Zur Aktualität von Wilhelm Reichs einzigartiger Analyse von 1933
Helmut Dahmer
Die „Freudo-Marxisten“ versuchten in den Jahren 1925-1935, den historischen Materialismus Marxens und den biologischen Sigmund Freuds zu kombinieren. Sie wollten ihre Gegenwart – und besonders „Das deutsche Rätsel“ (Trotzki 1932) – verstehen.
Unter ihnen war Siegfried Bernfeld (Sisyphos, 1925) wohl der bedeutendste Theoretiker. Er hatte erkannt, dass die Psychoanalyse eine neuartige Wissenschaft eigener Art (nämlich eine „Kritische Theorie“) ist.
Reich aber formulierte ihr politisches Programm (Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse, 1929/34). Seine 1930-33, also während der Agonie der Weimarer Republik geschriebene Massenpsychologie des Faschismus ist einzigartig.
Keiner seiner psychoanalytischen Kollegen, weder die von den Nazis Vertriebenen, noch die im sicheren Ausland Lebenden wagten es, den braunen Stier bei den Hörnern zu packen und Hitlers Erfolg – die Organisation einer viele Millionen starken, kriegsbereiten Gefolgschaft – politisch-psychologisch zu deuten.
Zwar hatte Freud schon 1920 in Massenpsychologie und Ich-Analyse die Struktur massenfeindlicher Massenbewegungen aufgeklärt, doch die organisierten Freudianer, auch die sozialistischen, waren an seinen „kulturkritischen“ Schriften wenig interessiert. Erst Adorno erkannte 30 Jahre später die Bedeutung der Freudschen Massenpsychologie für ein Verständnis des Faschismus.
Als Reichs Massenpsychologie im September/Oktober 1933 erschien, war er bereits nach Dänemark geflohen. Die Nazis hatten seine Schriften verboten, sie öffentlich verbrannt und ihn ausgebürgert.
Seine Parteigenossen von der stalinisierten KPD bzw. der Komintern und seine freudianischen Kollegen von der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und ihrer verbliebenen deutschen Sektion, der DPG, bekamen es mit der Angst zu tun. Sie schlossen ihn aus und ächteten ihn.
Die historische Niederlage von 1933
In seiner „Vorrede zur I. Auflage“ schrieb Reich im Oktober 1933: „Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere Niederlage erlitten […]. Der Faschismus hat gesiegt und baut seine Positionen mit allen verfügbaren Mitteln, in erster Linie durch kriegerische Umbildung der Jugend, stündlich aus.“
Das war nicht nur eine Kritik der (stalinistischen) Propaganda, wie sie der linientreue Ernst Bloch zwei Jahre später in Erbschaft dieser Zeit formulierte, sondern ein Angriff auf die „Generallinie“ von KPD und Komintern. Diese wiegten sich in der Illusion, Hitler werde bald „abgewirtschaftet“ haben und die Macht dann den Kommunisten (im Exil, in den Lagern und im illegalen Widerstand) zufallen.
Vermutlich hat Reich Trotzkis Aufrufe gegen Hitler aus den Jahren 1929-33, die in einer ganzen Serie von Broschüren in Deutschland verbreitet wurden, als braver kommunistischer Parteisoldat zunächst noch ignoriert.
In der Sache hatten die Stalinisten, die den Verfasser der Massenpsychologie des Faschismus alsbald einen „Trotzkisten“ nannten – was damals einen Bannfluch mit tödlichen Folgen bedeutete – nicht einmal unrecht. Reich sah wie Trotzki, dass es sich beim deutschen Faschismus um eine Massenbewegung handelte. Er verstand, dass Politik und Propaganda der Komintern-Führung 1929-1933 für die kampflose Niederlage der deutschen Arbeiterorganisationen verantwortlich waren.
Reichs Pionierarbeit
Reichs „sexualökonomische“ Interpretation des (antisemitischen) Massenwahns und des Führer- und Gemeinschaftskults war in jeder Hinsicht eine Pionierarbeit. Reich, Fromm, Geiger und Kracauer haben gleichzeitig, jedoch unabhängig voneinander, das Feld der Mentalitätsforschung eröffnet.
