Der Kampf der Linken Opposition gegen die Katastrophe von 1933*
W. A.
Das Drama der deutschen Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert ist von zwei Eckdaten bestimmt – der Unterdrückung der sozialistischen Weiterentwicklung der Novemberrevolution 1918 und der Machtübergabe an die Faschisten Ende Januar 1933. Zwischen Ende 1918 und Anfang 1933 lagen nicht einmal 15 Jahre!
Die blutige Bekämpfung des politischen und sozialen Aufstands der radikalen Teile der arbeitenden Klasse 1918/1919 war das gemeinsame Werk von Mehrheits-SPD um Ebert-Noske, Kapitalverbänden, Reichs- wehr und Freikorps. Dieses konterrevolutionäre Bündnis bereitete, wie Sebastian Haffner in Der Verrat zu Recht geschrieben hat, das faschistische Deutschland vor.
Nach dem erfolgreichen Generalstreik gegen den rechten Kapp-Putsch 1920 war der verpasste „Oktoberaufstand“ 1923 eine zentrale Zwischenetappe auf dem Weg in den braunen Abgrund. Er beendete nicht nur die 1917 in Europa begonnene Phase antikapitalistischer Erhebungen, sondern öffnete gleichzeitig der reaktionären Bürokratisierung der Sowjetunion das Tor.
Dort hatte im Herbst 1923 der Kampf der Linken Opposition für einen „neuen Kurs“ begonnen – insbesondere für die Demokratisierung der Kommunistischen Partei und die planmäßige Industrialisierung der sowjetischen Wirtschaft.
Obwohl ihre Reformvorschläge von der Parteibasis mehrheitlich unterstützt wurden, konnte sie vom Parteiapparat unter Stalin bereits im Januar 1924 bürokratisch ausgeschaltet werden.
Nach seiner Ausweisung aus der UdSSR im Februar 1929 begann Trotzki damit, die zersplitterten Kräfte der linksoppositionellen Gruppen international zu bündeln. Ziel dieser Bestrebungen war die Reform und die politische Wiederbelebung der Dritten Internationale als für die Überwindung des Kapitalismus wirksame Vereinigung.
Der sowjetische Geheimdienst GPU hatte seit Mitte der 1920er Jahre seine Zersetzungsarbeit gegenüber links-oppositionellen Kommunistinnen und Kommunisten begonnen. Die deutsche Geheimpolizei konnte deren Aktivitäten übrigens detailliert überwachen. (Vgl. hierzu Günter Wernicke, Operativer Vorgang [OV] „Abschaum“; in: Andreas G. Graf [Hg.], Anarchisten gegen Hitler, Berlin 2001, S. 284 f.)
Die verdeckte Spitzel- und Spaltungstätigkeit von GPU-Agenten verzögerte zunächst die Sammlung der Linken Opposition in Deutschland.
Startprobleme
Deshalb konnte die Vereinigte Linke Opposition der K.P.D. (Bolschewiki-Leninisten) (VLO) erst am 30. März 1930 in Berlin unter großen Schwierigkeiten gegründet werden.
Bereits im Juni 1930 verschärfte sich in der VLO eine Diskussion über das aktuelle Ausmaß der Bedrohung durch den Faschismus.
Ein von der GPU befeuertes Knäuel von Meinungsverschiedenheiten, Intrigen und Provokationen beanspruchte mehrere Monate lang die Kräfte der Organisation.
In der Folge zerfiel die VLO am 31. Mai 1931 – nur vierzehn Monate nach ihrer Gründung – in zwei Flügel. Die GPU konnte also einen weiteren Erfolg verbuchen.
Mit der Trennung von der Minderheitsgruppe um Landau fand die Anfangsphase der Linken Opposition der KPD ihren Abschluss.
Erst danach konnte sich die eigentliche Stärke der Linken Opposition der KPD (LO), die scharfsinnige Analyse der Endphase der Weimarer Republik, besser entfalten.
Die massiven Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise 1929 hatten das Gefüge Deutschlands fundamental erschüttert. Extreme soziale Verwerfungen ergaben sich aus der verheerenden Massenarbeitslosigkeit, politische durch die beschleu- nigte Auflösung der parlamentarischen Demokratie und die zunehmenden Erfolge der Nazibewegung insbesondere seit den Reichstagswahlen vom 14. September 1930.
Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf das katastrophale Versagen der Führungen der Arbeiterorganisationen.
