Teil II: Der Regen und die Angst im Nacken
Teil I erschien in Avanti² Nr. 23/24 von Juli/August 2016.
R.G.
Mit der Zeit stieg mein Selbstbewußtsein. Ich bekam sehr positive Rückmeldungen seitens der PatientInnen und der Kollegen. Mensch bedenke: Ich hatte die Tätigkeit einer 24-jährigen Kollegin übernommen, die das Handtuch geschmissen hatte. Sie hattte dem Druck nicht mehr standhalten können.
Da sie sehr beliebt war, mußte ich mich erst beweisen, was mir relativ schnell gelang. Viele der PatientInnen gaben mir viel Trinkgeld und Anerkennung. Dieses stärkte mich enorm. Ich bekam ein neues Lebensgefühl.
Es kam nicht selten vor, dass KollegenInnen PatientInnen gegenüber Fehler gemacht hatten. Diese wollten dann jene TherapeutInnen nicht mehr weiter haben. Dann mußte ich die Kohlen aus dem Feuer holen.
Hausbesuche bei Regenwetter
Solange das Wetter gut war, konnte ich mit dem Rad meine Hausbesuche problemlos durchführen. Aber was war, wenn schlechtes Wetter herrschte?
An einem Tag regnete es in Strömen. Meine Hausbesuche lagen sehr weit auseinander. Unterwegs fluchte ich, dachte an die Sklaven in Katar. Bei den PatientInnen kam ich triefend nass an. Sie schauten mich erstaunt an und fragten, ob wir denn kein Auto hätten und ich so hier arbeiten wolle. Ich solle auf den Teppich aufpassen und so weiter.
Ich war stinksauer auf den Laden. Ich rief sofort von der Praxis aus die Chefin an und beschwerte mich. Eine tolle Antwort war die Folge: Kaufe Dir einen Regenschutz für das Radfahren.
Ich kaufte mir also Regenkleidung beim Aldi, aber bezahlt bekam ich sie nie. Als ich die KollegInnen darauf ansprach, sagten sie mir, dass sie alle auch das selbst bezahlt hätten.
So entstand bei mir die Idee: Wir müssen uns solidarisieren! Trotz der Angst, den Job zu verlieren und wieder in die Hartz IV-Scheiße reinzufallen!
Die allgegenwärtige Angst
Diese Angst war bei uns allen allgenwärtig. Sie war immer da. Selbst, wenn du alles gut gemacht hast und wenn es keinerlei Anlaß gab, - sobald die Chefin da war, tauchten wir alle ab. Ihre Brüllerei war unbeschreiblich. Manchmal brüllte ich zurück. Dann war Ruhe.
Der größte Hammer war, dass sie mir einmal sagte, sie wolle mich nicht verlieren. Sie bzw. ihre Steuerberaterin, die auch auf Minijob-Basis arbeitet, hätte es versäumt, einen Antrag zu stellen. Wobei ging es bei diesem Antrag? Wenn ein Unternehmer einen Langzeitarbeitslosen einstellt, bekommt er vom Staat 70 Prozent Zuschuss zum Lohn. Sie hätte dann für mich nur 30 Prozent zahlen müssen. Da ich eine Schwerbehinderung von 100 Prozent hätte, so ihre Argumentation, könnte ich doch einen Antrag an das Jobcenter stellen. Ich solle sagen, dass ich meine Schwerbehinderung bei der Bewerbung aus Angst verschwiegen hätte.
Gesagt, getan. Doch das Arbeitsamt lehnte meinen Antrag ab. Die Begründung war, dass der Antrag vor dem Unterschreiben des Arbeitsvertrages gestellt werden müsse.
Eine neue Attacke
Es dauerte nicht lange, bis die nächste Attacke kam. Ja - sie wußte schon, was Strategie und Taktik ist. Ich solle mich doch arbeitslos melden, einen Monat bei ihr schwarz arbeiten, und dann würde sie mich wieder anmelden. Diesen Deal lehnte ich kategorisch ab. Das Arbeitsamt ist ist nun ja auch nicht auf den Kopf gefallen. Wäre ich darauf eingegangen und erwischt worden, wäre die Folge eine 3-monatige Sperre gewesen.
Der Druck wurde immer größer, meine Arbeitszeit immer länger.In einem normalem Monat arbeitete ich fast 200 Stunden, ohne die Überzeit als Mehrarbeit angerechnet zu bekommen.
Wenn ich früher in unseren Zeitungen über solche Themen etwas gelesen hatte, dachte ich nur, wie kann mensch sich so etwas gefallen lassen.
Wenn ich morgens zur Arbeit gefahren bin, erlebte ich, wie die Paketausfahrer von Hermes, DHL oder UPS schon früh am Tag absolut im Stress waren. Mir taten sie immer leid, aber bei mir war es ja auch nicht anders.
Der Traum vom Generalstreik
Mir ging morgens immer ein Bild durch den Kopf. Ich habe einmal einen Film über den großen Belgischen Generalstreik von 1960/61 gesehen. Da stand alles still, die Strassenbahn fuhr nicht mehr, es ging nichts mehr. Ich dachte dann immer, was für eine starke Kraft wir doch sein können.
Fortsetzung folgt.