Çatal Hüyük - Inter­view mit Bern­hard Brosius

 

Ende Juli 2014 war Çatal Hüyük The­ma unse­rer monat­li­chen Ver­an­stal­tung. Es ging um „Çatal Hüyük: Ver­wal­tungs­struk­tu­ren einer ega­li­tä­ren Gesell­schaft im Neo­li­thi­kum“. Wir spra­chen danach mit dem Refe­ren­ten Bern­hard Bro­si­us, der sich seit lan­gem inten­siv mit der Ent­wick­lung einer ega­li­tä­ren Gesell­schaft vor über 9.000 Jah­ren in Süd­ana­to­li­en befasst.

Fra­ge: Du hast in einem Auf­satz geschrie­ben: „Wir wis­sen über das prä­his­to­ri­sche Çatal Hüyük mehr als über man­che his­to­ri­sche Kul­tur, die uns zeit­lich näher liegt.“ Das klingt ziem­lich verwegen …

Ant­wort: Da in Çatal Hüyük 8.000 Men­schen 1.000 Jah­re lang zusam­men leb­ten, liegt eine Men­ge an Fund­ma­te­ri­al vor. Und weil dort über 170 Wis­sen­schaft­le­rIn­nen mit den moderns­ten archäo­lo­gi­schen, natur­wis­sen­schaft­li­chen und foren­si­schen Metho­den arbei­ten und auch sehr viel Geld für die For­schun­gen mobi­li­siert wer­den konn­te, ist es wirk­lich über­wäl­ti­gend, was inzwi­schen her­aus­ge­fun­den wur­de. Um nur ein paar Bei­spie­le zu nennen: 
Aus den che­mi­schen Ana­ly­sen der Roh­stof­fe und ihrer Ver­tei­lung konn­te geschlos­sen wer­den, dass es nur Gemein­ei­gen­tum an Pro­duk­ti­ons­mit­teln gab und nicht etwa Pri­vat­ei­gen­tum. Die Ske­lett­ana­ly­sen wie­der­um geben nicht nur Auf­schluss über die Ernäh­rung – so wis­sen wir z.B., wann die Babys abge­stillt wur­den –, son­dern auch über die Auf­he­bung der Arbeits­tei­lung und das Feh­len von Gewalt in der Gesell­schaft. Die Gene­tik lässt uns erken­nen, dass die Fami­li­en­bin­dun­gen nicht auf bio­lo­gi­scher Ver­wandt­schaft beruh­ten, son­dern kon­stru­iert waren. Eben­so zeigt die Gene­tik, dass ein unun­ter­bro­che­ner Zustrom vom Men­schen nach Çatal Hüyük erfolg­te und alle die­se Leu­te äußerst schnell und erfolg­reich inte­griert wur­den. In den letz­ten Jah­ren gelang es sogar, die kom­pli­zier­te Struk­tur der Selbst­ver­wal­tung zu ent­rät­seln, und so ver­ste­hen wir jetzt end­lich, mit wel­chen Metho­den die Ent­ste­hung einer Zen­tral­ge­walt eben­so wie Grup­pen­bil­dung ver­mie­den wer­den konn­ten. Auch weiß man inzwi­schen, wie die ein­zel­nen Res­sour­cen über die Sied­lung so ver­teilt wur­den, dass „jeder nach sei­nen Bedürf­nis­sen“ ver­sorgt wer­den konn­te – ohne Markt und ohne Geld. So kom­men doch eini­ge Infor­ma­tio­nen zusam­men, von denen man bei manch jün­ge­rer Kul­tur nur träu­men kann.

Fra­ge: Wer­den die ursprüng­li­chen For­schungs­er­geb­nis­se, die von einer klas­sen­lo­sen Gesell­schaft in Çatal Hüyük aus­ge­hen, durch neue Erkennt­nis­se gestützt?

Ant­wort: An der ega­li­tä­ren Gesell­schafts­form bestehen kei­ne Zwei­fel mehr. Schon 2006 schrieb der Gra­bungs­lei­ter Ian Hod­der: „Çatal Hüyük trieb das Kon­zept des ega­li­tä­ren Dor­fes ins ulti­ma­ti­ve Extrem.“ Damals hat­te man, gleich­gül­tig wo man grub, Stich­pro­ben nahm, Mau­er­zü­ge kar­tier­te, stets das glei­che Bild gefun­den: die immer glei­chen, immer gleich aus­ge­stat­te­ten Häu­ser mit den immer glei­chen Werk­zeu­gen und Pro­duk­ti­ons­ab­fäl­len. Es gab weder Palast noch Tem­pel. 2012 unter­such­te man den kom­plet­ten Hügel mit tomo­gra­phi­schem Radar, d.h. man ver­folg­te – zer­stö­rungs­frei – die Mau­er­zü­ge der Gebäu­de in belie­big ein­stell­ba­rer Tie­fe, bei­spiels­wei­se einen oder zwei oder drei Meter unter dem Boden. Seit­dem weiß man mit Sicher­heit, dass man auch nichts mehr ande­res fin­den wird als immer die glei­chen Wohn­häu­ser, in denen gelebt und gear­bei­tet wur­de. Nicht zuletzt ist die eigen­ar­ti­ge Ver­wal­tungs­form so kon­stru­iert, dass es kei­nen Platz gibt für eine zen­tra­le Auto­ri­tät. Viel­mehr räumt sie jedem ein­zel­nen Men­schen in Çatal Hüyük den glei­chen poli­ti­schen Stel­len­wert ein. Die Sied­lung wird von allen, die dort arbei­ten, als ega­li­tär bezeich­net, zuletzt mehr­fach vom Gra­bungs­lei­ter Ian Hod­der 2013.