Die SPD- und die ADGB-Führung auf der einen Seite akzeptierten faktisch die kapitalistischen Rahmenbedingungen für ihr Agieren. Ihre Politik des „kleineren Übels“ erlaubte der deutschen Bourgeoisie trotz deren offenkundiger Schwäche, ihre reaktionären Ziele und insbesondere den Abbau demokratischer Rechte weitgehend kampflos durchzusetzen.
Sowohl SPD- als auch ADGB-Führung verhinderten in der Regel die Mobilisierung der Massen und beschränkten ihre Politik weitestgehend auf die parlamentarischen Räume bzw. die Verhandlungsebene mit den Kapitalverbänden. Damit öffneten sie gleichzeitig der weiter anwachsenden faschistischen Massenbewegung die Tore.
Die Polemik der SPD gegen die KPD sprach Bände. So war etwa in der Abendausgabe des Vorwärts am 30. Juli 1931 zu lesen: „Der schlimmste Feind der Arbeiterschaft ist der Feind im Innern der Arbeiterbewegung, die Kommunistische Partei. Sie hat sich noch immer in entscheidenden Situationen auf die Seite des Klassengegners geschlagen und die Geschäfte der Reaktion besorgt!“ (Hervorhebungen im Original.)
Exemplarisch für den zumindest von maßgeblichen Teilen des SPD-Parteivorstandes gehuldigten Antikommunismus waren auch die Formulierungen im Vorwärts vom 13. September 1931: „Die KPD ist heute objektiv genauso eine Schutztruppe des Finanzkapitals und des Scharfmachertums, wie es die SA Adolf Hitlers ist.“
Die stalinisierte KPD ihrerseits bekämpfte die SPD als Hauptfeind, spaltete die Gewerkschaften mit der RGO-Politik und propagierte eine „rote Einheitsfront von unten“.
Ein bezeichnendes Beispiel für die verheerende Sozialfaschismus-Ideologie der KPD lieferte der KPD-Propagandist Willi Münzenberg. Er diffamierte im Februar 1932 Trotzkis Warnung, dass entweder die KPD zusammen mit der SPD eine Einheitsfront gegen den Faschismus bilde oder aber die Arbeiterbewegung für 10 bis 20 Jahre verloren sein werde.
Dies sei, so Münzenberg die „Theorie eines völlig verlorenen und konterrevolutionären Faschisten. Diese Theorie ist die schlimmste, gefährlichste und verbrecherischste Theorie, die Trotzki in den letzten Jahren seiner konterrevolutionären Propaganda, aufgestellt hat.“ (Hervorhebungen im Original.)
Denn Hitler, so Münzenberg weiter, werde weder die Wirtschaftskrise lösen noch die erfahrene deutsche Arbeiterklasse längere Zeit unterdrücken können. Außerdem bedeute eine Einheitsfront mit der SPD „nicht mehr und nicht weniger als die Zumutung, dass die revolutionäre Arbeiterklasse und die Kommunistische Partei mit einem Teil des Faschismus, der faschisierten Sozialdemokratie, die wie alle anderen bürgerlichen Fraktionen, ein Teil der Bourgeoisie ist, dazu der gefährlichste, weil ihre Organisationen weit in das Lager der Arbeiter- klasse reichen, zusammengeht.“
Hetzartikel wie diese bereiteten übrigens die nur wenige Jahr später begonnene stalinistische Vernichtungskampagne gegen den sogenannten Trotzkismus vor.
Faschismusanalyse
Die auch heute noch beeindruckende Klarheit der Kommentare, Einschätzungen und Aktionsvorschläge der LO erklärt sich vor allem aus der Faschismusanalyse Trotzkis.
Unermüdlich argumentierte er in einer Vielzahl von Artikeln und Broschüren für die Schaffung einer kämpfenden Einheitsfront der Arbeiterbewegung gegen die faschistische Gefahr.
Das Anwachsen der NSDAP war Trotzki zufolge durch zwei Faktoren bedingt: einerseits der scharfen gesellschaftlichen Krise und andererseits der „revolutionären Schwäche des deutschen Proletariats“.
Wo sich die „fortschrittliche Klasse“, also das Proletariat, unfähig zeige, die Macht zu ergreifen und Wirtschaft und Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage neu zu gestalten, könne der niedergehende, sterbende Kapitalismus nur mittels der barbarischen Methoden des Faschismus aufrechterhalten werden.
