wie­der­keh­ren kön­nen; das auf­däm­mern­de Bewusst­sein, dass die natio­nal und inter­na­tio­nal un- glei­che Ver­tei­lung des gesell­schaft­li­chen Reich­tums – also die Koexis­tenz von äußers­tem Luxus und kras­ser Ver­elen­dung – unhalt­bar ist; die Erfah­rung, dass die Bevöl­ke­rungs­mehr­heit auch in den par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tien von den Ent­schei­dun­gen einer mino­ri­tä­ren, öko­no­misch-poli­ti­schen „Power Eli­te“ (im Sin­ne von C. W. Mills) abhän­gig, also nicht Sub­jekt von „Poli­tik“, son­dern deren Objekt ist.

Die Angst vor einer Umver­tei­lung des Welt­reich­tums und vor dem Ver­lust ihres pri­vi­le­gier­ten Sta­tus treibt gegen­wär­tig Mil­lio­nen Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner der weni­gen „Wohl­stands-Oasen“ Dem­ago­gen zu, die ihnen „eth­ni­sche Säu­be­run­gen“ im Innern und die Ver­tei­di­gung ihrer Natio­nal­staa­ten (als einer Art „Gated Com­mu­ni­ties“) gegen die Flücht­lin­ge aus den Welt­wüs­ten des „Glo­ba­len Südens“ verheißen.

6.

Die Ent­na­zi­fi­zie­rung oder „Ree­du­ca­ti­on“ der west­al­li­ier­ten Besat­zungs­mäch­te war nach 1945 der halb­her­zi­ge Ver­such einer demo­kra­ti­schen Umer­zie­hung der Bevöl­ke­rung ihrer „Zonen“, ohne die pri­va­te Ver­fü­gungs­ge­walt über die Pro­duk­ti­ons­mit­tel – das heißt: die vor­de­mo­kra­ti­sche Ver­fas­sung der Wirt­schaft – anzu­tas­ten. Der sowje­ti­schen Zone wur­de das Modell der büro­kra­ti­schen Plan­wirt­schaft oktroy­iert. In bei­den Fäl­len blieb (im Zei­chen des „Kal­ten Krie­ges“) die inne­re Oppo­si­ti­on ver­pönt, wäh­rend die gene­ra­tio­nen­lang ein­ge­üb­te „auto­ri­tä­re“ Men­ta­li­tät dem besin­nungs­lo­sen Wie­der- auf­bau zugu­te­kam. Die Bevöl­ke­rungs­mehr­heit, die unter Nazi-Regie zu einer Raub- und Mord­ge­mein­schaft gewor­den war, ret­te­te sich, als die Illu­si­on zer­stob, ein Her­ren­men­schen-Deutsch­land zwi­schen Atlan­tik und Ural zu erobern, in ein kol­lek­ti­ves Nicht-Wahr­ha­ben-Wol­len. Es hält – trotz der anti­au­to­ri­tä­ren Stu­den­ten-, Schü­ler- und Lehr­lings­re­vol­te von 1968 – bis heu­te an und hin­dert die Mehr­heit, die Faschis­ten von heu­te als sol­che zu erken­nen. Dar­um waren die­se schwei­gen­de Mehr­heit und ihr Staat bis­her auch außer­stan­de, sie zu bekämp­fen. Das galt und gilt für die immer wie­der­keh­ren­den Ver­su­che, NS-Nach­fol­ge­or­ga­ni­sa­tio­nen zu grün­den; und es galt für die 90er Jah­re, in denen zwar die wie­der ver­ein­ten West- und Ost­deut­schen ein­an­der zu tole­rie­ren lern­ten, ihr Hass sich aber gegen die „Ande­ren“, Flücht­lin­ge und Migran­tin­nen und Migran­ten, rich­te­te und mehr als 100 unge­sühn­te Mor­de for­der­te. Selbst als die „Zwi­ckau­er Zel­le“ des „Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds“ in den Jah­ren 2000 bis 2006 Poli­zei und Publi­kum mit ihrer – gegen „Alis“ gerich­te­ten Mord­se­rie – ein Stück NS-All­tag nach­spiel­te, sträub­ten sich Poli­zei und Bevöl­ke­rung so lan­ge wie mög­lich gegen das Wie­der-Erken­nen des alten, all­täg­li­chen Schre­ckens in die­ser Re-Insze­nie­rung.

