Die Coro­na-Pan­de­mie als sozia­le Frage

 

Micha­el Kohler

Bereits Anfang März tra­ten in Ita­li­en sozia­le Aspek­te der Coro­na-Kri­se in Erschei­nung. Am 10. März wur­den von der ita­lie­ni­schen Regie­rung die Qua­ran­tä­ne­maß­nah­men vom Nor­den des Lan­des auf ganz Ita­li­en aus­ge­dehnt. Wo immer mög­lich soll­te aller­dings ganz nor­mal gear­bei­tet und wei­ter pro­du­ziert werden.

Graffiti in Essen. April 2020 (Foto: Avanti O.)

Graf­fi­ti in Essen. April 2020 (Foto: Avan­ti O.)

Unter dem Aspekt des Gesund­heits­schut­zes war die­se Unter­schei­dung nicht zu begrün­den. Sie stieß des­halb auf Wider­stand. Die Beleg­schaft von Fiat (heu­te FCA) trat in den Streik. Die Fiat-Arbei­te­rIn­nen ver­kün­de­ten am 10 März: „Wenn sie die Fabri­ken nicht schlie­ßen, tun wir es!“ Der Streik wei­te­te sich auf ande­re Unter­neh­men aus: Beson­de­rer Unmut ent­stand, weil kein Gesund­heits­schutz für die Arbei­te­rIn­nen exis­tier­te. Basis­ge­werk­schaf­ten for­mu­lier­ten: „Wir wol­len zu Hau­se blei­ben, aber sie las­sen uns nicht. Die Pro­fi­te kön­nen war­ten, aber unse­re Gesund­heit nicht.“ Es kam zu Auf­ru­fen für einen lan­des­wei­ten Gene­ral­streik. Die ita­lie­ni­sche Regie­rung kam dem schließ­lich zuvor, indem sie am 21. März alle als „nicht essen­ti­ell“ defi­nier­ten wirt­schaft­li­chen Akti­vi­tä­ten untersagte.

Arbeits­mi­gran­tIn­nen beson­ders gefährdet
Arbeits­mi­gran­tIn­nen sind beson­ders vom Coro­na-Virus gefähr­det. Dar­auf mach­te Prä­lat Peter Kos­sen (Lengerich/NRW) auf­merk­sam. In Deutsch­land gibt es etwa 4 Mil­lio­nen Werks- ver­trags­ar­bei­te­rIn­nen aus ost­eu­ro­päi­schen Län­dern. Hun­dert­tau­sen­de von ihnen arbei­ten in der Fleisch­in­dus­trie. Kos­sen nennt sie „Weg­werf­men­schen“. Sie arbei­ten häu­fig an sechs Wochen­ta­gen bis zu 15 Stun­den täg­lich. Sie sind kör­per­lich und psy­chisch geschwächt, woh­nen in men­schen­un­wür­di­gen Unter­künf­ten, sind sprach­un­kun­dig und in kei­ner Wei­se inte­griert. Ihre Lebens­be­din­gun­gen bie­ten idea­le Vor­aus­set­zun­gen für die Ver­brei­tung der Pandemie.

Kos­sen kämpft seit 2013 gegen das „Sys­tem Tön­nies“, das auf Sub­sub­un­ter­neh­men auf­baut. Bis zu 80 Pro­zent der Arbei­te­rIn­nen in den gro­ßen Schlacht­hö­fen wer­den per Werk­ver­trag „ein­ge­kauft“. Sie sind also nur bei Sub- oder Sub­sub­un­ter­neh­men angestellt.

Der Arzt Dr. Flo­ri­an Kos­sen ist der Bru­der von Prä­lat Kos­sen. Er behan­delt täg­lich Men­schen, die in Groß­schlach­te­rei­en ange­stellt sind. Er beschreibt sie wie folgt: „Die Tota­ler­schöp­fung die­ser Men­schen ist die Nor­ma­li­tät. Dazu kom­men zahl­rei­che Schnitt­ver­let­zun­gen aber auch wie­der­hol­te und hart­nä­cki­ge Infek­te durch man­gel­haf­te hygie­ni­sche Zustän­de in den Unter­künf­ten und durch gesund­heits­schäd­li­che Bedin­gun­gen an den Arbeitsplätzen.“

Unter ähn­li­chen Bedin­gun­gen leben ande­re pre­kär Beschäf­tig­te, die in der Land­wirt­schaft, der häus­li­chen Pfle­ge, als Gebäu­de­rei­ni­ge­rIn­nen oder bei Paket­diens­ten arbeiten.

