Michael Kohler
Bereits Anfang März traten in Italien soziale Aspekte der Corona-Krise in Erscheinung. Am 10. März wurden von der italienischen Regierung die Quarantänemaßnahmen vom Norden des Landes auf ganz Italien ausgedehnt. Wo immer möglich sollte allerdings ganz normal gearbeitet und weiter produziert werden.
Unter dem Aspekt des Gesundheitsschutzes war diese Unterscheidung nicht zu begründen. Sie stieß deshalb auf Widerstand. Die Belegschaft von Fiat (heute FCA) trat in den Streik. Die Fiat-ArbeiterInnen verkündeten am 10 März: „Wenn sie die Fabriken nicht schließen, tun wir es!“ Der Streik weitete sich auf andere Unternehmen aus: Besonderer Unmut entstand, weil kein Gesundheitsschutz für die ArbeiterInnen existierte. Basisgewerkschaften formulierten: „Wir wollen zu Hause bleiben, aber sie lassen uns nicht. Die Profite können warten, aber unsere Gesundheit nicht.“ Es kam zu Aufrufen für einen landesweiten Generalstreik. Die italienische Regierung kam dem schließlich zuvor, indem sie am 21. März alle als „nicht essentiell“ definierten wirtschaftlichen Aktivitäten untersagte.
ArbeitsmigrantInnen besonders gefährdet
ArbeitsmigrantInnen sind besonders vom Corona-Virus gefährdet. Darauf machte Prälat Peter Kossen (Lengerich/NRW) aufmerksam. In Deutschland gibt es etwa 4 Millionen Werks- vertragsarbeiterInnen aus osteuropäischen Ländern. Hunderttausende von ihnen arbeiten in der Fleischindustrie. Kossen nennt sie „Wegwerfmenschen“. Sie arbeiten häufig an sechs Wochentagen bis zu 15 Stunden täglich. Sie sind körperlich und psychisch geschwächt, wohnen in menschenunwürdigen Unterkünften, sind sprachunkundig und in keiner Weise integriert. Ihre Lebensbedingungen bieten ideale Voraussetzungen für die Verbreitung der Pandemie.
Kossen kämpft seit 2013 gegen das „System Tönnies“, das auf Subsubunternehmen aufbaut. Bis zu 80 Prozent der ArbeiterInnen in den großen Schlachthöfen werden per Werkvertrag „eingekauft“. Sie sind also nur bei Sub- oder Subsubunternehmen angestellt.
Der Arzt Dr. Florian Kossen ist der Bruder von Prälat Kossen. Er behandelt täglich Menschen, die in Großschlachtereien angestellt sind. Er beschreibt sie wie folgt: „Die Totalerschöpfung dieser Menschen ist die Normalität. Dazu kommen zahlreiche Schnittverletzungen aber auch wiederholte und hartnäckige Infekte durch mangelhafte hygienische Zustände in den Unterkünften und durch gesundheitsschädliche Bedingungen an den Arbeitsplätzen.“
Unter ähnlichen Bedingungen leben andere prekär Beschäftigte, die in der Landwirtschaft, der häuslichen Pflege, als GebäudereinigerInnen oder bei Paketdiensten arbeiten.
Die Familie Tönnies hat nicht zuletzt durch das Werksvertragssystem innerhalb weniger Jahre mehrere Milliarden Euro einkassiert.
Armut als Hochrisiko …
Corona beginnt bereits weltweit, die armen Regionen besonders hart zu treffen. Anne Jung (www.medico.de/) schreibt hierzu: „Die ohnehin desaströse Situation der globalen Gesundheitsversorgung wird durch die Epidemie zur Katastrophe anwachsen.“
In vielen Ländern, in denen es weder soziale Absicherung noch funktionierende Gesundheitssysteme gibt, wird es durch Corona zu Massenarbeitslosigkeit kommen. Pakistanische Gewerkschaften berichten, dass alle Textilfabriken vor der Schließung stehen.
Die größten Befürchtungen bestehen aber für die 1,5 Milliarden Menschen in Flüchtlingslagern und in städtischen Slums. Sie können weder „zu Hause“ bleiben, noch können sie elementare Hygieneregeln einhalten. Räumlich Enge und mangelnde Wasserversorgung sind „ideale“ Bedingungen für die Ausbreitung der Pandemie.
… auch in Deutschland
Aber auch in Deutschland können ähnliche Probleme auftreten.
Unter der Überschrift „Triste Prognosen“ fragte ein Artikel in der Rheinpfalz vom 22. März 2020: „Was passiert, wenn die Corona-Epidemie im Ludwigshafener Armenhaus, dem Einweisungsbezirk in der Bayreuther Straße grassieren sollte? Die Perspektiven sind alarmierend.“ Der Autor Daniel Krauser stellt fest: „Es geht momentan ein wenig unter, aber eine Epidemie wie die gegenwärtige stellt auch eine soziale Frage, die nämlich, ob Menschen in schwierigen, prekären oder sogar gesundheitsgefährdenden Lebensverhältnissen stärker und schwerwiegender betroffen sind und wie eine Gesellschaft damit umzugehen gedenkt.“
Krauser zitiert Peter Übel, einen Internisten aus Ludwigshafen: „Kommt das Virus ins Quartier, dann droht da unter Umständen die erste Quarantänezone im Land.“
In den Unterbringungsblocks der Bayreuther Straße sind alleinstehende Männer größtenteils in Wohngemeinschaften auf engem Raum und teilweise ohne Duschmöglichkeit untergebracht. Man kann sich nicht aus dem Weg gehen. Viele Bewohner sind chronisch Kranke mit Mehrfachsymptomatik: Lungenerkrankungen, Herz-Kreislauf-Probleme, Alkoholkrankheit, psychische Probleme …
Alle, die die Verhältnisse kennen, gehen davon aus, dass die Sterberate in der Bayreuther Straße deutlich höher sein wird. Ein Arzt aus dem Umfeld, der nicht genannt werden möchte, formuliert es so: „Die Kinder werden es überleben und es wird eine Menge Waisen und Halbwaisen geben.“