Es sei verhängnisvoll für die Arbeiterklasse, den Unterschied zwischen bürgerlicher Demokratie und Faschismus zu leugnen oder zu verwischen. Zwar bezeichnete Trotzki beide als lediglich unterschiedliche Arten kapitalistischer Herrschaft. Aber in der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie sei die Existenz unabhängiger proletarischer Organisationen wie politischer Arbeiterparteien und Gewerkschaften möglich.
Sie bildeten aus Sicht der Linken Opposition Keime der proletarischen Demokratie im Rahmen der bürgerlichen Demokratie. Sie waren also für die LO Stützpunkte, von denen aus die arbeitende Klasse den Kampf für ihre eigenen Interessen und gegen die Herrschaft des Kapitals führen könnte.
Die Aufgabe eines faschistischen Systems sah die LO nicht allein in der Zerschlagung und physischen Vernichtung der „proletarischen Vorhut“, sondern auch darin, die ganze Arbeiterklasse in einem Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten. Der Faschismus bedeute die Vernichtung aller proletarischen Organisationen und Stützpunkte.
Der Nationalsozialismus werde sich zudem nicht auf sein drohendes Vernichtungswerk in Deutschland beschränken, warnte Trotzki bereits 1931. Auch die Sowjetunion müsse mit einer direkten Bedrohung durch ein faschistisches Deutschland rechnen. Denn: „Hitlers Sieg bedeutet Krieg gegen [die] USSR“.
Was tun?
Die politische Schwäche des Proletariats als zweite Ursache für das Anwachsen des Nationalsozialismus setzte sich Trotzkis Ansicht nach „aus zwei Elementen zusammen: aus der besonderen historischen Rolle der Sozialdemokratie, dieser allmächtigen kapitalistischen Agentur in den Reihen des Proletariats, und aus der Unfähigkeit der zentristischen Leitung der Kommunistischen Partei, die Arbeiter unter dem Banner der Revolution zu vereinigen”.
Die KPD stelle den „subjektiven Faktor“ dar. Hingegen sei die SPD „ein objektives Hindernis, das man hinwegräumen“ müsse, zumal sie mit ihrer faktischen Verteidigung der Kapitalinteressen „alle Bedingungen für den Sieg des Faschismus vorbereitet“ habe.
Grundtenor seiner Schriften war die leidenschaftliche Aufforderung an KPD und Komintern, ihren verhängnisvollen Kurs – die Einschätzung der Sozialdemokratie als Hauptfeind und die Unterschätzung der faschistischen Gefahr – aufzugeben. Denn diese Politik erlaube es der SPD – trotz des auch in den Augen breiter Massen immer offensichtlicher werdenden Bankrotts ihrer reformistischen Politik – weiterhin den Großteil ihrer Anhängerinnen und Anhänger unter Kontrolle zu halten. Stattdessen sollte die KPD zur Einheitsfronttaktik „von oben und von unten“ zurückkehren.
Er war davon überzeugt, dass diese das einzige Mittel sei, um die Arbeiterklasse vereint in den Abwehrkampf gegen den Nationalsozialismus zu führen und um breite Teile der Arbeiterschaft dem Einfluss der SPD-Führung zu entziehen. Zudem schaffe sie auch die Voraussetzung, um später in die Offensive überzugehen.
Mehr als zuvor sah Trotzki die Stärke der revolutionären Partei während der Krise des bürgerlichen Regimes im außerparlamentarischen Massenkampf. Nur auf diesem Gebiet könnten entscheidende Erfolge errungen und die soziale und politische Bedeutung des Proletariats voll zur Entfaltung gebracht werden.
Aufschwung der LO
Auf die Grundzüge der Faschismusanalyse Trotzkis konnte sich die (V)LO von Anfang an stützen. Als massenwirksames Propagandamittel in Form von Broschüren und Artikeln stand sie ihr im Wesentlichen jedoch erst ab Herbst 1931 zur Verfügung.
Seitdem konzentrierte sich die Führung der LO auf die Herausgabe und Verbreitung preiswerter Trotzki-Broschüren. Ab Ende 1931 fanden die in kurzen Abständen verfasste Analysen der deutschen Entwicklung einen wachsenden Widerhall bei Mitgliedern von KPD, SPD und Sozialistischer Arbeiterpartei (SAP), ja sogar bei „linksbürgerlichen Kreisen“.
