Interview mit Bernard Schmid
Seit November 2018 haben sich hunderttausende „Gelbwesten“ in Frankreich an Demonstrationen und Blockaden beteiligt. Über die Hintergründe dieser Rebellion sprachen wir mit Bernard Schmid (Paris). Er hat die Proteste von Anfang mit kritischer Solidarität begleitet.
Auslöser der Bewegung war die angekündigte Erhöhung der Kraftstoffsteuern aus „ökologischen“ Gründen. Was sind die Ursachen des massenhaften Zorns?
Die ökologischen Motive waren im Regierungshandeln lediglich vorgeschoben. Weniger als eine der geplanten vier Milliarden an zusätzlichen Staatseinnahmen durch die Spritsteuererhöhung wurden für den „ökologischen Umbau“ ausgewiesen. In Wirklichkeit handelt es sich schlicht um die Einführung einer zusätzlichen Verbrauchsbesteuerung, also die Erhöhung einer indirekten Steuer, die sich nicht nach dem Einkommen richtet. Zugleich baut die Regierung unter Emmanuel Macron und seinem Premierminister Edouard Philippe seit ihrem Amtsantritt im Mai 2017 einkommensprogressive Steuern und Sozialabgaben von Unternehmen ab. Die dadurch ausfallenden Staatseinnahmen legte sie dafür auf einkommensneutrale Kopfsteuern um – insbesondere die „Allgemeine Sozialabgabe“ CSG. Diese Fiskalpolitik wird aus guten Gründen als ausgesprochen unsozial bewertet.
Welche Forderungen stehen jetzt im Vordergrund?
Die Bewegung ist uneinheitlich, aber am stärksten und relativ strömungsübergreifend verbreitet sind folgende Forderungen:
-Rücktritt von Präsident Macron
-Einführung von Bürgerbegehren, also von Volksabstimmungen, die durch eine von 700.000 Unterschriften unterstützte Initiative legitimiert sind (RIC oder référendum d’initiative citoyenne)
-Wiedereinführung der 2017 durch Macron abgeschafften Vermögenssteuer ISF (impôt de solidarité sur la fortune).
Wie organisiert sich die Bewegung?
Das hängt von den örtlichen Gegebenheiten ab. Zunächst, vor Beginn der eigentlichen Proteste am 17. November 2018, tauschten die Leute sich über Wochen hinweg über Facebook und Youtube aus. Erst danach trafen die Betreffenden sich außerhalb des virtuellen Raums. Zumeist jedoch, vor allem in kleinen und mittleren Städten, zunächst an über Wochen hinweg besetzten Verkehrsnotenpunkten wie (Autobahnzubringern, Verkehrskreisel …). Seit der Weihnachtspause hat die Zahl solcher besetzten Örtlichkeiten jedoch abgenommen. Mancherorts stellen allerdings Kommunen oder auch Privatleute Gelände zur Verfügung. Ansonsten treffen sich die Menschen seit Anfang Januar 2019 überwiegend bei den samstäglichen Demonstrationen. In einigen Städten finden jedoch auch zusätzlich organisierte Treffen in angemieteten Räumen statt.
Warum konnten Macron und seine Regierung – trotz massiver Repression und taktischer Zugeständnisse – bisher nicht die Kritik „von unten“ zum Schweigen bringen?
Weil sich ein viel tiefer sitzender Unmut hier Bahn bricht. In den kleineren Kommunen etwa resultiert der Zorn aus der seit Jahren stattfindenden Zerstörung von Ar- beitsplätzen und des Abbaus von Postämtern, Bahnhöfen, Krankenhäusern oder Geburtsstationen. In den Kleinstädten ist diese Bewegung, gemessen an der EinwohnerInnenzahl, überdurchschnittlich stark. Hinzu kommt, dass gewerkschaftliche Bewegungen in den letzten Jahren mit schweren Niederlagen endeten (Proteste gegen die Arbeitsrechtsnovelle 2016 und 2017 oder gegen die „Bahnreform“ 2018). Mit der Bewegung der „Gelbwesten“ hat die weiterhin schwelende soziale Unzufriedenheit und Wut nun einen Kristallisationspunkt gefunden.
Die meisten Gewerkschaften und viele Linke sind zunächst auf Distanz zu den „Gelbwesten“ gegangen. Weshalb?
Einmal aufgrund der Präsenz der extremen Rechten, die von Anfang an versucht hat, Einfluss zu nehmen. Zum Zweiten reagieren Gewerkschaftsapparate oftmals skeptisch auf Bewegungen, die außerhalb des Einflusses ihrer Organisationen entstehen.
Hat sich an dieser abwartenden Haltung mittlerweile etwas geändert?
Ja, allerdings. Auf der „unteren“ und „mittleren“ Ebene nimmt etwa die CGT an den Protesten teil. Dies gilt eher für Westfrankreich (Rennes, Nantes, Toulouse), in Ostfrankreich ist das Gewicht der extremen Rechten in den sozialen Unterklassen stärker. Die CGT-Spitze wiederum versuchte, den Unmut und Zorn über eigene „Aktionstage“ außerhalb des „Gelbwesten“-Zusammenhangs aufzufangen – mit geringem Erfolg. Später rief sie – eher pro forma – für den 5. Februar 2019 zum Streik auf. Doch dann griffen Teile der „Gelbwesten“-Bewegung, und mittlerweile auch Sprecher der Linken (Jean-Luc Mélenchon von La France insoumise, Olivier Besancenot vom Nouveau parti anticapitaliste) diese Initiative auf und riefen ihrerseits für dasselbe Datum zum massiven Streik auf.
Welche Perspektiven haben die „Gelbwesten“ für die kommenden Wochen und Monate?
Das ist eine gute Frage … Zum Zeitpunkt dieses Interviews dauert die Protestbewegung bereits erheblich länger als vielfach vorausgesagt oder erwartet worden war. Wichtig könnte das oben erwähnte Datum 5. Februar werden. Auf jeden Fall wird diese Bewegung Spuren hinterlassen. Viele Personen haben mit ihr zum ersten Mal in ihrem Leben an einer Protestbewegung aktiv teilgenommen. Viele Beteiligte wird man auch danach in Bürgerinitiativen, Demonstrationsbündnissen oder anderswo antreffen. Ein Teil wird sich auf der Linken, ein Teil aber auch weit rechts politisieren. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt gibt es Versuche, eine Wahlliste unter dem Label „Gelbe Westen“ zur Europawahl am 26. Mai 2019 antreten zu lassen. Dieses Anliegen wird jedoch vor allem aus dem Establishment heraus gepuscht. Es geht nicht von der Basis aus. Das Macron-Lager erhofft sich davon eine Schwächung von Marine Le Pen auf der (extremen) Rechten und von Mélenchon auf der Linken.
[Die Fragen stellte W.A., 27.01.2019.]