Die Ver­tei­di­gung der Kauf­kraft der Arbei­ter gegen Infla­ti­on und hohe Lebenshaltungskosten.

 

Ernest Man­del


Redak­tio­nel­le Vorbemerkung
Der fol­gen­de Auf­satz unse­res lei­der viel zu früh ver­stor­be­nen Genos­sen Ernest Man­del (1927 - 1995) ist ursprüng­lich in der fran­zö­sisch­spra­chi­gen Zeit­schrift Qua­triè­me Inter­na­tio­na­le, Nr. 18 - 19 von Novem­ber - Dezem­ber 1974 erschienen.

Man­del befasst sich in die­sem Text mit den Ursa­chen und der Funk­ti­on der Infla­ti­on im Kapi­ta­lis­mus. Er betont, „dass es kei­ne Mög­lich­keit gibt, die Infla­ti­on zu stop­pen, ohne das kapi­ta­lis­ti­sche Regime abzu­schaf­fen“. Scharf kri­ti­siert er die pro­ka­pi­ta­lis­ti­sche Behaup­tung, ein Stop­pen der Infla­ti­on sei nur durch „Lohn­zu­rück­hal­tung“ der „Arbeit­neh­mer­schaft“ möglich.

Man­del unter­streicht die Bedeu­tung der „glei­ten­den Lohn­ska­la“, das heißt der auto­ma­ti­schen Anpas­sung der Löh­ne an die Preis­stei­ge­run­gen. Nur sie kön­ne eine wirk­sa­me Ver­tei­di­gung der Kauf­kraft der Arbei­ter gegen die Fol­gen von Infla­ti­on und hohen Lebens­hal­tungs­kos­ten darstellen.

Wir haben die vor­lie­gen­de Über­set­zung aus dem Fran­zö­si­schen redak­tio­nell über­ar­bei­tet, jedoch die dama­li­ge Wort­wahl beibehalten.

H. N. (26. Sep­tem­ber 2022)


Die per­ma­nen­te Infla­ti­on ist eines der Haupt­merk­ma­le des unter­ge­hen­den Kapi­ta­lis­mus. Durch den Ein­satz von Infla­ti­ons­tech­ni­ken ver­sucht der heu­ti­ge Kapi­ta­lis­mus zu ver­hin­dern, dass sich die unver­meid­li­chen peri­odi­schen Wirt­schafts­kri­sen (heu­te scham­haft „Rezes­sio­nen“ genannt) in Kri­sen kata­stro­pha­len Aus­ma­ßes wie 1929 - 1932 ver­wan­deln. Mit der Mani­pu­la­ti­on der Infla­ti­on der Unter­neh­mens­kre­di­te durch das Ban­ken­sys­tem sichern sich die gro­ßen Mono­po­le die finan­zi­el­len Mit­tel, die sie für ihre immer gigan­ti­sche­ren Inves­ti­ti­ons­vor­ha­ben benö­ti­gen. Durch Ankur­be­lung der Ver­brau­cher­kre­ditin­fla­ti­on (Ver­käu­fe auf Kre­dit) ver­sucht das Groß­ka­pi­tal, den Absatz der Waren­ber­ge zu erleich­tern, die es pro­du­zie­ren lässt, ohne die Real­löh­ne der Arbei­ter im erfor­der­li­chen Maße zu erhö­hen. Durch die stän­di­ge Aus­wei­tung der unpro­duk­ti­ven Aus­ga­ben des bür­ger­li­chen Staa­tes (vor allem der Mili­tär­aus­ga­ben) sichern sich die Mono­po­le die not­wen­di­gen Auf­trags­bü­cher, um die Pro­fi­te der Schwer­indus­trie-Trusts zu sichern.

Es wäre ver­geb­lich, den „Haupt“-Verantwortlichen für die Infla­ti­on benen­nen zu wol­len: die Pro­fit­gier der Indus­trie­mo­no­po­le? Das Gewinn­stre­ben und damit die Kre­dit­aus­wei­tung der Ban­ken? Die Poli­tik der bür­ger­li­chen Regie­run­gen? Das Wett­rüs­ten? All das gehört zusam­men, all die­se Aspek­te des zeit­ge­nös­si­schen Kapi­ta­lis­mus sind eng mit­ein­an­der ver­knüpft. Es bedeu­tet, gefähr­li­che Illu­sio­nen zu ver­brei­ten, wenn man den Arbei­tern weis­ma­chen will, dass der Dra­che Infla­ti­on nie­der­ge­run­gen wird, wenn man „den Mono­po­len unter­ge­ord­ne­te“ Finanz­mi­nis­ter durch „fort­schritt­li­che“ Finanz­mi­nis­ter ersetzt; wenn man nur kon­se­quent „die Poli­tik der Ent­span­nung und Abrüs­tung“ prak­ti­ziert; wenn man „die Gewinn­span­nen redu­ziert“ etc.

Die zwei­fel­los unan­ge­nehm zu hören­de Wahr­heit ist, dass es kei­ne Mög­lich­keit gibt, die Infla­ti­on zu stop­pen, ohne das kapi­ta­lis­ti­sche Regime abzu­schaf­fen. Die ein­zi­gen Bedin­gun­gen, unter denen der heu­ti­ge Kapi­ta­lis­mus die Infla­ti­on allen­falls mäßi­gen könn­te, wären für die Arbei­ter­klas­se ver­hee­ren­de Bedin­gun­gen: Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit und Lohn­stopps. Die Erfah­rung hat jedoch gelehrt, dass selbst in die­sem Fall die infla­tio­nä­re Höl­len­ma­schi­ne nur ver­lang­samt und nicht end­gül­tig zum Still­stand gebracht würde.

Beson­ders ver­derb­lich ist die von bür­ger­li­chen Exper­ten ver­brei­te­te und von einem refor­mis­ti­schen Flü­gel der Arbei­ter­be­we­gung über­nom­me­ne The­se, dass die Arbei­ter Opfer brin­gen müss­ten, um die Infla­ti­on zu stop­pen, da sie von ihr mehr als jede ande­re Klas­se der Gesell­schaft betrof­fen sei­en. Die­se Mys­ti­fi­zie­rung führt zu kon­kre­ten Vor­schlä­gen: Ein­kom­mens­po­li­tik, auto­ri­tä­re (oder mit Zustim­mung der Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie) Begren­zung der Nomi­nal­lohn­er­hö­hun­gen, Kon­trol­le über die Lohn­er­hö­hun­gen ver­bun­den mit einer „Kon­trol­le“ über die Ein­kom­men gro­ßer und klei­ner Bos­se (der soge­nann­ten Selbst­stän­di­gen) und über die Preise.