Erich Fromm hatte bereits 1929/30 eine große „sozialpsychologische Untersuchung“ zu Einstellungen von Arbeitern und Angestellten am Vorabend des Dritten Reiches durchgeführt. Mittels der wissenschaftlichen Auswertung von Fragebogen konnte er die soziale Lage der Befragten zu deren politischen Einstellungen in Beziehung setzen. Fromm unterschied bereits damals autoritäre, radikale und rebellische Haltungen bzw. Persönlichkeitstypen oder „Charaktere“.
Reich kannte diese Forschungsarbeit nicht, da sie bis 1980 unveröffentlicht blieb.
Für Trotzki („Porträt des Nationalsozialismus“, 1933), Theodor Geiger (Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, 1932), Siegfried Kracauer (Die Angestellten, 1930) und Reich bildeten die Zwischenschichten das eigentliche Problem. Der „alte“ und der „neue“ Mittelstand tendierten angesichts der politischen Spaltung der Arbeiterorganisationen zum Nationalsozialismus:
„Etwa vierzehn Millionen Kleinbürger stehen ungefähr dreizehn Millionen feindlicher Arbeiterstimmen gegenüber.“ „Die buntscheckigen Massen des Kleinbürgertums, abgekehrt von den alten Parteien oder erstmalig zu politischem Leben erwacht, haben sich um das Hakenkreuzbanner geschart. Zum ersten Mal in ihrer ganzen Geschichte zeigen sich die durch Lebensbedingungen und Gewohnheiten, durch Traditionen und Interessen geschiedenen Zwischenklassen – Handwerker, Krämer, die ‚freien Berufe’, Angestellte, Funktionäre, Bauern – in einem Marschzug vereint, in einem wunderlicheren, phantastischeren, zwiespältigeren, als es die Bauernzüge des Mittelalters waren.“ „Die Verzweiflung des Kleinbürgertums mußte [in Deutschland] den Charakter der Weißglut annehmen, um Hitler und seine Partei auf schwindelnde Höhen zu erheben.“ (Trotzki, August 1932.)
Reich sprach von einer „Schere“ zwischen Ökonomie und Ideologie – oder auch zwischen dem empirischen oder Alltags-Klassenbewusstsein auf der einen und dem der Arbeiterklasse von Theoretikern und Parteiführern „zugerechneten“ oder „zugeschriebenen“ Bewusstsein auf der anderen Seite. Geiger wie Fromm führten sie auf ungleichzeitige, träge „Mentalitäten“ oder „Sozialcharaktere“ zurück. Ihnen zufolge verhinderten sie eine einfache „Übersetzung“ der ökonomischen Interessenlage in ihr entsprechende politische Optionen.
Sexualunterdrückung im Dienst der Klassenherrschaft
Reich hielt die Sexualunterdrückung im Dienst der Klassenherrschaft für das entscheidende Hindernis einer Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft. Seiner Auffassung nach wurde sie in patriarchalisch-autoritär strukturierten und die Sozial-Charaktere formenden Familien bewusstlos praktiziert. Sie lähme die eigentliche „Bewegungskraft der Geschichte“, die „vegetative“ oder sexuelle Energie, die „Glückssehnsucht“ der Massen. Darum überwiege in deren Mentalität die Angst vor einer Revolution, die Eigeninitiative verlange, den „Umwälzungswunsch“. Fromm nannte das 1941 Die Furcht vor der Freiheit.
Die Propaganda der Kommunisten habe, so Reich, die Massen nicht erreicht, weil sie den – im Alltagsbewusstsein zentralen – Wunsch nach sexueller Befreiung ignoriert habe.
Hitler hingegen „enthüllte“, ohne recht zu wissen, was er tat, „die soziale Macht der Phantasie“. Die antikapitalistische, vegetativ-kosmische, sexuelle Sehnsucht der Massen habe ihn an die Macht getragen, weil er seiner Gefolgschaft „nationale Freiheit“ verhieß, ihr Selbstwert-Gefühl als „Herrenrasse“ stärkte und sie gegen die „Juden“ – als Repräsentanten des Kapitalismus und der Kastrationsdrohung – mobilisierte.