7.

Und so sind wir im Jahr 2024 in Deutsch­land mit einer veri­ta­blen Faschis­ten­par­tei kon­fron­tiert, die 35.000 Mit­glie­der zählt und für die der­zeit bun­des­weit etwa ein Fünf­tel der Wahl­be­rech­tig­ten stim­men könn­te. Ein Jahr­zehnt nach ihrer Grün­dung wird sie zur zweit­stärks­ten Par­tei, obwohl zu ihren erklär­ten Zie­len die Abschaf­fung des par­la­men­ta­ri­schen Sys­tems und eine „Homo­ge­ni­sie­rung“ der Bevöl­ke­rung mit Hil­fe von Mas­sen-Depor­ta­tio­nen gehören.

Beim Zusam­men­bruch des NS-Regimes gab es 1945 nur weni­ge über­le­ben­de Juden, doch von den acht­ein­halb Mil­lio­nen Nazis woll­te es kei­ner gewe­sen sein. Das setzt sich bis in die Gegen­wart fort, und dar­um han­delt es sich bei den Nazis von heu­te durch­wegs um mas­kier­te, also um Leu­te, die par­tout kei­ne Nazis sein wol­len. Teil ihrer Mas­ke­ra­de ist, dass sie längst auch For­de­run­gen der in die Defen­si­ve gedräng­ten „Lin­ken“ über­nom­men haben, also gegen (nicht näher spe­zi­fi­zier­te) „Eli­ten“, gegen die eta­blier­ten Par­tei­en, gegen die USA und für direk­te Demo­kra­tie agitieren.

Die angeb­lich „wehr­haf­te“ Demo­kra­tie übt sich dem gegen­über in repres­si­ver Tole­ranz, finan­ziert die Nazi-Par­tei wie alle ande­ren und tut sich mit Ver­bo­ten schwer. Statt den Brand zu bekämp­fen, begnü­gen sich die deut­sche Mehr­heits­par­tei CDU/CSU und die „Libe­ra­len“ mit der Rol­le einer „Brand­mau­er“ und lieb­äu­geln ins­ge­heim – um des „Macht“-Erhalts wil­len – mit soge­nann­ten Mitte-Rechts-Koalitionen.

8.

Die par­la­men­ta­risch-kapi­ta­lis­ti­schen Demo­kra­tien figu­rie­ren seit 100 Jah­ren als Anti­the­sen zum „Tota­li­ta­ris­mus“. Zwei die­ser „tota­li­tä­ren“ Bewe­gun­gen und Regime, die zeit­wei­lig mit ein­an­der pak­tier­ten und ein­an­der schließ­lich im Zwei­ten Welt­krieg rui­nier­ten, sind längst zu ver­pön­ten (und dar­um gern auch imi­tier­ten) Model­len gewor­den. Sie erfüll­ten kon­trä­re poli­tisch-öko­no­mi­sche Funk­tio­nen: Soll­te der Faschis­mus Pri­vat­ei­gen­tum und Natio­nal­staat vor der Arbei­ter­be­we­gung „ret­ten“, so ging es dem Sta­li­nis­mus um die Ver­tei­di­gung der revo­lu­tio­när ver­staat­lich­ten Pro­duk­ti­ons­mit­tel und um die büro­kra­ti­sche Kon­trol­le über Wirt­schaft und Gesell­schaft (Arbei­ter, Bau­ern und Intelligenzija).