In der Pra­xis kön­nen die Löh­ne vom bür­ger­li­chen Staat nur dann effek­tiv kon­trol­liert wer­den, wenn Gewerk­schaf­ten und arbei­ten­de Mas­sen das mit sich machen las­sen. Aber kei­ne kapi­ta­lis­ti­sche Regie­rung hat es bis­her geschafft, die Prei­se oder die Unter­neh­mer­pro­fi­te effek­tiv zu kon­trol­lie­ren. In der kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schaft ver­fügt die Bour­geoi­sie näm­lich über tau­send Instru­men­te, um ihre Bilan­zen zu fäl­schen, die Pro­fi­te zu mani­pu­lie­ren und die Prei­se trotz aller gesetz­li­chen Maß­nah­men zur „Blo­ckie­rung“ in die Höhe zu trei­ben. Außer­dem ver­fügt sie über tau­send Seil­schaf­ten inner­halb des bür­ger­li­chen Staats­ap­pa­rats, um all­zu pein­li­che Kon­troll­maß­nah­men von oben „abzu­mil­dern“ oder „auf­zu­wei­chen“.

Die Bour­geoi­sie und ihre Ideo­lo­gen sind übri­gens selbst zutiefst von der Sinn­lo­sig­keit von „Preis­kon­trol­len“ über­zeugt, da die­se gegen „die öko­no­mi­schen Geset­ze“ (die Geset­ze des Mark­tes, d. h. die Pro­fit- und Wett­be­werbs­lo­gik des kapi­ta­lis­ti­schen Regimes) ver­sto­ßen würden.

Das Schreck­ge­spenst der „Preis- und Gewinn­kon­trol­le“ wird von ihnen nur benutzt, um die Arbei­ter zu täu­schen und sie dazu zu brin­gen, ihr Erst­ge­burts­recht – die Frei­heit, mit den Kapi­tal­ver­tre­tern über Löh­ne zu ver­han­deln, indem sie ihre kol­lek­ti­ve Orga­ni­sa­ti­ons­kraft in die Waag­scha­le wer­fen – gegen ein Lin­sen­ge­richt ein­zu­tau­schen. Begrenz­te Maß­nah­men der „Preis­kon­trol­le“ die­nen manch­mal bes­ten­falls dazu, die kapi­ta­lis­ti­sche Kon­zen­tra­ti­on zu beschleu­ni­gen, d. h. die Besei­ti­gung der klei­nen Bos­se zuguns­ten der großen.

Die Infla­ti­on ist zwei­fel­los ein Übel, des­sen Aus­wir­kun­gen die Arbei­ter tref­fen. Aber die Arbei­ter dür­fen sich nicht irre­füh­ren und vom Wesent­li­chen ablen­ken las­sen. Wer die unmit­tel­ba­ren Inter­es­sen der Arbei­ter­klas­se auf dem Altar des „Kamp­fes gegen die Infla­ti­on“ opfert, macht sich zum Kom­pli­zen eines Ver­fah­rens, das das Natio­nal­ein­kom­men auf Kos­ten der Löh­ne und der Arbeit­neh­mer umver­teilt, um die kapi­ta­lis­ti­schen Pro­fi­te zu stei­gern. Jede Ein­kom­mens­po­li­tik, die vor­gibt, Löh­ne, Prei­se und Pro­fi­te „gleich­zei­tig“ zu kon­trol­lie­ren, ver­wan­delt sich im Kapi­ta­lis­mus unwei­ger­lich in eine rei­ne Lohn­po­li­zei. Sol­che „Infla­ti­ons­be­kämp­fung“ müs­sen Arbei­ter und Gewerk­schaf­ten vor­be­halt­los und bedin­gungs­los ableh­nen, denn sie ist eine Waf­fe des Klas­sen­kamp­fes des Kapi­tals gegen die Arbeit.

Die Infla­ti­on wird end­gül­tig ein­ge­dämmt, wenn der Kapi­ta­lis­mus zer­schla­gen wird, wenn die Arbei­ter alle poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Macht besit­zen. Bis dahin geht es nicht dar­um, die Inter­es­sen der Beschäf­tig­ten im Namen eines abs­trak­ten Prin­zips („Min­de­rung der Infla­ti­on“) zu opfern, son­dern dar­um, die Kauf­kraft der Arbei­ter gegen die Aus­wir­kun­gen der Infla­ti­on zu ver­tei­di­gen. Dies ist das Gebot der Stun­de für die Gewerk­schaf­ten und die arbei­ten­den Mas­sen, die mit dem Phä­no­men der „per­ma­nen­ten Infla­ti­on“ kon­fron­tiert sind.

Da die­se Infla­ti­on dem unter­ge­hen­den Kapi­ta­lis­mus inhä­rent ist, wol­len die Kapi­ta­lis­ten trotz all ihrer Anti-Infla­ti­ons­si­mu­la­tio­nen nur eines: dass die Vor­tei­le der Infla­ti­on in die Tre­so­re der Bos­se und der Bour­geoi­sie gera­ten und dass die Kos­ten der Infla­ti­on von den Arbei­tern und den werk­tä­ti­gen Mas­sen bezahlt werden.

Die Hal­tung der Arbei­ter­klas­se und der Orga­ni­sa­tio­nen, die sich auf sie beru­fen, soll­te genau das Gegen­teil die­ser beharr­li­chen und oft erfolg­rei­chen Bemü­hun­gen des Kapi­tals sein. Sie soll­ten vor allem dar­auf abzie­len, sich zu wei­gern, die Kos­ten der Infla­ti­on zu tra­gen, und die Real­löh­ne und Real­ein­kom­men der Arbei­ter vor allen direk­ten und indi­rek­ten Aus­wir­kun­gen der Infla­ti­on zu schützen.

Die glei­ten­de Lohn­ska­la als ein­zi­ge wirk­sa­me Waf­fe gegen die Inflation.
Seit ihrer Grün­dung im Jahr 1938 ver­tritt die IV. Inter­na­tio­na­le die Auf­fas­sung, dass nur die glei­ten­de Lohn­ska­la eine wirk­sa­me Ver­tei­di­gung der Kauf­kraft der Arbei­ter gegen die Fol­gen von Infla­ti­on und hohen Lebens­hal­tungs­kos­ten darstellt.

