17. Weltkongreß der IV. Internationale (März 2018)
Zum Gedenken an Berta Cáceres, die indigene Aktivistin, Ökologin und Feministin aus Honduras, die am 3._März 2016 von Handlangern der multinationalen Konzerne ermordet wurde, und zum Gedenken an die Märtyrer*innen in den Kämpfen um Umweltgerechtigkeit.
1. Einleitung
1.1. Der Druck, den die Menschheit auf das Erdsystem ausübt, wächst seit den 1950er Jahren immer schneller. Zu Beginn dieses Jahrhunderts hat er ein äußerst alarmierendes Niveau erreicht und wächst in fast allen Bereichen weiter. Schwellenwerte werden in einigen Bereichen bereits überschritten, insbesondere die der Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre. Dieser zunehmende quantitative Druck, der überall beobachtet werden kann, führt zu einer qualitativen Verschiebung, die abrupt (innerhalb weniger Jahrzehnte) und weitgehend irreversibel werden kann. Das Erdsystem würde dann in einen neuen dynamischen Gleichgewichtszustand eintreten, der durch ganz andere geophysikalische Bedingungen und eine noch stärkere Abnahme seines biologischen Reichtums gekennzeichnet wäre. Abgesehen von den Konsequenzen für andere Lebewesen, würde der Übergang zu diesem neuen Zustand zumindest das Leben von Hunderten Millionen armer Menschen gefährden, insbesondere von Frauen, Kindern und älteren Menschen. Schlimmstenfalls jedoch könnte der weltweite ökologische Kollaps zum Untergang unserer Spezies führen.
1.2. Die Gefahr steigt von Tag zu Tag, aber die Katastrophe kann abgewendet oder zumindest begrenzt und eingedämmt werden. Nicht die menschliche Existenz überhaupt ist die entscheidende Ursache der Bedrohung, sondern deren gesellschaftliche Produktion- und Reproduktionsweise, die auch die Verteilungs- und Konsumtionsweise und die kulturellen Werte einschließt. Das seit etwa zwei Jahrhunderten herrschende System – der Kapitalismus – ist nicht nachhaltig, da der Wettbewerb um den Profit, seine treibende Kraft, eine blinde Tendenz zu grenzenlosem quantitativem Wachstum impliziert, das mit den begrenzten Rohstoff- und Energiereserven der Erde nicht vereinbar ist. Die Länder des „real existierenden Sozialismus“ waren im 20. Jahrhundert nicht in der Lage, eine Alternative zur produktivistischen Umweltzerstörung anzubieten, zu der sie auch in bedeutendem Maße beigetragen haben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht die Menschheit erstmals unter dem Zwang, ihre weitere Entwicklung in allen Bereichen so zu kontrollieren, dass sie mit den Grenzen und der Unversehrtheit der Umwelt, in der sie sich bisher entwickelt hat, vereinbar ist. Kein politisches Programm kann diese Schlussfolgerungen der wissenschaftlichen Studien zum „globalen Wandel“ ignorieren. Im Gegenteil, jede Politik muss vor allem danach beurteilt werden, ob sie dieses Risiko erkennt, welche grundlegenden Antworten sie darauf gibt, ob diese Lösungsvorschläge mit den Grundforderungen der Menschenwürde vereinbar sind, und wie sie sich zu den übrigen Punkten in ihrem Programm, besonders in sozial- und wirtschaftspolitischer Hinsicht, verhalten.
2. Eine tiefe Kluft zwischen der Dringlichkeit einer radikalen ökosozialistischen Alternative auf der einen Seite und dem Kräfteverhältnis und dem Stand des Bewusstseins auf der anderen Seite.
2.1. Ein ganz anderes Verhältnis der Menschheit zur Umwelt ist dringend notwendig, das auf einem respektvollen Umgang mit Mensch und Umwelt basiert. Dies wird nicht einfach das Ergebnis individueller Verhaltensänderungen sein, sondern bedarf vielmehr einer strukturellen Veränderung in den Beziehungen zwischen den Menschen: der totalen und globalen Beseitigung des Kapitalismus als gesellschaftlicher Produktionsweise. Dessen komplette Beseitigung ist in der Tat die notwendige Voraussetzung für eine vernünftige, wirtschaftliche und umsichtige Handhabung der natürlichen Ressourcen durch die Menschheit als Teil dieser Natur. Wissenschaften und Technologien können dieses Management erleichtern, aber nur unter der Bedingung, dass ihre Entwicklung nicht dem Diktat des kapitalistischen Profits unterworfen ist.