„Hitler befreite [die subjektiv revolutionär aufgewühlten Massen] von der Verantwortung für das eigene Schicksal, das ihnen die deutsche revolutionäre Bewegung auflud. ‚Hitler kann alles und macht alles für uns’, hieß es. Und er konnte alles und tat das Unglaublichste, weil ihm die Angst der Masse vor der Revolution half. Gleichzeitig befriedigte er die revolutionäre, antikapitalistische, sozialistische Sehnsucht der Masse illusionär in der Phantasie.“ (Reich, [1938], Menschen im Staat, Kap. 7.)
Die Besonderheit von Reichs Version von Psychoanalyse war zum einen die Fetischisierung der „Genitalität“, zum andern eine Behandlungs-„Technik“, die auf die Durchbrechung der sexualrepressiven Charakter-„Panzerung“ zwecks Herstellung von „orgastischer Potenz“ zielte.
Er verstand auch – als einziger –, dass Freuds Psychoanalyse und der Faschismus Todfeinde sind. Deshalb bedeutete ihm zufolge, jeder Versuch psychoanalytischer Therapeuten, sich mit den Nazis zu „arrangieren“, einen Verrat an der eigenen Sache, an Freuds Aufklärung.
Reichs „Sexualökonomie“ und ihre Irrtümer
Die von Reich entwickelte „Sexualökonomie“ sollte die Grundlage für eine neuartige „Sexualpolitik“ abgeben, die imstande wäre, die Arbeiterjugend zu mobilisieren. Die Befreiung der genital zentrierten, heterosexuellen Sexualität sollte der Befreiung von Lohnarbeit den Weg bahnen.
Im sexuellen Bedürfnis – beziehungsweise in der sexuellen Energie, die er später „Orgon“-Energie nannte –, sah Reich die eigentliche Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung. Ohne Sexualrepression könne die kapitalistische Wirtschaftsweise nicht bestehen. Reformisten und Stalinisten hätten diesen Kern jeder Ausbeutung ignoriert und seien darum gescheitert.
Der Demagoge Hitler aber hätte instinktiv die Sehnsucht der Massen nach nationaler und sexueller Befreiung erkannt und seine Propaganda darauf abgestellt. Das Hakenkreuz, die Abstraktion eines kopulierenden Paares, spreche die unbewussten Wünsche der Gefolgschaftsmasse eher an als Hammer und Sichel (Massenpsychologie des Faschismus, Kap. IV).
Reich nahm irrigerweise an, dass die NS-Jugendorganisationen, die den Einfluss der autoritären Familien schwächten und den Jugendlichen eine gewisse sexuelle Freizügigkeit ermöglichten, eine „sozialistische“ Errungenschaft seien. Er phantasierte sogar davon, dass sie vielleicht sogar zur Überwindung des Faschismus von innen führen könnten.
Reich übersah, dass solche „Freiheiten“ – wie andere Privilegien – für „Arier“ als künftiges Kanonenfutter reserviert waren. Er verstand nicht, dass das totalitäre Regime einen Vernichtungskampf nicht nur gegen interrassische Verbindungen – also „Rassenschande“ mit „Untermenschen“ –, sondern gegen jedwede Abweichung von der sexuellen Norm führte.
Reich war sich sicher, dass die Befreiung der genital zentrierten Sexualität mit dem Fortbestand des Kapitalismus unvereinbar sei – die sexuelle Revolution werde der sozialistischen den Weg bahnen.
Sexualität im Spätkapitalismus
In den höchst entwickelten kapitalistischen Gesellschaften der Nachkriegszeit aber ist es nach und nach zu einer Verringerung der traditionellen Sexualunterdrückung gekommen. An die Stelle von Ächtung und Bestrafung ist die Lockerung der Sexualtabus, ja, die Propagierung eines „gesunden Sexuallebens“ getreten.