Die­se Idee, die lan­ge Zeit von Refor­mis­ten und Ultra­lin­ken gleich­zei­tig bekämpft wur­de, bahnt sich ihren Weg in die Arbei­ter­klas­se und die Gewerk­schafts­be­we­gung auf der gan­zen Welt. Es lie­ßen sich unzäh­li­ge Bei­spie­le für Kämp­fe zur Errin­gung der glei­ten­den Lohn­ska­la anfüh­ren, sei es auf der Ebe­ne ein­zel­ner Unter­neh­men, auf der Ebe­ne von Indus­trie­zwei­gen oder auf natio­na­ler, bran­chen­über­grei­fen­der Ebe­ne. Es ist eine Tat­sa­che: Die prak­ti­sche Erfah­rung der Infla­ti­on zeigt den Arbei­tern, dass die Ver­tei­di­gung und der Schutz ihrer Kauf­kraft durch die glei­ten­de Lohn­ska­la die ers­te und unver­zicht­ba­re Reak­ti­on der Selbst­ver­tei­di­gung auf die immer stär­ker wer­den­de Preis­explo­si­on darstellt.

Das Argu­ment, dass die glei­ten­de Lohn­ska­la die Arbei­ter „demo­bi­li­sie­ren“ wür­de, indem sie den jähr­li­chen Kämp­fen um Lohn­er­hö­hun­gen den Anreiz nimmt, wird durch die Pra­xis wider­legt. Län­der wie Ita­li­en oder Bel­gi­en, in denen die glei­ten­de Lohn­ska­la ganz oder teil­wei­se ange­wen­det wird, sind sicher­lich kei­ne Län­der, in denen die Zahl der Streiks und For­de­rungs­kämp­fe gerin­ger ist als in Län­dern, in denen die Arbei­ter noch nicht in den Genuss der glei­ten­den Lohn­ska­la kommen.

In Wirk­lich­keit ersetzt die glei­ten­de Ska­la der Löh­ne kei­nes­wegs den Kampf um Lohn­er­hö­hun­gen. Im Gegen­teil, sie schafft gera­de die Bedin­gun­gen, um einen sol­chen Kampf zu ermög­li­chen. Was heu­te „Kampf um Lohn­er­hö­hun­gen“ genannt wird, war in der Zeit der per­ma­nen­ten Infla­ti­on in neun von zehn Fäl­len ein Kampf, um den Rück­stand der Löh­ne gegen­über dem Anstieg der Lebens­hal­tungs­kos­ten auf­zu­ho­len, d. h. ein Kampf, um die Kauf­kraft der Löh­ne wie­der­her­zu­stel­len und nicht zu erhö­hen. Wenn die­se Wie­der­her­stel­lung durch Ver­trä­ge, die die Lohn­ska­la garan­tie­ren, auto­ma­tisch erfolgt, kann der Kampf für eine ech­te Erhö­hung der Kauf­kraft erst rich­tig beginnen.

Die Erfah­rung mit zahl­rei­chen Kol­lek­tiv­ver­trä­gen in vie­len Indus­trie­zwei­gen meh­re­rer Län­der zeigt, dass in einer Zeit der per­ma­nen­ten und beschleu­nig­ten Infla­ti­on jede Ver­zö­ge­rung bei der Anpas­sung der Löh­ne an die Lebens­hal­tungs­kos­ten einen Kauf­kraft­ver­lust für die Arbei­ter bedeu­tet. Das Insti­tut für Wirt­schafts- und Sozi­al­stu­di­en an der sehr katho­li­schen Uni­ver­si­tät Löwen hat errech­net, dass die bel­gi­schen Arbei­ter, obwohl sie den Vor­teil der glei­ten­den Lohn­ska­la genie­ßen, in den letz­ten zwei Jah­ren immer­hin 3 % ihrer Kauf­kraft ver­lo­ren haben, weil die Anpas­sung der Löh­ne an den Preis­in­dex mit Ver­zö­ge­rung erfolgt.

Eine sol­che auto­ma­ti­sche Anpas­sung jedes Mal, wenn die Prei­se über eine aus­ge­han­del­te Schwel­le stei­gen (z. B. 2 % oder 2,5 % – in Groß­bri­tan­ni­en „thres­hold agree­ments“ genannt), ist zwar ein Schritt auf dem Weg zu einer glei­ten­den Ska­la, der nicht zu ver­ach­ten ist. Aber es ist noch kei­ne effek­ti­ve glei­ten­de Ska­la im eigent­li­chen Sin­ne. Die Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter könn­ten dop­pelt ver­lie­ren. Ers­tens, weil Preis­er­hö­hun­gen unter­halb der Band­brei­te (z. B. 1,7 % bei einer Band­brei­te von 2 % oder 2,2 % bei einer Band­brei­te von 2,5 %) nicht zu Lohn­er­hö­hun­gen füh­ren, obwohl sie einen Kauf­kraft­ver­lust für die Arbei­ter bedeu­ten. Zwei­tens, weil sie eine ech­te „Ein­la­dung“ an die bür­ger­li­chen Regie­run­gen und Staats­ap­pa­ra­te dar­stellt, den offi­zi­el­len Ver­brau­cher­preis­in­dex zu mani­pu­lie­ren, um ihn ein wenig unter­halb der Schwel­le zu hal­ten, die eine auto­ma­ti­sche Anpas­sung der Löh­ne und Gehäl­ter auslöst.

Eine ech­te glei­ten­de Lohn­ska­la bedeu­tet also, dass die Nomi­nal­löh­ne jeden Monat auto­ma­tisch an jede Preis­er­hö­hung ange­passt wer­den, ohne dass es irgend­wel­che Stu­fen gibt. Auf die­se Wei­se kann die gesam­te Kauf­kraft der Arbei­ter erhal­ten blei­ben. Dies wur­de in den letz­ten Lohn­ver­hand­lun­gen unter ande­rem von den Beschäf­tig­ten der Buch­druck­bran­che und der Gas- und Elek­tri­zi­täts­wirt­schaft in Bel­gi­en erreicht.

Glei­ten­de Lohn­ska­la und Steu­ern, glei­ten­de Lohn­ska­la und Ungleichheit.
Um die­se gesam­te Kauf­kraft voll­stän­dig zu erhal­ten, müs­sen wir jedoch noch die Aus­wir­kun­gen der Besteue­rung auf die Kauf­kraft der Arbei­ter berück­sich­ti­gen. Frü­her ver­trat die Arbei­ter­be­we­gung die The­se, dass indi­rek­te Steu­ern vor allem die Gering­ver­die­ner tref­fen, wäh­rend direk­te Steu­ern die Rei­chen tref­fen. Der ers­te Teil die­ser The­se stimmt auch heu­te noch. Der zwei­te Teil wird immer weni­ger wahr.