2.2. Der grüne Kapitalismus und das Pariser Abkommen bieten keine Möglichkeit, der Umweltzerstörung im Allgemeinen und den Gefahren der Klimaleugnung im Besonderen zu entrinnen. Die Alternative kann nur aus einer weltweiten Politik kommen, die die wirklichen menschlichen Bedürfnisse befriedigt. Diese dürfen nicht vom Markt diktiert werden, sondern ergeben sich aus einer demokratischen Diskussion, die es den Menschen ermöglicht, ihr Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen, sich aus der Entfremdung durch die Warenproduktion zu befreien und den für die Funktionsweise des Kapitalismus typischen Zwang zu immer mehr Produktion und Kapitalakkumulation zu durchbrechen.
2.3. Die Kernpunkte dieser Alternative sind:
1. Die Vergesellschaftung des Energiesektors: Nur so kann man aus den fossilen Energien aussteigen, die Kernenergie stoppen, die Produktion / den Verbrauch von Energie radikal reduzieren und den Übergang zu einem erneuerbaren, dezentralisierten und effizienten Energiesystem nach ökologischen und sozialen Erfordernissen so schnell wie möglich verwirklichen.
2. Die Vergesellschaftung des Kreditsektors: Diese ist angesichts der Verflechtung des Energie- und des Finanzsektors bei großen und langfristigen Investitionen unerlässlich, aber auch um die Investitionen in die Energiewende überhaupt finanzieren zu können.
3. Die Abschaffung des Privateigentums an natürlichen Ressourcen (Land, Wasser, Wälder, Wind, Sonnenenergie, Erdwärme, Meeresressourcen) und Forschung und Wissen.
4. Die Vernichtung aller Waffenbestände, die Abschaffung nutzloser (Waffen etc.) oder schädlicher Produktionszweige (Petrochemie, Atomenergie) und die Produktion von demokratisch ermittelten Gebrauchswerten anstelle von Tauschwerten.
5. Eine gemeinwohlorientierte und demokratische Bewirtschaftung der Ressourcen im Dienste der wirklichen menschlichen Bedürfnisse unter Erhaltung und Wahrung der Regenerationsfähigkeit der Ökosysteme.
6. Die Abschaffung aller Formen von Ungleichheit und Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder sexueller Vorlieben; die Emanzipation aller Unterdrückten, insbesondere die Emanzipation der Frauen und farbigen Menschen.
7. Die Abschaffung der Fließbandarbeit und der entfremdeten Arbeit in der Warenproduktion, die im Gegensatz zur freien Betätigung und Gestaltung der Freizeit des Menschen steht.
8. Eine langfristige sozioökonomische Politik, die darauf abzielt, die städtische und ländliche Bevölkerung wieder ins Gleichgewicht zu bringen und den Gegensatz zwischen Stadt und Land zu überwinden.
2.4. Es gibt eine tiefe Kluft zwischen dieser objektiv notwendigen Alternative auf der einen Seite und den gegenwärtigen sozialen Kräfteverhältnissen und dem Bewusstseinsstand auf der anderen Seite. Diese Kluft kann nur durch konkrete Kämpfe der Ausgebeuteten und Unterdrückten zur Verteidigung ihrer Lebensbedingungen und der Umwelt geschlossen werden. Indem sie Sofortforderungen durchsetzen, werden sich zunehmend größere Schichten radikalisieren und ihre Kämpfe werden zusammenwachsen. Sie werden Übergangsforderungen formulieren, die mit der kapitalistischen Logik unvereinbar sind.
Einige wichtige Forderungen in diesem strategischen Rahmen sind:
1. Ausstieg aus dem fossilen Brennstoffsektor, Stopp von Subventionen für die Entwicklung von Projekten, die auf fossiler Energie und dem Transportverkehr auf der Grundlage von Verbrennungsmotoren basieren, gegen öffentlich-private Partnerschaften, die heute den Energiesektor weltweit dominieren.