Zudem erschien ab Ende Juli 1932 die LO-Zeitung Permanente Revolution wöchentlich und mit einer auf 5.000 Exemplare pro Nummer stark gestiegenen Auflage.
Die propagandistischen Anstrengungen der Linken Opposition erhöhten den Einfluss ihrer Ideen in einem Ausmaß, das im Verhältnis zur Größe der Organisation bedeutend war.
Der Linken Opposition gehörten sowohl winzige Propaganda-Stützpunkte als auch einige wenige, aber örtlich relativ einflussreiche Gruppen in kleineren Städten wie Bruchsal, Oranienburg oder Dinslaken an.
Einheitsfront in Bruchsal …
Richten wir an dieser Stelle unser Augenmerk auf die nordbadische Kleinstadt Bruchsal. Denn dort befand sich die mit 100 Mitgliedern stärkste lokale Organisation der LO.
Sehr zum Ärger der führenden badischen KPD-Funktionäre stellten die „Trotzkisten“ dort die einzige kommunistische Kraft dar. Alle Versuche der KPD-Bürokratie, die Bruchsaler LO um Paul Speck zu „liquidieren“, scheiterten an deren starker Verankerung in der Bruchsaler Arbeiterschaft. Die Linke Opposition spielte eine führende Rolle in den örtlichen Gewerkschaften und der Arbeitersportbewegung.
Bei den badischen Kommunalwahlen erhielten die Bruchsaler Linksoppositionellen 889 Stimmen und damit neun Gemeinderatssitze. Im Gemeindeparlament setzten sich die Ver- treter der LO vor allem für die Interessen der Erwerbslosen ein.
Auf Initiative der Bruchsaler LO gelang es gegen den anfänglichen Widerstand der örtlichen SPD-Führung, im Oktober 1931 einen paritätischen Aktionsausschuss aus LO, SPD, Gewerkschaften und anderen proletarischen Organisationen zu bilden.
Zu Versammlungen gegen Lohnabbau und Faschismus konnte der Aktionsausschuss jeweils weit über 1.000 Menschen mobilisieren. Das starke Wachstum der Bruchsaler LO-Gruppe und ihr Einfluss in den umliegenden Ortschaften Forst, Bretten und Heidelsheim verdankte sie nicht zuletzt diesen Bemühungen.
Offensichtlich auf Anweisung einer höheren Parteiinstanz verließ die SPD 1932 das Einheitskomitee. Die „bewusste Sprengungspolitik“ des örtlichen SPD-Führers, so meinte die Bruchsaler Linke Opposition, sei dadurch erleichtert worden, dass ihre Einheitsfrontpolitik nicht über Bruchsal hinaus verwirklicht worden war.
Trotz dieses Rückschlags konnte die Bruchsaler LO ihren politischen Einfluss ausweiten. Bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 erhielt die LO für die KPD 1.000 Stimmen, die SPD lediglich 500 Stimmen. In seiner Broschüre Was nun? nannte Trotzki Bruchsal „trotz der bescheidenen Ausmaße ein Vorbild für das ganze Land“.
… und in Oranienburg
Eine andere relativ einflussreiche Ortsgruppe der Linken Opposition befand sich in Oranienburg.
Die KPD schloss dort am 8. Januar 1932 Helmut Schneeweiß, den örtlichen Leiter des Kampfbundes gegen den Faschismus wegen angeblicher Zugehörigkeit zur LO aus. Die KPD zog damit einen Schlussstrich unter die schon längere Zeit schwelenden Differenzen in der Einheitsfrontfrage. 56 weitere Mitglieder des Kampfbundes, die sich mit Schneeweiß solidarisiert hatten, wurden ebenfalls ausgeschlossen.
Mit entscheidend für den Übertritt der Oranienburger Dissidenten zur Linken Opposition war die politische Anziehungskraft der Schriften Trotzkis. Die neue LO-Gruppe und der Proletarische Selbstschutz Oranienburg, einer Nachfolgeorganisation des Kampfbundes, waren personell weitgehend deckungsgleich.
Dank dieser fast 100 Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Erwerbslose umfassenden Organisation stellte die Oranienburger LO einen für die örtlichen Verhältnisse beachtlichen politischen Faktor dar. Sie wurde sofort im Sinne der Einheitsfrontbestrebungen der LO aktiv.
