H. S.
Trotz (oder wegen?) der laufenden bzw. anstehenden Tarifrunden in der Metall- und Elektroindustrie sowie im Öffentlichen Dienst ist am 18. Oktober 2022 die Chemiebranche vorgeprescht. Die dortigen „Sozialpartner“ haben einen dauerhaft wirkenden massiven Lohnabbau für die ca. 580.000 Beschäftigten vereinbart.
Der Abschluss in der Chemieindustrie wurde in einer einzigen Verhand- lungsrunde und ohne Arbeitskampf- maßnahmen durchgezogen. Es ging offen- sichtlich darum, noch rechtzeitig ein vergiftetes Modell für die Metall- und Elektroindustrie und den Öffentlichen Dienst vorzulegen. Die „Gefahr“ von Arbeitskämpfen in diesen Branchen soll durch den Chemieabschluss gebannt werden.
Details des Chemie-Tarifvertrags
Bei einer offiziellen jährlichen Inflationsrate von derzeit 10 Prozent werden die Tarifentgelte der Chemiebeschäftigten Anfang 2023 und Anfang 2024 jeweils um 3,25 Prozent erhöht. Beide Stufen der Entgelterhöhung können aus „wirtschaftlichen Gründen“ jeweils um bis zu drei Monate verschoben werden. Der Tarifvertrag läuft bis zum Juni 2024. Da der alte Vertrag bereits im März 2022 ausgelaufen ist, umfasst der neue einen Zeitraum von insgesamt 27 Monaten.
Das heißt konkret: Wer im April 2022 ein Bruttoeinkommen von 3.100 Euro erhalten hätte, würde im Sommer 2024 ein Tarifeinkommen von 3.302 Euro beziehen. Um bei einer durchschnittlichen Inflationsrate von 10 Prozent gleich viel kaufen zu können, müsste man aber 3.880 Euro erhalten. Der Verlust beläuft sich also auf monatlich 578 Euro. Das entspricht einem Bruttolohnabbau von rund 15 Prozent!
Um diese Absenkung abzufedern und gleichzeitig auch den zu erwartenden Widerstand gegen einen solchen Lohnabbau einzudämmen, haben die Gewerkschaft IGBCE und der Unternehmerverband BAVC Einmalzahlungen vereinbart. Sie werden ohne Abzüge für Steuern und Sozialversicherungsbeiträge ausbezahlt.
Für die tariffreien Monate seit April 2022 sind bereits 1.400 Euro überwiesen worden, die Unternehmen „in Schwierigkeiten“ allerdings kürzen konnten. Anfang 2023 und Anfang 2024 kommen zwei weitere Einmalzahlungen von jeweils 1.500 Euro hinzu. Teilzeitbeschäftigte erhalten einen ent- sprechenden Anteil, mindestens aber zwei- mal 500 Euro. Auszubildende bekommen je 500 Euro.
Kaschierung von Lohnabbau
Die Einmalzahlungen mindern zwar die unmittelbaren Auswirkungen der Inflation insbesondere für niedrige Einkommen, an der langfristigen Lohnsenkung ändern sie jedoch wegen der nicht vorhandenen Tabellenwirksamkeit nichts. Selbst wenn die Inflationsrate 2024 zurückgehen sollte, was alles andere als sicher ist, sinken die Preise nicht wieder auf das alte Niveau. Sie steigen nur etwas langsamer an. Die Tariflöhne fallen dagegen auf die Höhe vom April 2022 zurück, plus die vereinbarten mickrigen 6,5 Prozent.
Der Chemieabschluss ist das Ergebnis der von Olaf Scholz wiederbelebten „Konzertierten Aktion“, das heißt der engen Kollaboration von Gewerkschaftsführungen, Kapitalverbänden und Bundesregierung zur „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft“.
Der Beschluss der Regierung, tarifliche Einmalzahlungen von Steuern und Sozialabgaben zu befreien ist ebenfalls ein Ergebnis dieser „Konzertierten Aktion“. Er wurde nicht nur getroffen, um den Unternehmen Kosten zu ersparen. Offensichtlich ging es auch darum, einerseits die Zustimmung der Gewerkschaftsspitzen zu massivem Lohn-abbau zu erhalten. Andererseits kann dadurch ein Abschluss wie in der Chemiebranche den Gewerkschaftsmitgliedern ein- facher als „Erfolg“ verkauft werden.
Den Chemieabschluss kommentierte der Vorsitzende der IGBCE, Michael Vassiliadis, wie folgt: „In dieser historischen Ausnahmesituation mit ungekannten Inflationsraten und drohender Rezession haben die Tarifparteien Verantwortung für die Beschäftigten, den Industriestandort und die Binnen- nachfrage zugleich übernommen. Der Abschluss hat Signalwirkung über die Branche hinaus.“
Darin ist er sich mit dem Präsidenten des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie (BAVC), Kai Beckmann, einig. Auch das der Gewerkschaftsnähe unverdächtige Handelsblatt bezeichnete am 19.10.2022 den „geräuschlos“ zustande gekommenen Abschluss als Blaupause und betonte den Vorbildcharakter auch für andere Branchen.
Kapitulation und Verzicht
Der massive Lohnabbau ist das Ergebnis der „Sozialpartnerschaft“ zwischen Gewerkschaftsführung, Unternehmen und Regierung. Damit ist die IGBCE nicht nur den Beschäftigten der eigenen Branche, sondern auch denen der Metall- und Elektroindustrie sowie des Öffentlichen Diensts in den Rücken gefallen.
Statt dass Gewerkschaften gemeinsam für spürbare tabellenwirksame Einkommenserhöhungen und für einen automatisierten Inflationsausgleich kämpfen, wird ein Verzichtskurs zu Lasten der Beschäftigten als Perspektive akzeptiert und propagiert. Dem müssen sich nicht nur die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie sowie des Öffentlichen Dienstes widersetzen.