Fra­ge: Kannst Du wei­te­re beleg­ba­re Haupt­kenn­zei­chen die­ser „Gesell­schaft von Glei­chen“ nennen?

Ant­wort: Die Arbeit war – wie die Gelenk­ab­nut­zun­gen an den Ske­let­ten zei­gen – auf alle gleich ver­teilt. Bis heu­te hat man nie­man­den gefun­den, der sei­nen Anteil an Arbeit auf ande­re abge­wälzt hät­te. Auch Män­ner und Frau­en erle­dig­ten alle Arbei­ten gemein­sam und nicht etwa arbeits­tei­lig, ob in der Küche, auf dem Acker, bei der Werk­zeug­pro­duk­ti­on, dem Haus­bau oder bei der Kin­der­er­zie­hung. Die Gleich­heit gab den Frei­raum zur Ent­fal­tung der Indi­vi­dua­li­tät, wie man an den indi­vi­du­ell ver­schie­de­nen Grab­bei­ga­ben, Wand­bil­dern und der Erin­ne­rung an kon­kre­te Per­so­nen über Jahr­hun­der­te hin­weg erken­nen kann. Die Gesell­schaft war äußerst gewalt­arm, denn bis 2013 wur­de kein Ske­lett gefun­den, das Gewalt als Todes­ur­sa­che erken­nen ließ. Grup­pen von Haus­hal­ten koope­rier­ten beim Haus­bau oder in der Land­wirt­schaft und teil­ten sich den „Küchen­dienst“. Die Ver­tei­lung der Lebens­mit­tel war über gegen­sei­ti­ge Hil­fe­leis­tun­gen orga­ni­siert, so dass nie­mand in Çatal Hüyük ver­hun­ger­te. Und natür­lich gab es da noch die gro­ßen und hef­ti­gen Feiern …

Fra­ge: Wel­che Rol­le spiel­te die Kunst?

Ant­wort: Ers­tens dien­te die Kunst der Bewah­rung von Wis­sen in schrift­lo­ser Zeit. Wand­bil­der von kon­kre­ten Ereig­nis­sen wur­den von einem Haus ans nächs­te wei­ter­ge­ge­ben über Gene­ra­tio­nen hin­weg. Eben­so wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se wie die Meta­mor­pho­se der Insek­ten oder der Lebens­zy­klus der Honig­bie­ne. Auch orga­ni­sa­to­ri­sche Zusam­men­hän­ge wur­den in abs­trak­ten Bil­dern ver­an­schau­licht. Zwei­tens ermög­lich­te die Kunst den unter­schied­li­chen Volks­grup­pen sowohl ihre eige­ne Iden­ti­tät zu wah­ren als auch ihre Kul­tur den ande­ren zu ver­mit­teln. Drit­tens wur­den die gro­ßen Fei­ern von den Bewoh­nern von Häu­ser­grup­pen orga­ni­siert und beinhal­te­ten epi­sche, sze­ni­sche Dar­stel­lun­gen, ver­gleich­bar heu­ti­gen Thea­ter­auf­füh­run­gen ein­schließ­lich Musik und ein­stu­dier­ten Tän­zen. Bei die­sen Fei­ern wur­den Über­schüs­se ver­zehrt, his­to­ri­sches Bewusst­sein geprägt, sozia­ler Stress abge­baut und der Zusam­men­halt der Men­schen gefes­tigt. Aber natür­lich muss­ten die­se Dar­bie­tun­gen zuvor erst ein­stu­diert wer­den. Vier­tens: Vor allem dien­te die Kunst der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on. Eine von bis­her sie­ben ent­schlüs­sel­ten Orga­ni­sa­ti­ons­ebe­nen bestand dar­in, dass alle die­je­ni­gen Häu­ser mit­ein­an­der ver­netzt waren, die glei­che Moti­ve in der Innen­ge­stal­tung auf­wie­sen. So waren alle Häu­ser ver­netzt, die auf einer Wand das Bild eines Stie­res zeig­ten, oder das Reli­ef eines Leo­par­den, oder … Um auf die­ser Ebe­ne orga­ni­siert zu sein, muss­te man folg­lich sol­che Kunst­wer­ke her­stel­len kön­nen. Es gab also einen erheb­li­chen Ansporn, künst­le­risch aktiv zu wer­den, und das Ergeb­nis war, dass tat­säch­lich alle aktiv waren. Es waren viel­leicht nicht alle gleich gut, aber alle waren krea­tiv, und das war das Ent­schei­den­de. Die Kunst war folg­lich das Medi­um zum Trans­port von Wis­sen, Iden­ti­tät und Orga­ni­sa­ti­on. Und damit war die Kunst ent­schei­dend für die sozia­le Sta­bi­li­tät über 1.000 Jah­re hinweg