Die Erhö­hung der direk­ten Steu­ern erfolg­te in den letz­ten Jahr­zehn­ten vor allem durch eine Ver­schär­fung der direk­ten Besteue­rung von Löh­nen und Gehäl­tern. In vie­len kapi­ta­lis­ti­schen Län­dern zah­len die Beschäf­tig­ten heu­te nicht nur den größ­ten Teil der indi­rek­ten Steu­ern, son­dern auch den größ­ten Teil der direk­ten Steuern.

Dies gilt umso mehr, als die direk­ten Steu­ern auf Löh­ne und Gehäl­ter in der Regel an der Quel­le ein­be­hal­ten, d. h. im Vor­aus bezahlt und direkt von den Unter­neh­men voll­stän­dig an die Kas­se des bür­ger­li­chen Staats über­wie­sen wer­den, wäh­rend die Steu­ern auf kapi­ta­lis­ti­sche Gewin­ne und auf Ein­kom­men aus „frei­en“ und „selbst­stän­di­gen“ Beru­fen ver­spä­tet und ohne ech­te Kon­trol­le gezahlt wer­den. So pro­fi­tie­ren die Kapi­tal­eig­ner dop­pelt. Steu­ern ver­spä­tet zu zah­len bedeu­tet, vom Kauf­kraft­ver­lust des Gel­des zu pro­fi­tie­ren (eine fes­te Sum­me an Steu­ern auf den Gewinn, die 6 Mona­te nach der Rea­li­sie­rung die­ses kapi­ta­lis­ti­schen Gewinns gezahlt wird, ist eine um 5 % ver­min­der­te Steu­er, wenn die jähr­li­che Infla­ti­ons­ra­te 10 % beträgt). Steu­er­zah­lun­gen ohne effek­ti­ve Kon­trol­le über die tat­säch­li­che Höhe der Gewin­ne bedeu­tet, dass die Schleu­sen für Steu­er­ver­mei­dung und Steu­er­hin­ter­zie­hung weit geöff­net sind. Die­se Geld­men­gen ergie­ßen sich wie eine Sturz­flut in die Wirt­schaft der meis­ten impe­ria­lis­ti­schen Länder.

Für die Arbei­ter bedeu­tet die Pro­gres­si­vi­tät der Lohn­steu­er, dass jedes Mal, wenn die glei­ten­de Ska­la die Nomi­nal­löh­ne einer höhe­ren Besteue­rung unter­wirft, die Lohn­steu­er stär­ker steigt als die Lohn­er­hö­hung selbst.

Neh­men wir ein fik­ti­ves Bei­spiel, das rein demons­tra­ti­ven Zwe­cken dient. Neh­men wir an, ein Fach­ar­bei­ter ver­dient 2.000 fran­zö­si­sche Francs (FF) im Monat und der Anstieg der Lebens­hal­tungs­kos­ten führt durch das Spiel der glei­ten­den Ska­la nach einem Jahr zu einer Erhö­hung des Lohns um 10 %, also auf 2.200 FF im Monat. Neh­men wir an, dass die­ses gesam­te Ein­kom­men besteu­ert wird und dass die Besteue­rung 15 % auf Ein­kom­men zwi­schen 20.000 und 25.000 FF pro Jahr und 20 % auf Ein­kom­men zwi­schen 25.000 und 30.000 FF pro Jahr beträgt.

Vor der Gehalts­an­pas­sung zahl­te er also 15 % Steu­ern auf ein Jah­res­ein­kom­men von 24.000 FF, d. h. 3.600 FF Steu­ern. Es blieb ihm also ein Net­to­ge­halt von 20.400 FF. Nach der Lohn­an­pas­sung zahlt er auf ein Jah­res­ein­kom­men von 26.400 FF eine Steu­er von 20 %, d. h. 5.280 FF. Ihm blei­ben also net­to 21.120 FF. Die Lebens­hal­tungs­kos­ten sind jedoch um 10 % gestie­gen. Die Kauf­kraft des Net­to­lohns von 21.120 FF ent­spricht also nur der Kauf­kraft von 19.008 FF im Vor­jahr. Es gibt also in die­sem Fall einen Kauf­kraft­ver­lust von 20.400 FF auf 19.008 FF, also mehr als 1.000 FF pro Jahr, allein als Ergeb­nis der Pro­gres­si­vi­tät der Lohnsteuer.

Den Arbei­ter inter­es­siert nicht der „Brut­to­lohn“, der ein rein fik­ti­ver Begriff sowohl in der Pra­xis als auch in der Theo­rie ist. Was ihn inter­es­siert, ist der rea­le Net­to­lohn, d.h. die Gesamt­men­ge an Waren und Dienst­leis­tun­gen, die er mit dem Geld, das er nach zwei Wochen oder am Ende des Monats erhält, tat­säch­lich kau­fen kann. Die glei­ten­de Lohn­ska­la muss die Kauf­kraft des tat­säch­lich aus­ge­zahl­ten Lohns bewah­ren. Sie muss daher so funk­tio­nie­ren, dass sie die durch die Steu­er­pro­gres­si­on erhöh­ten Abzü­ge neutralisiert.

Die Lösung, die von der Arbei­ter­be­we­gung in meh­re­ren Län­dern und ins­be­son­de­re von der bel­gi­schen Gewerk­schafts­be­we­gung gefor­dert wird, ist die voll­stän­di­ge Inde­xie­rung der Lohn­steu­er­ta­bel­len. Jedes Mal, wenn der Nomi­nal­lohn erhöht wird, um ihn an die gestie­ge­nen Lebens­hal­tungs­kos­ten anzu­pas­sen, wird die Lohn­steu­er­ta­bel­le um den­sel­ben Pro­zent­satz erhöht.

In dem oben genann­ten Bei­spiel wür­de die Ober­gren­ze für die Kate­go­rie der Löh­ne und Gehäl­ter, die 15 % Steu­ern zah­len, auto­ma­tisch von 25.000 FF pro Jahr auf 27.500 FF pro Jahr stei­gen, wenn die Lebens­hal­tungs­kos­ten um 10 % gestie­gen sind. Daher ändert die Erhö­hung des Nomi­nal­lohns von 24.000 auf 26.400 FF pro Jahr kaum etwas an der Steu­er­quo­te, die wei­ter­hin 15 % beträgt. Die Kauf­kraft der Löh­ne wird voll­stän­dig geschützt.

