Bernard Schmid
Am 14. April 2023 hatte das französische Verfassungsgericht die „Rentenreform“ von Staatspräsident Macron und seiner Regierung nicht nur gebilligt, sondern in einigen Punkten sogar noch weiter verschärft.
Das neue Renteneintrittsalter soll kün- ftig bei 64 statt 62 Jahren liegen. Fast alle Sonderrentensysteme − etwa für Angestellte des Stromkonzerns EDF oder der Pariser Verkehrsbetriebe − sollen entfallen. Die für den Renteneintritt erforderlichen 43 Beitragsjahre sollen schneller kommen, und für nur noch 1,5 Prozent der Bezieherinnen und Bezieher von Niedrigrenten sollen die Alterseinkünfte aufgestockt werden.
Es wird auch keinen Medizincheck mit 60 für alle geben, die in Risikoberufen arbeiten, keinen Umschulungsfonds für diese Menschen, keinen Seniorenindex, mit dem Betriebe mitteilen müssen, wie viele Ältere bei ihnen arbeiten und keinen unbefristeten Arbeitsvertrag mit weniger Sozialabgaben für diese Beschäftigtengruppe.
Macrons TV-Ansprache
Am 17. April sprach Staatspräsident Macron im französischen Fernsehen, um einen „Schlusspunkt“ unter das Thema Renten setzen zu können.
Die „verfassungskonforme Rentenreform“ sei notwendig gewesen, so Macron, um die Sozialversicherungssysteme vor dem angeblich drohenden „Ruin“ zu retten. Nun werde man das Blatt wenden, fügte er hinzu. In den nächsten 100 Tagen seien die Gewerkschaften zur Mitarbeit aufgefordert. Es gelte nun, Weichen zu stellen: für bessere Schulen, bessere Arbeit und mehr Umweltschutz, aber auch für mehr „Sicherheit“ und mehr Migrationskontrolle. Zudem solle die katastrophale Situation der kaputtgesparten Krankenhäuser und insbesondere ihrer Notaufnahmen bis „Ende 2024“ beendet werden.
In den Umfragen nach Macrons Ansprache erklärten 90 Prozent der Befragten, seine Ausführungen würden die Lage nicht befrieden. 64 Prozent antworteten, dass sie ausdrücklich eine Fortsetzung der gewerkschaftlichen Proteste wünschen.
Zeitgleich zu Macrons TV-Rede kam es im ganzen Land zu spontanen Demonstrationen und Versammlungen, bei denen lärmend auf Töpfe geschlagen wurde. In Paris versammelten sich zum Beispiel zunächst bis zu 2.000 Menschen auf dem Vorplatz des zentralen Rathauses der Stadt, zogen dann aber weiter vor das im nördlichen Stadtzentrum gelegene Rathaus des 10. Stadtbezirks und besetzten dort die Straße. Später kesselte die Polizei die Protestierenden vorübergehend ein. Zudem fanden in der Hauptstadt noch mehrere kleinere Spontandemonstrationen im Laufe des Abends statt.
Demoverbote vor dem 1. Mai
Trotz Demoverbots protestierten auch in Marseille viele Menschen lautstark am Alten Hafen. Ebenfalls wurde in Nantes, Rennes und anderen Städten demonstriert. Überall verkündeten die Teilnehmenden, dass sie Macron nicht zuhören wollten, weil man ohnehin nichts Gutes von ihm erwarten könne. An den Folgetagen gab es zahlreiche weitere Proteste.
Die französischen Gewerkschaften werden den 1. Mai 2023 gemeinsam mit Demonstrationen begehen. Das ist insofern historisch, als es dies in Frankreich – dem Land der politischen Richtungsgewerkschaften – erst zum dritten Mal in einhundert Jahren gibt. Das erste Mal geschah dies 1936, im Jahr des Generalstreiks, aber auch des Wahlsiegs des Linksbündnisses Front populaire – der „Volksfront“. Zum zweiten Mal fand ein gemeinsamer 1. Mai im Jahr 2002 statt, als Reaktion auf den Einzug des Faschisten Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl der damaligen französischen Präsidentschaftswahl.
Auch die an der Spitze rechtssozialdemokratisch geprägte CFDT, derzeit im Landesdurchschnitt stimmenstärkster Gewerkschaftsver- band bei betrieblichen Wahlen, kann aus der aktuellen gewerkschaftlichen Einheitsfront bislang nicht ausscheren. Ihre Führung wäre durchaus zum „Kompromiss“ gewillt. Sie bleibt jedoch an einen Beschluss des CFDT-Kongresses vom Juni 2022 gebunden, mit dem eine Anhebung des Rentenalters – gegen den Willen des CFDT-Vorstands – ausdrücklich abgelehnt wurde.
Es bleibt also spannend in Frankreich.