Che­mie­in­dus­trie: Lohn­ab­bau vereinbart!

H. S.

Trotz (oder wegen?) der lau­fen­den bzw. anste­hen­den Tarif­run­den in der Metall- und Elek­tro­in­dus­trie sowie im Öffent­li­chen Dienst ist am 18. Okto­ber 2022 die Che­mie­bran­che vor­ge­prescht. Die dor­ti­gen „Sozi­al­part­ner“ haben einen dau­er­haft wir­ken­den mas­si­ven Lohn­ab­bau für die ca. 580.000 Beschäf­tig­ten vereinbart.

Warnstreik bei Alstom in Mannheim, 7. November 2008. (Foto: helmut-roos@web.de.)

Warn­streik bei Als­tom in Mann­heim, 7. Novem­ber 2008. (Foto: helmut-roos@web.de.)

Der Abschluss in der Che­mie­in­dus­trie wur­de in einer ein­zi­gen Ver­hand- lungs­run­de und ohne Arbeits­kampf- maß­nah­men durch­ge­zo­gen. Es ging offen- sicht­lich dar­um, noch recht­zei­tig ein ver­gif­te­tes Modell für die Metall- und Elek­tro­in­dus­trie und den Öffent­li­chen Dienst vor­zu­le­gen. Die „Gefahr“ von Arbeits­kämp­fen in die­sen Bran­chen soll durch den Che­mie­ab­schluss gebannt werden.

Details des Chemie-Tarifvertrags
Bei einer offi­zi­el­len jähr­li­chen Infla­ti­ons­ra­te von der­zeit 10 Pro­zent wer­den die Tari­fent­gel­te der Che­mie­be­schäf­tig­ten Anfang 2023 und Anfang 2024 jeweils um 3,25 Pro­zent erhöht. Bei­de Stu­fen der Ent­gelt­er­hö­hung kön­nen aus „wirt­schaft­li­chen Grün­den“ jeweils um bis zu drei Mona­te ver­scho­ben wer­den. Der Tarif­ver­trag läuft bis zum Juni 2024. Da der alte Ver­trag bereits im März 2022 aus­ge­lau­fen ist, umfasst der neue einen Zeit­raum von ins­ge­samt 27 Monaten.

Das heißt kon­kret: Wer im April 2022 ein Brut­to­ein­kom­men von 3.100 Euro erhal­ten hät­te, wür­de im Som­mer 2024 ein Tarif­ein­kom­men von 3.302 Euro bezie­hen. Um bei einer durch­schnitt­li­chen Infla­ti­ons­ra­te von 10 Pro­zent gleich viel kau­fen zu kön­nen, müss­te man aber 3.880 Euro erhal­ten. Der Ver­lust beläuft sich also auf monat­lich 578 Euro. Das ent­spricht einem Brut­to­lohn­ab­bau von rund 15 Prozent!

Um die­se Absen­kung abzu­fe­dern und gleich­zei­tig auch den zu erwar­ten­den Wider­stand gegen einen sol­chen Lohn­ab­bau ein­zu­däm­men, haben die Gewerk­schaft IGBCE und der Unter­neh­mer­ver­band BAVC Ein­mal­zah­lun­gen ver­ein­bart. Sie wer­den ohne Abzü­ge für Steu­ern und Sozi­al­ver­si­che­rungs­bei­trä­ge ausbezahlt.

Für die tariffrei­en Mona­te seit April 2022 sind bereits 1.400 Euro über­wie­sen wor­den, die Unter­neh­men „in Schwie­rig­kei­ten“ aller­dings kür­zen konn­ten. Anfang 2023 und Anfang 2024 kom­men zwei wei­te­re Ein­mal­zah­lun­gen von jeweils 1.500 Euro hin­zu. Teil­zeit­be­schäf­tig­te erhal­ten einen ent- spre­chen­den Anteil, min­des­tens aber zwei- mal 500 Euro. Aus­zu­bil­den­de bekom­men je 500 Euro.