Bei­de Regime stan­den im Dienst uto­pi­scher Pro­jek­te – des Auf­baus des „Sozia­lis­mus“ in einem zwar rie­si­gen, aber unter­ent­wi­ckel­ten Land (oder Block) bezie­hungs­wei­se der Erobe­rung Euro­pas (und sei­ner Kolo­nien) durch eine deut­sche Herrenmenschen-„Volksgemeinschaft“. Bei­de Regime ent­wi­ckel­ten – mit GPU und Gesta­po – unge­heu­re Repres­si­ons­ap­pa­ra­te, die ein­an­der auf fata­le Wei­se gli­chen.1 Die ent­schei­den­de Ana­lo­gie der bei­den „klas­si­schen“ Tota­li­ta­ris­men war aber der Füh­rung und Gefolg­schaft gemein­sa­me Wahn, das uto­pi­sche Ziel sei (nur) erreich­bar, wenn jenes Zehn­tel oder Fünf­tel der Bevöl­ke­rung ihres Herr­schafts­ge­biets, das ihnen als uner­wünscht oder als „Sabo­teur“ des erwünsch­ten Fort­schritts galt, inter­niert, depor­tiert oder umge­bracht würde.

9.

In Deutsch­land müss­te das Dreh­buch des Auf­stiegs einer faschis­ti­schen Par­tei – damals mit Unter­stüt­zung durch Finanz- und Indus­trie­ka­pi­ta­lis­ten und mit Rücken­de­ckung der Armee – sowie das­je­ni­ge des Aus­baus ihrer Ter­ror­herr­schaft wohl­be­kannt sein, wird aber ange­strengt ver­ges­sen. Inter­es­sen­ten spre­chen sich dezi­diert dage­gen aus, aus die­ser fata­len Geschich­te Leh­ren für die Gegen­wart zu zie­hen. Die Faschis­ten aber tun eben das – frei­lich auf ihre Wei­se. Sie wis­sen, dass ihre Stun­de kommt, wenn die Instan­zen und Ver­tei­di­ger der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie bei der Kri­sen­be­wäl­ti­gung ver­sa­gen. Und da es das Geschäft der Christ- und Sozi­al­de­mo­kra­ten ist, Kri­sen zu ver­wal­ten, nicht aber deren Ursa­chen zu bekämp­fen (was nur mit Hil­fe anti­ka­pi­ta­lis­ti­scher Refor­men mög­lich wäre), bie­ten Faschis­ten sich als Kri­sen-Bewäl­ti­ger an, die ein auto­ri­tä­res Regime an die Stel­le des par­la­men­ta­ri­schen set­zen wol­len und den – nach Aus­trei­bung von vie­len Mil­lio­nen „Frem­den“ – ver­blei­ben­den Deut­schen (mit eth­nisch ein- wand­frei­er Genea­lo­gie) Sicher­heit und Wohl­stand versprechen.

10.

His­to­ri­sche Ver­glei­che ermög­li­chen das Ler­nen aus frü­he­ren Situa­tio­nen, in denen Kri­sen sich zu Kata­stro­phen aus­wuch­sen oder, sel­te­ner, die damals leben­den den­ken­den und lei­den­den Men­schen recht­zei­tig einen Aus­weg fan­den. Sol­che Ver­glei­che machen auch die Unter­schie­de kennt­lich, auf die es für das Ver­ständ­nis der heu­ti­gen Ver­hält­nis­se und für das Han­deln unter die­sen Umstän­den ankommt. Vor 1933 gal­ten die Mil­lio­nen Wahl­stim­men für die sozia­lis­tisch ori­en­tier­ten Arbei­ter­par­tei­en als Garan­ten der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie, die deren Mit­glie­der und Sym­pa­thi­san­ten erkämpft hat­ten. Lei­der erwies sich das 1933 als eine Fehleinschätzung.