2. Gegen alle extraktivistischen Projekte, vor allem die Neuerschließung von Schiefergasvorkommen und Ölquellen (Fracking) sowie nutzlose Großprojekte im Interesse des fossilen Sektors (Flughäfen, Autobahnen usw.).
3. Stopp der Atomenergie, Ende der Ausbeutung von Kohle, Teersand und Braunkohle.
4. Unterstützung von Volksbildungsprogrammen zur ökologischen Nachhaltigkeit.
5. Ablehnung jeder kapitalistischen Aneignung von Land und Meer und deren Ressourcen.
6. Verteidigung von Frauenrechten, angefangen mit dem Kampf gegen alle Versuche, Entscheidungen von Frauen über ihre Fortpflanzungs fähigkeit zu kriminalisieren. Kostenlose Abtreibung und Empfängnisverhütung auf Verlangen, bezahlt vom Sozialversicherungs- / Gesundheitssystem. Die Betreuung von Jungen, Kranken und Alten darf keine rein weibliche Aufgabe sein und muss als gemeinschaftliche Aufgabe anerkannt werden.
7. Anerkennung des Rechts der Ureinwohner*innen / indigenen Völker auf Selbstbestimmung, Anerkennen ihrer traditionellen Kenntnisse und ihres nachhaltigen Managements der Ökosysteme.
8. Flüchtlingsstatus für die Opfer von ökologischen und Klimakatastrophen, uneingeschränkte Achtung der demokratischen Rechte der Flüchtlinge, einschließlich der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit.
9. Gewährleistung gut funktionierender und existenzsichernder sozialer Sicherungssysteme für alle Menschen einschließlich auskömmlicher Renten.
10. Abschaffung aller multi- und bilateralen Freihandelsabkommen, Herausnahme umweltfreundlicher Technologien aus dem GATT.
11. Einhaltung aller Verpflichtungen des Green Fund (100 Milliarden US-Dollar pro Jahr) in Form von Zuschüssen und nicht von Darlehen. Öffentliche Verwaltung des Green Fund nicht durch die Weltbank, sondern von Vertretern der Länder des Südens unter der Kontrolle von sozialen Verbänden und Bewegungen.
12. Besteuerung des internationalen Luft- und Schiffsverkehrs; das Aufkommen dieser Steuer sollte als (Teil-)Kompensation der ökologischen Schuld direkt an die Länder des Südens gehen.
13. Anerkennung der ökologischen Schulden gegenüber den Ländern des Südens. Außer für Kleinanleger entschädigungslose Streichung der öffentlichen Schulden, die vom Imperialismus verwendet wurden, um ein ungerechtes und unhaltbares Entwicklungsmodell durchzusetzen.
14. Besteuerung von Finanztransaktionen und Umsetzung einer steuerlichen Umverteilungsreform, so dass Kapitaleigentümer*innen und ihre Erben für die Energiewende zahlen.
15. Abschaffung des Patentsystems, insbesondere sofortiges Verbot aller Patente auf (auch pflanzliche) Lebewesen und auf Technologien zur Energieumwandlung und -speicherung. Schluss mit dem Diebstahl von überliefertem Wissen der indigenen Völker, insbesondere durch pharmazeutische Unternehmen.
16. Reorganisierung der öffentlichen Forschung, Beendigung aller Vorkehrungen, die die Forschung der Industrie unterstellen.
17. Förderung der Ernährungssouveränität und des Schutzes der Biodiversität durch Agrarreformen.
18. Umstellung auf ökologische, regionale und bäuerliche Landwirtschaft ohne Gentechnik oder Pestizide und ihre Anerkennung als ein öffentliches Gut.
19. Beendigung der industriellen Tierzucht, starke Reduzierung der Produktion und des Konsums von Fleisch. Respektierung des Tierwohls.
20. Verbot von Werbung. Einführung von Recycling, Wiederverwendung und Reduzierung. Schluss mit dem vom Kapital aufgezwungenen konsumistischen, verschwenderischen und energieintensiven Modell.
21. Kostenlose Bereitstellung von Energie und Wasser für das Grundbedürfnis und, jenseits dieser Schwelle, Festlegung verbrauchsabhängiger, stark progressiver Tarife, um Verschwendung zu bekämpfen und gleichzeitig die Grundversorgung zu sichern. Entwicklung einer Strategie zur Ausweitung der kostenlosen Vergabe von Gütern (Grundnahrungsmittel) und Dienstleistungen (öffentlicher Verkehr, Bildung, Gesundheitsfürsorge usw.).