Das Arbeiter-Mai-Komitee, ein Bündnis aus LO bzw. Proletarischem Selbstschutz und SPD organisierte 1932 eine erfolgreiche 1. Mai-Demonstration. Es zeigte derart deutlich die iso- lierenden Folgen der ultralinken KPD-Politik auf, dass die KPD sich kurze Zeit später gezwungen sah, dem in Arbeiter-Kampfkomitee umbenannten Einheitsfrontorgan beizutreten.
Das aus je fünf VertreterInnen von LO, SPD und KPD zusammengesetzte Komitee entfaltete eine intensive Aktivität. Außer der Veranstaltung mehrerer antifaschistischer Kundgebungen und der Schaffung von Arbeiterschutzstaffeln widmete es der koordinierten Betriebs- und Erwerbslosenarbeit besondere Aufmerksamkeit.
Ähnlich wie in Bruchsal übte die Oranienburger Einheitsfrontbewegung einen starken Einfluss auf die umliegenden Ortschaften aus. Auch dort entstanden Einheitsfrontkomitees und Selbstschutz-Organisationen der Arbeiterschaft.
In verschiedenen anderen Städten des Deutschen Reichs ergriff die LO die Initiative zur Bildung lokaler Einheitsfrontausschüsse. Meist scheiterten diese Bestrebungen jedoch schon im Anfangsstadium, weil die LO dort zu schwach war, um den Widerstand sozialdemokratischer und stalinistischer Funktionäre zu brechen.
Letzte Warnung
Anfang Januar 1933 schlug die Permanente Revolution erneut Alarm: „1933 [wird] das Jahr der Entscheidung sein“. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler stellte für die Linke Opposition das Ende der Epoche der „bonapartistischen“ Über- gangsregime dar, der mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Regierungen Papen und Schleicher.
Einige Tage nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 lieferte Leo Sedow von Berlin aus seinem Vater und Genossen Leo Trotzki eine ernüchternde Beschreibung der Lage: „Was wir durchleben ähnelt einer Auslieferung der Arbeiterklasse an den Faschismus […] An der Spitze Unentschlossenheit, niemand weiß, was er tun soll; an der Basis kein Vertrauen in unsere eigenen Kräfte. […] Wenn jetzt nicht eine entschlossene Aktion geschieht […], ist eine schreckliche Niederlage unvermeidlich. Diese Aktion […] ist […] meiner Meinung nach nicht mehr sehr wahrscheinlich.“ (Leo Sedow, 05.02.1933, zit. nach Pierre Broué, Trotzki, Köln o. J. [2003], S. 880.)
Noch ein letztes Mal warnte die Permanente Revolution Anfang Februar 1933: „Hitlers Programm ist die völlige Zerschlagung aller politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiterschaft, um den Weg für eine noch ungeheuerlichere Verelendung der Arbeiterschaft zu öffnen. Sein außenpolitisches Ziel ist der Krieg mit Sowjetrußland.“ (Hervorhebungen im Original.)
Kurs auf eine neue Partei
Die Machtübergabe an Hitler und die Errichtung der Nazi-Diktatur markierte für Trotzki und seine Genossinnen und Genossen die „bedeutendste Niederlage in der Geschichte der Arbeiterklasse“.
Die kampflose Niederlage der KPD im Frühjahr 1933, verglich die Internationale Linke Opposition (ILO) mit der politischen Kapitulation der SPD zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Sie bedeute das Ende der KPD als revolutionäre Partei.
Für die Internationale Linke Opposition stand nun nicht mehr die bisher angestrebte „Reform“ der Komintern, sondern der Aufbau einer neuen Internationale auf der Tagesordnung.
Versuch einer Bilanz
Welches Resümee können wir ziehen?
Als im Frühjahr 1930 die Gründung der Linken Opposition der KPD − trotz der Bekämpfung durch den stalinistischen Geheimdienst GPU − gelang, verstärkten die Führungen von SPD, KPD und Gewerkschaften die politische Spaltung und Lähmung der deutschen Arbeiterbewegung.
Nur eine entschlossene und einheitlich handelnde deutsche Arbeiterbewegung hätte vor 1933 die Kraft gehabt, den Faschismus in Deutschland zu verhindern.
Die Spitzen der deutschen Arbeiterbewegung, der bedeutendsten sozialdemokratischen und der größten westlichen kommunistischen Partei, wollten keine Einheitsfront gegen den Faschismus bilden. Sie verhinderten aktiv die Einheit der Aktion, zu der große Teile ihrer eigenen Basis bereit waren.