Die pro­ka­pi­ta­lis­tisch ori­en­tier­te Sozi­al­de­mo­kra­tie und die Gewerk­schaf­ten von heu­te sind kaum auf eine Ver­tei­di­gung der Reprä­sen­ta­tiv-Demo­kra­tie vor­be­rei­tet. Deren Vor­wärts-Ver­tei­di­gung, also ihre Fun­die­rung durch eine Demo­kra­ti­sie­rung der Wirt­schaft steht nicht auf ihrem Pro­gramm. Und so steht die poli­tisch bewuss­te Min­der­heit, die weiß, was Faschis­mus bedeu­tet und die des­sen ers­tes Opfer wäre, vor der Auf­ga­be, einen Teil der gewöhn­lich kon­for­mis­tisch-apa­thi­schen Mehr­heit für die faschis­ti­sche Gefahr zu sensibilisieren.

Nach­dem der vor einem Vier­tel­jahr­hun­dert von Ger­hard Schrö­der aus­ge­ru­fe­ne „Auf­stand der Anstän­di­gen“ längst ver­ges­sen ist, haben die spon­ta­nen städ­ti­schen Mas­sen-Demons­tra­tio­nen „gegen Rechts“ im Janu­ar und Febru­ar die­ses Jah­res in der Bun­des­re­pu­blik und in Öster­reich gezeigt, wer im Ernst­fall wil­lens und in der Lage wäre, der faschis­ti­schen Gefahr zu begeg­nen und die demo­kra­ti­sche Lebens­form zu ver­tei­di­gen. Es han­del­te sich um die größ­te spon­ta­ne, außer­par­la­men­ta­ri­sche Bewe­gung der Nach­kriegs­zeit: Über drei Mil­lio­nen Men­schen pro­tes­tier­ten wochen­lang auf Stra­ßen und Plät­zen ihrer Städ­te und Dör­fer gegen die AfD und deren „iden­ti­tä­re“ Ideologen.

Nie­mand von den Berufs­po­li­ti­kern hat­te sie geru­fen, kei­ner sie orga­ni­siert. Und die Spre­cher der gro­ßen Par­tei­en, die sich den Demons­tra­tio­nen eil­fer­tig anschlos­sen, ahn­ten, dass die­ser spon­ta­ne Mas­sen­pro­test ein Miss­trau­ens­vo­tum war, das sich gegen Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker rich­te­te, die für die Ein­schrän­kung des Asyl­rechts ver­ant­wort­lich waren und denen – ange­sichts der Flücht­lin­ge und Migrie­ren­den aus den Kriegs- und Hun­ger­wüs­ten unse­rer Welt – nichts ande­res ein­fällt, als: „Wir müs­sen end­lich im gro­ßen Stil abschieben!“

Was in der „schwei­gen­den Mehr­heit“ der Bevöl­ke­rung seit der Flüchtlings-„Welle“ von 2015 vor­ging, blieb den an Umfra­ge-Daten ori­en­tier­ten „Abschiebe“-Politikern ver­bor­gen, bis die Jour­na­lis­tin­nen und Jour­na­lis­ten des Recher­che­zen­trums Cor­rec­tiv ihren Bericht über ein Geheim­tref­fen von AfD-Funk­tio­nä­ren, faschis­ti­schen Ideo­lo­gen und Geld­ge­bern ver­öf­fent­lich­ten (das Ende Novem­ber 2023 in einem Pots­da­mer Land­ho­tel statt­ge­fun­den hat­te). Das war der Trop­fen, der das Fass der Sor­gen über den Neo­fa­schis­mus zum Über­lau­fen brach- te. Und die über drei Mil­lio­nen, die aus die­sem Anlass auf die Stra­ße gin­gen, haben damit gezeigt, dass sie nicht mehr dem kol­lek­ti­ven Nicht-Wahr­ha­ben-Wol­len und dem ritua­li­sier­ten Geden­ken der Nach­kriegs­jahr­zehn­te an den „Holo­caust“ frö­nen, son­dern ver­stan­den haben, dass es sich bei der AfD und ihren Mit­läu­fern um eine neue faschis­ti­sche Bewe­gung handelt.