Kaschie­rung von Lohn­ab­bau
Die Ein­mal­zah­lun­gen min­dern zwar die unmit­tel­ba­ren Aus­wir­kun­gen der Infla­ti­on ins­be­son­de­re für nied­ri­ge Ein­kom­men, an der lang­fris­ti­gen Lohn­sen­kung ändern sie jedoch wegen der nicht vor­han­de­nen Tabel­len­wirk­sam­keit nichts. Selbst wenn die Infla­ti­ons­ra­te 2024 zurück­ge­hen soll­te, was alles ande­re als sicher ist, sin­ken die Prei­se nicht wie­der auf das alte Niveau. Sie stei­gen nur etwas lang­sa­mer an. Die Tarif­löh­ne fal­len dage­gen auf die Höhe vom April 2022 zurück, plus die ver­ein­bar­ten mick­ri­gen 6,5 Prozent.

Der Che­mie­ab­schluss ist das Ergeb­nis der von Olaf Scholz wie­der­be­leb­ten „Kon­zer­tier­ten Akti­on“, das heißt der engen Kol­la­bo­ra­ti­on von Gewerk­schafts­füh­run­gen, Kapi­tal­ver­bän­den und Bun­des­re­gie­rung zur „Stär­kung der Wett­be­werbs­fä­hig­keit der deut­schen Wirtschaft“.

Der Beschluss der Regie­rung, tarif­li­che Ein­mal­zah­lun­gen von Steu­ern und Sozi­al­ab­ga­ben zu befrei­en ist eben­falls ein Ergeb­nis die­ser „Kon­zer­tier­ten Akti­on“. Er wur­de nicht nur getrof­fen, um den Unter­neh­men Kos­ten zu erspa­ren. Offen­sicht­lich ging es auch dar­um, einer­seits die Zustim­mung der Gewerk­schafts­spit­zen zu mas­si­vem Lohn-abbau zu erhal­ten. Ande­rer­seits kann dadurch ein Abschluss wie in der Che­mie­bran­che den Gewerk­schafts­mit­glie­dern ein- facher als „Erfolg“ ver­kauft werden.

Den Che­mie­ab­schluss kom­men­tier­te der Vor­sit­zen­de der IGBCE, Micha­el Vas­si­lia­dis, wie folgt: „In die­ser his­to­ri­schen Aus­nah­me­si­tua­ti­on mit unge­kann­ten Infla­ti­ons­ra­ten und dro­hen­der Rezes­si­on haben die Tarif­par­tei­en Ver­ant­wor­tung für die Beschäf­tig­ten, den Indus­trie­stand­ort und die Bin­nen- nach­fra­ge zugleich über­nom­men. Der Abschluss hat Signal­wir­kung über die Bran­che hinaus.“

Dar­in ist er sich mit dem Prä­si­den­ten des Bun­des­ar­beit­ge­ber­ver­ban­des Che­mie (BAVC), Kai Beck­mann, einig. Auch das der Gewerk­schafts­nä­he unver­däch­ti­ge Han­dels­blatt bezeich­ne­te am 19.10.2022 den „geräusch­los“ zustan­de gekom­me­nen Abschluss als Blau­pau­se und beton­te den Vor­bild­cha­rak­ter auch für ande­re Branchen.

Kapi­tu­la­ti­on und Verzicht
Der mas­si­ve Lohn­ab­bau ist das Ergeb­nis der „Sozi­al­part­ner­schaft“ zwi­schen Gewerk­schafts­füh­rung, Unter­neh­men und Regie­rung. Damit ist die IGBCE nicht nur den Beschäf­tig­ten der eige­nen Bran­che, son­dern auch denen der Metall- und Elek­tro­in­dus­trie sowie des Öffent­li­chen Diensts in den Rücken gefallen.

Statt dass Gewerk­schaf­ten gemein­sam für spür­ba­re tabel­len­wirk­sa­me Ein­kom­mens­er­hö­hun­gen und für einen auto­ma­ti­sier­ten Infla­ti­ons­aus­gleich kämp­fen, wird ein Ver­zichts­kurs zu Las­ten der Beschäf­tig­ten als Per­spek­ti­ve akzep­tiert und pro­pa­giert. Dem müs­sen sich nicht nur die gewerk­schaft­lich orga­ni­sier­ten Beschäf­tig­ten der Metall- und Elek­tro­in­dus­trie sowie des Öffent­li­chen Diens­tes widersetzen.

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Novem­ber 2022
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