Manch­mal wird ein­ge­wandt, dass bei einer sol­chen voll­stän­di­gen Inde­xie­rung von Löh­nen, Gehäl­tern und Steu­ern die „Span­ne“ zwi­schen den nied­rigs­ten und den höchs­ten Löh­nen zwar pro­por­tio­nal gleich blie­be, aber in abso­lu­ten Zah­len stän­dig zuneh­men wür­de. Wenn also zu Beginn die nied­rigs­ten Löh­ne 6.000 FF pro Jahr und die höchs­ten Gehäl­ter der Ange­stell­ten 60.000 FF betra­gen (in bei­den Fäl­len nach Abzug der Steu­ern), wür­de eine voll­stän­di­ge Anpas­sung um 10 % den Jah­res­lohn der unge­lern­ten Arbei­te­rin um 600 FF pro Jahr erhö­hen, wäh­rend der Lohn des hoch bezahl­ten Direk­tors um 6.000 FF stei­gen wür­de. Die Dif­fe­renz zwi­schen den bei­den Ein­kom­men betrug anfangs 54.000 FF pro Jahr. Nach dem vol­len Ein­satz der glei­ten­den Ska­la wür­de sie 59.400 FF betragen.

Auf die­se Argu­men­ta­ti­on gibt es zwei Antworten:

Ers­tens ist es nur gerecht, die Inde­xie­rung der Steu­er­ta­bel­len auf eine bestimm­te Ober­gren­ze zu beschrän­ken, die auf dem Ein­kom­men von Fach­ar­bei­tern basiert. In unse­rem fik­ti­ven Bei­spiel könn­te man bei­spiels­wei­se davon aus­ge­hen, dass die Inde­xie­rung der Ober­gren­zen für die Lohn- und Gehalts­steu­er bei 30.000 FF pro Jahr enden wür­de. Ober­halb die­ser Ober­gren­ze wür­de die Pro­gres­si­vi­tät der Steu­er wei­ter­hin voll zum Tra­gen kom­men und somit die Kluft zwi­schen nied­ri­gen und hohen Löh­nen etwas verringern.

Zwei­tens: Das bes­te Mit­tel, um die über­mä­ßi­ge „Span­ne” der Arbei­ter­ein­kom­men zu bekämp­fen, ist der Kampf für Teue­rungs­zu­la­gen, Jah­res­end­prä­mi­en und ech­te Lohn­er­hö­hun­gen (über das Spiel der glei­ten­den Lohn­ska­la hin­aus), die für alle gleich sind, die Anwen­dung des Prin­zips des glei­chen Lohns für glei­che Arbeit, die Abschwä­chung des Spiels der glei­ten­den Lohn­ska­la durch die Ein­füh­rung von Lohn- und Gehalts­ober­gren­zen, ab denen die Anpas­sun­gen nicht mehr auto­ma­tisch erfol­gen, son­dern Gegen­stand von Ver­hand­lun­gen sein müs­sen. Eine sol­che Posi­ti­on ist theo­re­tisch dadurch gerecht­fer­tigt, dass die hohen Gehäl­ter von Füh­rungs­kräf­ten nicht voll­stän­dig für den Kauf von Gütern des täg­li­chen Bedarfs ver­wen­det wer­den, die für die Erstel­lung des Lebens­hal­tungs­kos­ten­in­de­xes her­an­ge­zo­gen wer­den. Ein Teil des Ein­kom­mens wird für den Kauf von Luxus­gü­tern ver­wen­det, deren Prei­se sich anders ent­wi­ckeln als die von Gütern des täg­li­chen Bedarfs. Ein ande­rer Teil dient der pri­va­ten Kapi­tal­ak­ku­mu­la­ti­on (Erspar­nis), die durch wirk­sa­me gewerk­schaft­li­che Maß­nah­men (in die­sem Fall: die Erobe­rung der glei­ten­den Lohn­ska­la) nicht geför­dert wer­den soll.

Es gibt jedoch Ein­wän­de gegen die­se The­se. Die Ein­füh­rung rein nume­ri­scher Ober­gren­zen wür­de den Auto­ma­tis­mus der glei­ten­den Lohn­ska­la erschwe­ren, was es ja gera­de zu ver­hin­dern gilt, und könn­te sich bei einer galop­pie­ren­den Infla­ti­on gegen die Arbei­ter selbst rich­ten. Sie wür­de daher die Not­wen­dig­keit einer regel­mä­ßi­gen Über­prü­fung die­ser Ober­gren­zen mit sich brin­gen, was das auto­ma­ti­sche Spiel der Anpas­sung noch wei­ter behin­dern wür­de. Wenn die Anpas­sung der hohen Gehäl­ter an die stei­gen­den Lebens­hal­tungs­kos­ten gebremst wür­de, wür­den die Löh­ne der Gering­ver­die­ner nicht erhöht, son­dern ledig­lich die Pro­fi­te der Unter­neh­mer gestei­gert. Unter dem Vor­wand, die Akku­mu­la­ti­on von pri­va­tem Kapi­tal (Ver­mö­gen) der Füh­rungs­kräf­te zu brem­sen, wür­de die Akku­mu­la­ti­on von Kapi­tal durch Kon­zer­ne und Mono­po­le gefördert.

Letzt­end­lich scheint uns aber die­se The­se vor allem wenig schlüs­sig zu sein. Wenn die Unter­neh­mer bestimm­ten Kate­go­rien von Füh­rungs­kräf­ten hohe Gehäl­ter zah­len, dann haben sie ein wirt­schaft­li­ches und sozia­les Inter­es­se dar­an. Man kann sie kaum dar­an hin­dern, ohne das kapi­ta­lis­ti­sche Sys­tem zu Fall zu brin­gen. Selbst wenn die hohen Gehäl­ter nicht inde­xiert wären, wür­den die Kapi­ta­lis­ten sie frei­wil­lig „auf­run­den“, ohne dazu gezwun­gen zu sein.

Der wah­re Kampf gegen exzes­si­ve Lohn- und Gehalts­un­ter­schie­de fin­det nicht statt, indem man das Spiel der glei­ten­den Lohn­ska­la ein­schränkt, son­dern indem man glei­che Prä­mi­en und Erhö­hun­gen für alle erzwingt. Die Arbei­ter haben ein Inter­es­se dar­an, eine ein­fa­che, trans­pa­ren­te und auto­ma­ti­sche glei­ten­de Lohn­ska­la zu erzwin­gen. So kön­nen sie ver­hin­dern, dass sie betro­gen wer­den und ihre Kauf­kraft geschmä­lert wird. Die glei­ten­de Lohn­ska­la dient die­sem Zweck und nicht dem Zweck, die Ungleich­heit blo­ßer Träu­me zu bekämp­fen. Las­sen wir sie die­sem Zweck so genau als mög­lich die­nen und nut­zen wir ande­re Waf­fen, um ande­re Zie­le zu erreichen.