11.

Jetzt ist es die Auf­ga­be der radi­kal-refor­me­ri­schen und anti­ka­pi­ta­lis­tisch ori­en­tier­ten Grup­pie­run­gen, zu ver­hin­dern, dass die­se neu­ar­ti­ge, spon­ta­ne Pro­test­be­we­gung fol­gen­los ver­pufft. Sämt­li­che betrof­fe­nen, weil gefähr­de­ten Orga­ni­sa­tio­nen soll­ten, unbe­scha­det ihrer spe­zi­el­len Inter­es­sen und Ori­en­tie­run­gen, dabei zusammenarbeiten,

Stadt­teil-Grup­pen „Gegen Rechts“ zu bil­den, die nicht nur Demons­tra­tio­nen vor­be­rei­ten, son­dern auch den zivi­len Schutz gefähr­de­ter Men­schen­grup­pen und Ein­rich­tun­gen (Flücht­lings­quar­tie­re, Syn­ago­gen, Moscheen) selbst in die Hand nehmen

• ein (inter­na­tio­nal ver­netz­tes) natio­na­les Komi­tee zum Kampf gegen AfD und „Iden­ti­tä­re“ ins Leben zu rufen, das in gro­ßer Auf­la­ge ein Bul­le­tin her­aus­gibt und im In ter­net publi­ziert, in dem die Poli­tik der AfD Woche für Woche doku­men­tiert und ana­ly­siert wird; ent­spre­chen­de mehr­spra­chi­ge und gut ver­ständ­li­che Flug­blät­ter soll­ten bei allen AfD-Ver­an­stal­tun­gen und -Umzü­gen in gro­ßen Men­gen ver­teilt werden

• schließ­lich eine – an Par­la­ment, Regie­rung und Jus­tiz adres­sier­te – Peti­ti­on für ein Ver­bot der AfD (samt ihren Neben- und mög­li­chen Nach­fol­ge­or­ga­ni­sa­tio­nen) vor­zu berei­ten, da die­se Par­tei das faschis­ti­sche Pro­jekt ver­folgt, das nach Mei­nung ihrer Ideo­lo­gen gefähr­de­te „Über­le­ben der deut­schen Nati­on“ mit Hil­fe der Depor­ta­ti­on von Mil­lio­nen zuge­wan­der­ter und „nicht aus­rei­chend assi­mi­lier­ter“ Staats­bür­ger zu sichern.2
(Wien, 1. Mai 2024)


End­no­ten

* [Der vor­lie­gen­de Text ist die vom Autor über­ar­bei­te­te Fas­sung sei­nes Vor­trags zum The­ma „Die faschis­ti­sche Bedro­hung ges­tern und heu­te − Was nun?“ auf der hybri­den ISO-Ver­an­stal­tung am 12. April 2024.]

1 Die Liqui­die­rung jeg­li­cher Oppo­si­ti­on und die Straf­lo­sig­keit der Täter ver­lieh den bei­den „tota­li­tä­ren“ Herr­schafts­sys­te­men die Bedeu­tung von inter­na­tio­nal viel­fach imi­tier­ten Model­len. Eine der Fol­gen tota­li­tä­rer Herr­schaft ist die inter­ge­ne­ra­tio­nell wirk­sa­me Läh­mung der Spon­ta­nei­tät der Bevölkerung. 
2 Gal­ten 1933 den Nazis „die Juden“ als „unser“ Unglück, so sol­len es heu­te alle die­je­ni­gen sein, die kei­ne deut­schen Groß­el­tern haben und – wie wir – zögern, sich, nach allem, was im Namen die­ser „Kul­tur“ schon ange­rich­tet wor­den ist, vor­be­halt­los mit ihr zu identifizieren.


Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Juni 2024
Tagged , , , , , , , , . Bookmark the permalink.