22. Beschäftigte, deren Unternehmen im Rahmen der Energiewende geschlossen werden, sollen das Recht haben, eine Produktionsumstellung vorzuschlagen, die notwendig ist, um eine nachhaltige Infra- struktur aufzubauen. Wenn diese Pläne unrealistisch sind: Erhalt der sozialen Rechte auf Umschulung, auf einen neuen Arbeitsplatz oder den Ruhestand.
23. Aufbau öffentlicher oder genossenschaftlicher Unternehmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Umsetzung der ökologischen Wende, unabhängig vom Profit, unter Kontrolle von Beschäftigten und Bürgern (insbesondere in den Bereichen Stromerzeugung, Wasserversorgung, Errichtung / Isolierung / Sanierung von Gebäuden, Mobilität von Menschen durch Ausstieg aus dem Autofixierten System, Recycling von Abfällen und Reparatur von Ökosystemen).
24. Generelle und radikale Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich und niedrigeren Arbeitstakten, proportionale Neueinstellungen (ins besondere von Jugendlichen, Frauen und Angehörigen von Minderheiten). Zugleich mit der Entwicklung des öffentlichen Sektors ist dies der beste Weg, um die Verringerung der Produktion von Gütern und des Energieverbrauchs einerseits, eine Vollbeschäftigung und eine demokratisch betriebene Wende andererseits miteinander in Einklang zu bringen.
25. Garantie des Rechts der Beschäftigten, sich zu organisieren und Kontrolle am Arbeitsplatz auszuüben, insbesondere hinsichtlich Gesundheitsschutz, Produktnachhaltigkeit, Produktionseffizienz etc., Schutz von Whistleblowern.
26. Reform von städtischen Gebieten mit dem Ziel, die Bodenspekulation zu brechen, die Zweckentfremdung der Böden aufzuheben (durch Förderung von Gemeinschaftsgärten und städtischer Landwirtschaft, Wiederherstellung von in den städtischen Rahmen eingebetteten Biotopen) und ihre Befreiung vom Auto zugunsten des öffentlichen Verkehrs und der sanften Mobilität (Schaffung von Fußgänger- und Radfahrerzonen).
2.5. Dieses Programm ist nicht erschöpfend. Es soll und wird durch konkrete Kämpfe bereichert werden. Aus ökosozialistischer Perspektive geht es hierbei darum, dass die Wende prinzipiell gerecht vonstattengeht: ökologische und soziale Gerechtigkeit, eine wohl gemeinsame, aber dennoch unterschiedlich starke Verantwortung, Kampf gegen die Ungleichheiten und für eine Verbesserung der Lebensbedingungen, gegen den grünen Kolonialismus und Umweltrassismus, Priorität für kollektive Lösungen, Internationalismus und das Vorsorgeprinzip. Vor allem aber geht es um die Emanzipation der Ausgebeuteten und Unterdrückten durch Demokratie, Dezentralisierung, Kontrolle und kollektive Aneignung oder Wiederaneignung der Gemeingüter. Was solche Gemeingüter sind, ergibt sich im Verlauf dieses gesellschaftlichen Demokratisierungsprozesses. Es sind nicht per se bestimmte Dinge „Gemeingüter“ und andere per se zur privaten Aneignung bestimmt.
Die oben genannten Forderungen stellen daher keine universal gültige Antwort dar. Sie zeigen im Groben den Weg zu einer antikapitalistischen, internationalistischen, ökosozialistischen und ökofeministischen Gesellschaft, die alle Tätigkeitsbereiche (Produktion, Verteilung, Konsum) verändern und von einem tiefgreifenden Wandel der kulturellen Werte begleitet sein wird. Sie lassen sich getrennt anwenden, aber ein Ende der Krise ist nur durch ihre koordinierte und geplante Anwendung möglich. Diese Maßnahmen bilden ein zusammenhängendes Ganzes, das mit dem normalen Funktionieren des kapitalistischen Systems unvereinbar ist. Es gibt keinen anderen Weg und keine Abkürzung im Umgang mit der Dringlichkeit der Situation.