Der Kampf um die glei­ten­de Lohn­ska­la ist ein Kampf der gesam­ten Klas­se der Lohn­ab­hän­gi­gen (ein­schließ­lich der Ange­stell­ten) und kein Kampf ein­zel­ner Grup­pen. Er soll vor allem eine ein­heit­li­che bran­chen­über­grei­fen­de Mobi­li­sie­rung ermög­li­chen, um die Aus­wei­tung des Prin­zips der glei­ten­den Lohn­ska­la auf die am schlech­tes­ten bezahl­ten Arbei­ter (und Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ger), die in der Regel auch am schlech­tes­ten orga­ni­siert sind, wirk­sam durch­zu­set­zen. Gera­de zu die­sem Zweck ist ihre voll­stän­di­ge Anwen­dung auf alle Löh­ne und Gehäl­ter als Pro­zent­satz und nicht als fes­te Sum­me uner­läss­lich, um die Ein­heit der Inter­es­sen der gesam­ten Klas­se zu ermög­li­chen. Die glei­ten­de Lohn­ska­la so anzu­wen­den, dass die best­be­zahl­ten Schich­ten der Arbei­ter­klas­se ihre Kauf­kraft nicht durch die auto­ma­ti­sche Anpas­sung ihres Lohns an die stei­gen­den Lebens­hal­tungs­kos­ten erhal­ten kön­nen, bedeu­tet nicht, den Zusam­men­halt oder die wach­sen­de Gleich­heit inner­halb der Arbei­ter­schaft zu för­dern, son­dern im Gegen­teil die Spal­tung zu fördern.

Ein Argu­ment für die bevor­zug­te Behand­lung von Gering­ver­die­nern im Rah­men der glei­ten­den Lohn­ska­la ist, dass die unter­schied­li­che Struk­tur der Haus­halts­aus­ga­ben der Gering­ver­die­ner im Ver­gleich zu den Aus­ga­ben der bes­ser bezahl­ten Grup­pen dazu füh­ren wür­de, dass die Kauf­kraft der Gering­ver­die­ner im Fal­le einer Infla­ti­on stär­ker sin­ken wür­de als die der Bes­ser­ver­die­ner. Die­ses Argu­ment ist in Län­dern wie Ita­li­en sicher­lich stich­hal­tig, in Län­dern wie Groß­bri­tan­ni­en, wo die Lebens­mit­tel­prei­se von der Regie­rung sub­ven­tio­niert wer­den, ist es jedoch weni­ger stich­hal­tig. Wie auch immer, anstatt das auto­ma­ti­sche Spiel der glei­ten­den Lohn­ska­la, die Ant­wort auf sol­che Unge­rech­tig­kei­ten, zu beschrän­ken, muss die Arbei­ter­kon­trol­le über die Berech­nung des Preis­in­de­xes, der als Aus­gangs­punkt für die glei­ten­de Ska­la dient, gefor­dert wer­den. Wobei die­ser Index so genau wie mög­lich an die Aus­ga­ben­struk­tur eines Arbei­ter­haus­halts mit mitt­le­rem Ein­kom­men „ange­lehnt“ sein muss.

Um die gesam­te Arbei­ter­klas­se und nicht nur die arbei­ten­den Men­schen vor den Aus­wir­kun­gen der Infla­ti­on zu schüt­zen, ist es jedoch uner­läss­lich, das Prin­zip der glei­ten­den Ska­la auf alle Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ger aus­zu­wei­ten. Ren­ten und Pen­sio­nen, Arbeits­lo­sen- und Ver­sehr­ten­geld, Kran­ken­geld und Bei­hil­fen bei Behin­de­run­gen, Geburts­prä­mi­en und Fami­li­en­zu­la­gen müs­sen inde­xiert und auto­ma­tisch an die monat­li­chen Stei­ge­run­gen der Lebens­hal­tungs­kos­ten eben­so wie Löh­ne und Gehäl­ter ange­passt wer­den. Die­se For­de­rung ist umso not­wen­di­ger, als Gering­ver­die­ner mit fes­tem Ein­kom­men am här­tes­ten von den stei­gen­den Prei­sen für Grund­nah­rungs­mit­tel betrof­fen sind und durch die Infla­ti­on in bit­te­re Armut gestürzt werden.

Die glei­ten­de Lohn­ska­la und die „Ehr­lich­keit des Index“.
Sobald die Arbei­ter die glei­ten­de Lohn­ska­la erkämpft haben, ver­la­gert sich der Schwer­punkt der Aus­ein­an­der­set­zung auf die Berech­nung der tat­säch­li­chen Preis­stei­ge­rung. Sie ver­hin­dert, dass die Arbei­ter­klas­se die Kos­ten der Infla­ti­on trägt. Über­all bemü­hen sich die Bos­se und der bür­ger­li­che Staat, die von der öffent­li­chen Ver­wal­tung erstell­ten Preis­in­di­zes (oder Lebens­hal­tungs­kos­ten­in­di­zes) als Grund­la­ge für die Berech­nung von Lohn­an­pas­sun­gen durch­zu­set­zen. Die Erfah­rung zeigt, dass die­se Indi­zes über­all gefälscht sind und als Waf­fe der Unter­neh­mer die­nen, um Lohn­an­pas­sun­gen zu ver­zö­gern, d. h. um die kapi­ta­lis­ti­schen Pro­fi­te zu steigern.

Die gän­gigs­ten Tech­ni­ken, die die Bour­geoi­sie zu die­sem Zweck ein­setzt, sind:

• Die ver­fäl­schen­de Zusam­men­stel­lung der Arti­kel und Dienst­leis­tun­gen, die bei der Berech­nung des Lebens­hal­tungs­kos­ten inde­xes berück­sich­tigt wer­den. Die­ser monat­li­che Index ist näm­lich ein Durch­schnitts­wert, der sich aus den Preis­schwan­kun­gen einer gro­ßen Anzahl von Arti­keln und Dienst­leis­tun­gen ergibt. Wenn man in die Gesamt­mas­se die­ser Arti­kel eine Rei­he von Gütern auf­nimmt, die von den Arbei­tern wenig oder gar nicht kon­su­miert wer­den und deren Preis­stei­ge­run­gen unter dem Durch­schnitt lie­gen, erhält man einen Anstieg des Index, der nicht wirk­lich den tat­säch­li­chen Anstieg der Lebens­hal­tungs­kos­ten wider­spie­gelt. So hat die bel­gi­sche Gewerk­schafts­be­we­gung lan­ge gegen den soge­nann­ten Kugel­hut­in­dex geklagt, weil Arti­kel wie Kugel­hü­te, die von Arbei­tern kaum gekauft wer­den, bei der Berech­nung des Lebens­hal­tungs­kos­ten­in­dex berück­sich­tigt wurden.