Fra­ge: Wor­auf kon­zen­triert sich die aktu­el­le For­schung zu Çatal Hüyük?

Ant­wort: Die aktu­el­le For­schung kon­zen­triert sich auf Reli­gi­on und Geschich­te. Schon in den letz­ten Jah­ren gab es Schwer­punkt­pro­jek­te zur Reli­gi­on und in den nächs­ten Jah­ren soll „Reli­gi­on als Quel­le des Wohl­stan­des“ erforscht wer­den sowie der „Sym­bo­lis­mus im Kon­text von Öko­no­mie, Öko­lo­gie und Sozi­al­struk­tur“. Im zwei­ten Schwer­punkt sind geplant Tie­fen­son­die­run­gen zur Erfor­schung der Grün­dungs­ge­schich­te sowie die sys­te­ma­ti­sche Unter­su­chung der schlecht erhal­te­nen Sied­lungs­res­te auf der Kup­pe des Hügels. Vor allem will Hod­der eine genaue­re Chro­no­lo­gie ent­wi­ckeln. Inter­es­sant schei­nen mir noch zwei Pro­jek­te, die jedoch vor Ort nur unter­ge­ord­ne­te Bedeu­tung haben. So will man durch Ana­ly­se des Stron­ti­um­ge­hal­tes der Zäh­ne her­aus­fin­den, woher die zahl­rei­chen Ein­wan­de­rer kamen. Und da inzwi­schen erkannt wur­de, dass Çatal Hüyük mit vie­len ande­ren Sied­lun­gen bis weit ins heu­ti­ge Paläs­ti­na hin­ein ver­netzt war, sol­len auch die­se „inter­na­tio­na­len“ Bezie­hun­gen sys­te­ma­tisch unter­sucht werden.

Fra­ge: Was wirst Du zu die­sem The­ma in der nächs­ten Zeit veröffentlichen?

Ant­wort: Dass 8.000 Men­schen 1.000 Jah­re lang dicht an dicht, Haus an Haus, ohne Regie­rung und ohne Hier­ar­chie, aber selbst­or­ga­ni­siert und selbst­be­stimmt zusam­men­leb­ten und dabei ein fried­li­ches Leben führ­ten, ist für uns heu­te sozi­al rele­vant. Gera­de wir als Sozia­lis­ten kön­nen eine sol­che Gesell­schaft nicht ignorieren!
Aber wäh­rend bereits zwei Bücher über Reli­gi­on in Çatal Hüyük vom Gra­bungs­lei­ter her­aus­ge­ge­ben wur­den, sind die Ergeb­nis­se zur Sozi­al­struk­tur über unzäh­li­ge Gra­bungs­be­rich­te, Fach­ver­öf­fent­li­chun­gen in ver­schie­de­nen Zeit­schrif­ten, Pro­jekt­be­rich­te und Bücher zu den unter­schied­lichs­ten The­men ver­streut. Und zwar ver­mengt mit Betrach­tun­gen zu allen mög­li­chen ande­ren Aspekten.
Ich möch­te in einem Buch die ver­schie­de­nen Mosa­ik­stei­ne zur Sozi­al­struk­tur aus die­ser Mas­se an Publi­ka­tio­nen her­aus­klau­ben und dar­aus ein Bild von den sozia­len Ver­hält­nis­sen in Çatal Hüyük zusam­men­set­zen. Inzwi­schen ist die­ses Buch, das sich aus­schließ­lich auf die ega­li­tä­re Gesell­schafts­form kon­zen­triert, erfreu­li­cher­wei­se recht weit gedie­hen. Ich hof­fe, dass es mir dane­ben noch gelingt, einen Auf­satz über die ori­gi­nel­le Ver­wal­tungs­struk­tur von Çatal Hüyük zu ver­fas­sen und sepa­rat zu publizieren.

Die Fra­gen stell­te W.A.

aus der Rhein-Neckar Bei­la­ge zur Avan­ti 230, Febru­ar 2015
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