Die deutschen Gewerkschaften ihrerseits kapitulierten nicht nur kampflos, sondern suchten sogar noch am 1. Mai 1933 die Kooperation mit der braunen Diktatur.
Die entscheidende Niederlage der am besten organisierten und teilweise sogar am besten bewaffneten Arbeiterbewegung der damaligen kapitalistischen Welt war kein Zufall. Sie hatte ihre Ursache in dem durch ideologische Verblendung, politische Kurzsichtigkeit sowie materielle Privilegien und Eigeninteressen begründeten Versagen der Führungsapparate von SPD, KPD sowie der Gewerkschaften.
Mittlerweile ist übrigens wissenschaftlich belegt, dass die Politik der stalinistischen Führung der Sowjetunion bereits zu Beginn der 1930er Jahre in erster Linie auf die Verbesserung der Beziehungen zu den konservativen und nationalen Kreisen Deutschlands abzielte.
Anfang 1933 fanden sich Stalin und Konsorten mit der Etablierung des faschistischen Regimes ab und waren offensichtlich am Schicksal der deutschen Arbeiterbewegung nicht interessiert. (Vgl. zum Verhältnis der Moskauer Führung zum deutschen Faschismus etwa Bernhard H. Bayerlein, „DAS GEHEIME WINOGRADOW-TREFFEN“, im Netz unter www.indes-online.de⁄1-2017-das-geheime-winogradow-treffen-im-februar-1933 (abgerufen am 11.11.2022).
Die katastrophale Politik der Führungen der Arbeiterbewegung führte also direkt in die verheerende Kapitulation von 1933 und damit zum Triumph ihres Todfeindes, des Faschismus. Sie ermöglichte nicht nur die brutale Vernichtung aller Arbeiterorganisationen durch die blutige faschistische Diktatur in Deutschland, sondern auch den Triumph des stalinistischen Terrorregimes in der UdSSR. Der Weg zum Zweiten Weltkrieg und zur Massenvernichtung von Jüdinnen und Juden, von Roma und Sinti war damit frei.
Diese und andere Verbrechen der Nazi-Diktatur, denen rund 53 Millionen Menschen zum Opfer fielen, waren nicht zwangsläufig. Sie waren ebenso verhinderbar wie die des Stalinismus, durch die wahrscheinlich mehr als zwanzig Millionen Menschen umgebracht wurden. Bis heute wirken diese historischen Niederlagen nach.
Die Linke Opposition konnte sie alleine nicht abwenden, aber sie entwickelte in Wort und in Tat eine realistische Alternative der Gegenwehr.
Auch deshalb ist die Geschichte der LO ein konkreter Beleg für die oft unterschätzte oder gar missachtete Funktion kleiner, aktiver Organisationen. Zum einen als sensibler Seismographen sich ankündigender gesellschaftlicher und politischer Veränderungen. Zum anderen als Zentren praktischen politischen Widerstands, der keinen Vergleich zur Wirksamkeit von parlamentarisch orientierten und bürokratisierten Massenparteien zu scheuen braucht.
Wir sollten den mutigen und selbstlosen Kampf gegen die Barbarei vor dem Vergessen bewahren, den hunderte Genossinnen und Genossen der LO sowie ihrer Nachfolgorganisationen − und natürlich auch andere im Widerstand aktive Menschen − geführt haben. Ihr Engagement sollte uns Ansporn sein, uns selbst konsequent allen faschistischen Umtrieben entgegenzustellen.
Natürlich gibt es Unterschiede zu 1933. Die ökonomische, politische und mediale Macht der Konzerne hat im Spätkapitalismus eine bisher nicht bekannte Dimension erreicht. Das riesige Arsenal an Massenvernichtungswaffen ist ebenso wie der Ökozid eine unmittelbare Bedrohung für unser Überleben. Und nicht zuletzt ist das damals existierende politische Bewusstsein der arbeitenden Klasse hierzulande auch durch den Neoliberalismus stark getrübt.
Aber dennoch − oder gerade deswegen − sind die Grundgedanken der von der LO weiter entwickelten Taktik der Einheitsfront sehr aktuell. Nicht nur für den heutigen Kampf gegen das Entstehen einer neuerlichen faschistischen Massenbewegung, sondern auch gegen dessen nach wie vor fruchtbaren kapitalistischen Nährboden.