• Zur glei­chen Kate­go­rie bewuss­ter Mani­pu­la­tio­nen gehört die Pra­xis, Dienst­leis­tun­gen, deren Prei­se beson­ders schnell stei­gen (z. B. in eini­gen Län­dern Mie­ten und nicht von der Sozi­al­ver­si­che­rung erstat­te­te Arzt­kos­ten), aus der Berech­nung der Lebens­hal­tungs­kos­ten aus­zu­schlie­ßen oder sie in einem Ver­hält­nis ein­zu­be­zie­hen, das unter ihrem tat­säch­li­chen Anteil an den Aus­ga­ben der Haus­hal­te liegt. Wenn Arbei­ter bei­spiels­wei­se 20 % ihres Ein­kom­mens für Mie­ten und Neben­kos­ten aus­ge­ben, die­se Mie­ten jähr­lich um 15 % stei­gen, wäh­rend der Anstieg der ver­brauch­ten Waren nur 10 % beträgt, und der Index in sei­ner „Gewich­tung“ den Mie­ten nur 5 % zuweist, haben die Arbei­ter durch die­se unehr­li­che Berech­nung des Index nach einem Jahr mehr als 2,5 % Kauf­kraft ihres gesam­ten Jah­res­lohns verloren!

• Die fal­sche Ermitt­lung der tat­säch­li­chen Prei­se. Im Kapi­ta­lis­mus wer­den trotz der fort­schrei­ten­den Kon­zen­tra­ti­on des Han­dels die­sel­ben Arti­kel oft zu sehr unter­schied­li­chen Prei­sen ver­kauft. Dies gilt ins­be­son­de­re für Lebens­mit­tel. Wenn die Lebens­mit­tel­prei­se auf Märk­ten erhöht wer­den, wo immer weni­ger Haus­hal­te die Mög­lich­keit haben regel mäßig ein­zu­kau­fen, oder in Super­märk­ten in der Nähe von Auto­bah­nen, wo die Mas­se der Arbei­ter eben­falls nicht ein kauft, kann dies zu einem Preis­in­dex füh­ren, der stark von den tat­säch­li­chen Aus­ga­ben der Arbei­ter­haus­hal­te abweicht.

• Mani­pu­la­ti­on des Gesamt­ergeb­nis­ses des Index, indem man den Preis bestimm­ter Arti­kel „drückt“. Dies wur­de in Bel­gi­en als „Index­po­li­tik“ bezeich­net, die sich für die Unter­neh­mer und den bür­ger­li­chen Staat jedoch nur dann aus zahlt, wenn es Schwel­len­wer­te gibt, unter­halb derer kei­ne Lohn­an­pas­sung statt­fin­det. Liegt die­se Schwel­le bei­spiels­wei­se bei 2 %, kann die Regie­rung durch will­kür­li­ches Ein­frie­ren der Prei­se für bestimm­te Mas­sen­kon­sum­gü­ter (z. B. Brot) den Indexan­stieg künst­lich bei 1,9 % oder 1,8 % hal­ten und so über Mona­te hin­weg Kauf­kraft­ver­lus­te von fast 2 % für die Beschäf­tig­ten verursachen.

Die Mani­pu­la­ti­on des Preis­in­de­xes ist so offen­sicht­lich, dass in meh­re­ren Län­dern, ins­be­son­de­re in Ita­li­en und Frank­reich, die Beam­ten der sta­tis­ti­schen Ämter sie selbst ange­pran­gert haben und den Gewerk­schaf­ten ihre Hil­fe bei der Berech­nung eines „ehr­li­chen“ Inde­xes ange­bo­ten haben.

In Bel­gi­en haben die Gewerk­schaf­ten ein Veto­recht bei der „offi­zi­el­len Aner­ken­nung“ des Index erhal­ten. Da sie neben Unter­neh­mer- und Regie­rungs­ver­tre­tern in einer „Preis­kom­mis­si­on“ sit­zen, kön­nen sie sich wei­gern, den monat­lich von der Regie­rung ver­öf­fent­lich­ten Index als gül­tig anzu­er­ken­nen. Die­ses „auf­schie­ben­de Veto“ hat jedoch nur einen rein pro­pa­gan­dis­ti­schen Wert, da es kei­nes­wegs bedeu­tet, dass Lohn­er­hö­hun­gen, die ein ehr­li­che­rer Index mit sich brin­gen wür­de, auto­ma­tisch durch­ge­setzt werden.

Wenn man also eine glei­ten­de Lohn­ska­la garan­tie­ren will, die die Kauf­kraft der Beschäf­tig­ten schützt, muss man den Gewerk­schaf­ten das Recht zubil­li­gen, ihren eige­nen Index der Lebens­hal­tungs­kos­ten als Grund­la­ge für die Berech­nung der Lohn­er­hö­hun­gen festzulegen.

Die­se gewerk­schaft­li­che Berech­nung des monat­li­chen Preis­ni­veaus darf nicht im Halb­dun­kel von Büros, selbst wenn es sich um Gewerk­schafts­bü­ros han­delt, oder durch Tech­ni­ker allein erfol­gen, selbst wenn es sich um Tech­ni­ker han­delt, die sich in den Dienst der Arbei­ter­klas­se stel­len. Die Prei­se sind regel­mä­ßig in den Geschäf­ten von Gre­mi­en aus Haus­frau­en und Arbei­tern und von Preis­kon­troll­ko­mi­tees zu erhe­ben. Die­se Erhe­bun­gen sind zu ver­glei­chen und öffent­lich und ohne jede Ein­schrän­kung vor den arbei­ten­den Mas­sen zu dis­ku­tie­ren. Wenn die Mas­se der Arbei­ter schon heu­te in die Anwen­dung der glei­ten­den Lohn­ska­la ein­be­zo­gen wird, bedeu­tet dies, dass mor­gen die umfas­sends­te Arbei­ter­de­mo­kra­tie, die brei­tes­te Initia­ti­ve von unten, die wirk­li­che Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und Selbst­ver­wal­tung der Arbei­ter gewähr­leis­tet ist, nach­dem sie die poli­ti­sche Macht erobert und das kapi­ta­lis­ti­sche Regime gestürzt haben.