Die Fami­lie Tön­nies hat nicht zuletzt durch das Werks­ver­trags­sys­tem inner­halb weni­ger Jah­re meh­re­re Mil­li­ar­den Euro einkassiert.

Armut als Hochrisiko …
Coro­na beginnt bereits welt­weit, die armen Regio­nen beson­ders hart zu tref­fen. Anne Jung (www.medico.de/) schreibt hier­zu: „Die ohne­hin desas­trö­se Situa­ti­on der glo­ba­len Gesund­heits­ver­sor­gung wird durch die Epi­de­mie zur Kata­stro­phe anwachsen.“

In vie­len Län­dern, in denen es weder sozia­le Absi­che­rung noch funk­tio­nie­ren­de Gesund­heits­sys­te­me gibt, wird es durch Coro­na zu Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit kom­men. Paki­sta­ni­sche Gewerk­schaf­ten berich­ten, dass alle Tex­til­fa­bri­ken vor der Schlie­ßung stehen.

Die größ­ten Befürch­tun­gen bestehen aber für die 1,5 Mil­li­ar­den Men­schen in Flücht­lings­la­gern und in städ­ti­schen Slums. Sie kön­nen weder „zu Hau­se“ blei­ben, noch kön­nen sie ele­men­ta­re Hygie­ne­re­geln ein­hal­ten. Räum­lich Enge und man­geln­de Was­ser­ver­sor­gung sind „idea­le“ Bedin­gun­gen für die Aus­brei­tung der Pandemie.

… auch in Deutschland
Aber auch in Deutsch­land kön­nen ähn­li­che Pro­ble­me auftreten.

Unter der Über­schrift „Tris­te Pro­gno­sen“ frag­te ein Arti­kel in der Rhein­pfalz vom 22. März 2020: „Was pas­siert, wenn die Coro­na-Epi­de­mie im Lud­wigs­ha­fe­ner Armen­haus, dem Ein­wei­sungs­be­zirk in der Bay­reu­ther Stra­ße gras­sie­ren soll­te? Die Per­spek­ti­ven sind alar­mie­rend.“ Der Autor Dani­el Krau­ser stellt fest: „Es geht momen­tan ein wenig unter, aber eine Epi­de­mie wie die gegen­wär­ti­ge stellt auch eine sozia­le Fra­ge, die näm­lich, ob Men­schen in schwie­ri­gen, pre­kä­ren oder sogar gesund­heits­ge­fähr­den­den Lebens­ver­hält­nis­sen stär­ker und schwer­wie­gen­der betrof­fen sind und wie eine Gesell­schaft damit umzu­ge­hen gedenkt.“

Krau­ser zitiert Peter Übel, einen Inter­nis­ten aus Lud­wigs­ha­fen: „Kommt das Virus ins Quar­tier, dann droht da unter Umstän­den die ers­te Qua­ran­tä­ne­zo­ne im Land.“

In den Unter­brin­gungs­blocks der Bay­reu­ther Stra­ße sind allein­ste­hen­de Män­ner größ­ten­teils in Wohn­ge­mein­schaf­ten auf engem Raum und teil­wei­se ohne Dusch­mög­lich­keit unter­ge­bracht. Man kann sich nicht aus dem Weg gehen. Vie­le Bewoh­ner sind chro­nisch Kran­ke mit Mehr­fach­sym­pto­ma­tik: Lun­gen­er­kran­kun­gen, Herz-Kreis­lauf-Pro­ble­me, Alko­hol­krank­heit, psy­chi­sche Probleme …

Alle, die die Ver­hält­nis­se ken­nen, gehen davon aus, dass die Ster­be­ra­te in der Bay­reu­ther Stra­ße deut­lich höher sein wird. Ein Arzt aus dem Umfeld, der nicht genannt wer­den möch­te, for­mu­liert es so: „Die Kin­der wer­den es über­le­ben und es wird eine Men­ge Wai­sen und Halb­wai­sen geben.“

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar April 2020
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