„Der an wirtschaftliche und prokreative [d.h. der Fortpflanzung dienende] Zwecke nicht mehr gebundenen Sexualität [wurde] ein von den Sphären der Arbeit und des politischen Handelns abgeschiedener Naturschutzpark zugewiesen, in dem fast nichts mehr Natur ist, alles Veranstaltung, und dessen Existenz zwar Gesundheitswert hat, für das allgemeine Schicksal von Gesellschaft und Natur aber folgenlos bleibt. Die sexuelle ist nicht nur von den anderen Praktiken isoliert, sondern auch von ihren Sublimationen, von der erotischen Kultur wie von der Aura, die dem verpönten Glück traditionell anhing. Solchermaßen isoliert, verliert sie ihre Bedeutung für die Lebensgeschichte der Individuen wie für die Sozialgeschichte. Die entsublimierte [freigegebene, direkte sexuelle Befriedigung] hat ihr subversives Potential eingebüßt; als entgiftete, sterilisierte wird sie dem Kompensationsarsenal der Klassengesellschaft einverleibt.“ (Dahmer, Pseudonatur und Kritik, S. 219.)
Lehren für heute
Nach Krieg und Holocaust wollte 1945 im von den Alliierten besetzten Deutschland keiner mehr Nazi sein. Der schuldbeladenen Hitler-Gefolgschaft hatte es die Sprache verschlagen, und sie suchte ihr Heil in der Verdrängung der NS-Ära. So war die „demokratische“ Ordnung der beiden deutschen Teilstaaten auf Sand gebaut.
Seit deren „Wiedervereinigung“ aber drängt der lange verhohlene nationalsozialistische „Untergrund“, bestens konserviert und intergenerationell vermittelt, mit Macht ans Licht. Die Ungleichheits- und Krisenverwalter in Parteien und Staat stehen den Nazis von heute, die keine sein wollen, ratlos gegenüber. Der seit 1945 eingeübte kollektive Gedächtnisschwund hindert sie, nicht nur, ihren Gegner zu erkennen, sondern auch, ihn rechtzeitig zu bekämpfen.
In dieser Situation ist es nützlich, Reichs fast 90 Jahre alte Massenpsychologie, die im Psychosozial-Verlag erstmals wieder in der Originalversion von 1933 erschienen ist, noch einmal zur Hand zu nehmen.
Was ist daraus zu lernen?
• Dass die Nazis von heute – trotz ihrer Camouflage – als Nazis erkannt und bezeichnet werden müssen.
• Dass es wichtig ist, die gewaltträchtige Ideologie des rechten „Flügels“ der AfD, der „Identitären“ und ähnlicher Gruppen zu analysieren und öffentlich anzugreifen, nämlich das „Programm“: Die Migranten seien unser Unglück; reiche Juden planten einen „Bevölkerungs-Austausch“, eine „Umvolkung“; „Bio-Deutsche“ seien zu privilegieren, alle „Zugewanderten“ zu entrechten und zu deportieren; die Grenzen müssten geschlossen werden; „antideutsche“ Kritiker seien zu eliminieren.
• Dass die Republik nur zu retten ist, wenn wir ein radikales soziales und ökologisches Übergangsprogramm entwickeln. Es muss für die große Mehrheit so verständlich und attraktiv sein, dass sie für seine Realisierung bereit ist, aus ihrer Apathie auszubrechen und politisch aktiv zu werden. Ein solches Programm muss den Bogen von der Armutsbekämpfung zum Recht auf Arbeit schlagen, von der Garantie eines guten Mindest-Lebensstandards zum Recht auf Wohnung, von der 30-Stundenwoche zum wirksamen Kampf gegen die Klimakatastrophe.
Denn 2020 gilt wie 1930: Gelingt es nicht, die parlamentarische Stellvertreter-„Demokratie“ durch eine direkte, beteiligungsorientierte Demokratie in Gesellschaft und Wirtschaft zu ersetzen, dann werden die neuen Faschisten die „Abgehängten“, „Zurückgesetzten“, „Verunsicherten“ und „Gekränkten“ abermals zu einer Gefolgschaft formieren, die es ihnen ermöglicht, unseren demokratischen Grund- und Menschenrechten den Garaus zu machen.