Was ist, wenn die Infla­ti­on galop­pie­rend wird?
Die Infla­ti­on ist in den letz­ten Jah­ren immer wei­ter ange­stie­gen. Die Gefahr einer galop­pie­ren­den Infla­ti­on, bei der die Prei­se nicht mehr um 6 oder 10 % pro Jahr stei­gen, son­dern um 40 oder 50 %, ist für die Zukunft eine rea­le Bedro­hung für die Löh­ne und Gehäl­ter − wenn das kapi­ta­lis­ti­sche Regime wei­ter­hin über­lebt. Vor allem in Zei­ten schar­fer sozia­ler und poli­ti­scher Kri­sen ist die galop­pie­ren­de Infla­ti­on eine gän­gi­ge Waf­fe der Bour­geoi­sie, wie es kürz­lich in Chi­le unter der Regie­rung der Uni­dad Popu­lar der Fall war.

Wäh­rend die Arbei­ter mit schnell ent­wer­te­tem Geld bezahlt wer­den, besit­zen die Kapi­ta­lis­ten die „rea­len Wer­te“, also Waren, Maschi­nen, Grund­stü­cke, deren in Geld aus­ge­drück­ter Wert im glei­chen Maße steigt, wie die Kauf­kraft die­ses Gel­des sinkt. Wenn also ein Kli­ma galop­pie­ren­der Infla­ti­on ent­steht, kommt es zu einem Sze­na­rio, das ins­be­son­de­re in Deutsch­land im Zeit­raum 1922-23 und wäh­rend der Nazi-Besat­zung West­eu­ro­pas im Zwei­ten Welt­krieg bekannt war: mas­si­ve Lager­hal­tung, Spe­ku­la­ti­on und Bör­sen­schwin­del, gesetz­li­che oder de fac­to Ratio­nie­run­gen für Gering­ver­die­ner, Schwarz­markt, Schlan­gen vor den Geschäften.

Der Rück­gang des Lebens­stan­dards der Arbei­ter ist unter die­sen Bedin­gun­gen unver­meid­lich. Um die Kauf­kraft der Beschäf­tig­ten schüt­zen zu kön­nen, muss die glei­ten­de Lohn­ska­la nicht nur monat­lich, son­dern wöchent­lich oder sogar täg­lich gel­ten. Die Aus­wei­tung des Schwarz­mark­tes wür­de es im Übri­gen immer schwie­ri­ger machen, einen „ehr­li­chen“ Preis­in­dex zu berechnen.

Unter die­sen Umstän­den könn­te sich der Kampf zum Schutz der Arbei­ter­klas­se vor den Aus­wir­kun­gen der Infla­ti­on nicht mehr nur auf die glei­ten­de Lohn­ska­la und die Preis­kon­trol­le durch Komi­tees kon­zen­trie­ren. Man müss­te die­ses Arse­nal an For­de­run­gen zur Selbst­ver­tei­di­gung der Arbei­ter­klas­se mit einer Rei­he von Not­fall­maß­nah­men zum Schutz der kör­per­li­chen und psy­chi­schen Unver­sehrt­heit der Arbei­ter verbinden:

• Kon­trol­le des Umfangs und der Wei­ter­lei­tung aller Lager­be­stän­de durch die Arbei­ter in den Pro­duk­ti­ons-, Trans­port- und Vertriebsunternehmen

• Auf­spü­ren und sys­te­ma­ti­sche Beschlag­nah­me von Bestän­den, die auf den Schwarz­markt abge­zweigt wer­den, durch Stadtteilkomitees

• direk­te Ver­tei­lung von lebens­not­wen­di­gen Gütern durch Fabrik­ko­mi­tees an die arbei­ten­den Mas­sen, über Stadt­teil­ko­mi­tees und Arbeiterverteilungsgenossenschaften

• Auf­stel­lung eines Not­pro­duk­ti­ons­plans zur Befrie­di­gung der Grund­be­dürf­nis­se der Arbei­ter, der den Pro­duk­ti­ons-, Trans­port- und Ver­triebs­un­ter­neh­men von Arbei­ter­kon­troll­orga­nen auf­er­legt wird

• Über­nah­me aller Unter­neh­men ohne Ent­schä­di­gung oder Auf­kauf, die Waren aus den nor­ma­len Ver­triebs­ka­nä­len abzweigen.

Die Lis­te die­ser Not­stands­maß­nah­men macht deut­lich, dass die galop­pie­ren­de Infla­ti­on eine Situa­ti­on her­bei­führt, in der die Besei­ti­gung des kapi­ta­lis­ti­schen Regimes nicht mehr nur ein rein pro­pa­gan­dis­ti­sches Ziel der Arbei­ter­klas­se ist, son­dern sich immer mehr mit dem täg­li­chen Kampf zur Ver­tei­di­gung der unmit­tel­ba­ren Lebens­in­ter­es­sen der Arbei­ter verbindet.

All­ge­mei­ner gesagt: In dem Maße, wie die glei­ten­de Lohn­ska­la durch­ge­setzt wird, die Infla­ti­on aber anhält oder sich ver­schärft, ver­schiebt sich der Schwer­punkt des Arbei­ter­kamp­fes zwangs­läu­fig von einem blo­ßen Schutz der Kauf­kraft der Löh­ne hin zu einem Kampf gegen die Schäd­lich­keit des kapi­ta­lis­ti­schen Regimes als Ganzes.

Die Ver­ant­wor­tung der gro­ßen kapi­ta­lis­ti­schen Fir­men, der Ban­ken und des bür­ger­li­chen Staa­tes für die sys­te­ma­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on des Preis­an­stiegs muss kon­kret auf­ge­zeigt und ange­pran­gert wer­den. Die Arbei­ter­kon­trol­le über die Kal­ku­la­ti­on der Selbst­kos­ten in den Pro­duk­ti­ons­be­trie­ben, die Arbei­ter­kon­trol­le über die Ver­bin­dungs­we­ge zwi­schen den Pro­duk­ti­ons­zen­tren und dem Ver­kauf an den End­ver­brau­cher muss es ermög­li­chen, die Gewinn­span­nen, das Schma­rot­zer­tum sowie die Spe­ku­la­ti­on auf­zu­de­cken, die die Quel­len der Infla­ti­on sind.

Die For­de­rung, die für die Infla­ti­on ver­ant­wort­li­chen gro­ßen Kon­zer­ne und Kapi­tal­ver­mitt­ler ohne Ent­schä­di­gung oder Auf­kauf zu ver­staat­li­chen und sie unter Arbei­ter­kon­trol­le zu stel­len, wird somit zur ent­schei­den­den Ant­wort der Arbei­ter­be­we­gung gegen die Infla­ti­on als Ganzes.

Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Okto­ber 2022
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