Lin­ke Oppo­si­ti­on im Deutsch­land der drei­ßi­ger Jahre*

Hel­mut Dahmer

Denn es ist ein unwie­der­bring­li­ches Bild der Ver­gan­gen­heit[,] das mit jeder Gegen­wart zu ver­schwin­den droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkann­te.“ (W. Ben­ja­min1.)

Ausschnitt aus Diego Riveras Fresko „Der Mensch am Scheideweg“. (Foto: Privat.)

Aus­schnitt aus Die­go Rive­ras Fres­ko „Der Mensch am Schei­de­weg“. (Foto: Privat.)

Sozia­lis­ten und Kom­mu­nis­ten des 19. und des frü­hen 20. Jahr­hun­derts waren über­zeugt, dass die kapi­ta­lis­ti­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se ihr Poten­ti­al erschöpft habe.

Die wach­sen­de Lohn­ar­bei­ter­schaft, so hoff­ten sie, wer­de eine Gesell­schaft nicht län­ger tole­rie­ren, in der Krie­ge und Kri­sen ein­an­der ablö­sen, ein Fünf­tel der Mensch­heit ver­elen­det und die Destruk­ti­on von Men­schen, Gütern und Natur sich als pro­fi­ta­bler als deren Erhalt erweist.

Doch es ist anders gekom­men. Anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Revo­lu­tio­nen wur­den nie­der­ge­schla­gen oder schei­ter­ten, und Refor­men hat­ten nur im Rah­men der bestehen­den Eigen­tums- und Herr­schafts­ver­hält­nis­se eine Chance.

Die Ver­su­chung ist groß, sich von die­ser schon all­zu lan­gen Geschich­te der Nie­der­la­gen und des Schei­terns abzu­wen­den, sie zu ver­ges­sen und „es unbe­fan­gen noch ein­mal zu ver­su­chen“. Doch sol­che Unbe­fan­gen­heit wird sich rächen: Je weni­ger das Schei­tern unse­rer Vor­gän­ger ver­stan­den wird, des­to siche­rer wird es sich wiederholen.

Kom­pli­zier­te Spu­ren­su­che
Dar­um ist dies die Stun­de der His­to­ri­ker, die den Bedin­gun­gen der sel­te­nen Tri­um­phe und vie­len Nie­der­la­gen der Arbei­ter­be­we­gung nach­spü­ren. Zu ihnen gehört Wolf­gang Alles. Er rekon­stru­ier­te 1978 in sei­ner „Pio­nier­ar­beit“ (so Her­mann Weber in sei­nem 2010 geschrie­be­nen Vor­wort zur kürz­lich erschie­ne­nen Neu­auf­la­ge) anhand von Archiv­do­ku­men­ten und Inter­views mit damals noch leben­den Zeit­zeu­gen die kom­pli­zier­te Geschich­te der deut­schen Anhän­ge­rin­nen und Anhän­ger der – von Trotz­ki 1923 ins Leben geru­fe­nen – sowje­ti­schen Lin­ken Oppo­si­ti­on gegen die Sta­li­ni­sie­rung von Par­tei, Staat und Wirtschaft.

In den Jah­ren 1928-1933 erar­bei­te­te der von Sta­lin zuerst nach Alma Ata ver­bann­te, dann in die Tür­kei auf die Insel Prin­ki­po abge­scho­be­ne Trotz­ki sei­ne in vie­le Spra­chen über­setz­ten Ana­ly­sen des sowje­ti­schen „Ther­mi­dors“, des Ver­sa­gens der III. Inter­na­tio­na­le, der Kom­in­tern, unter ande­rem in Chi­na (1926/27) und in Deutsch­land (1929-33). Damit gewann er Zehn­tau­sen­de von revo­lu­tio­nä­ren Mar­xis­tin­nen und Mar­xis­ten in aller Welt zunächst (1930) für die Grün­dung der Inter­na­tio­na­len Lin­ken Oppo­si­ti­on (ILO) und ab 1933 für eine neue „Welt­par­tei der pro­le­ta­ri­schen Revo­lu­ti­on“, die IV. Internationale.

Im Unter­schied zu ande­ren, damals exis­tie­ren­den links­so­zia­lis­ti­schen Grup­pie­run­gen besteht die „trotz­kis­ti­sche“ Inter­na­tio­na­le bis heu­te (ja, es gibt gegen­wär­tig sogar meh­re­re, mit­ein­an­der kon­kur­rie­ren­de inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen, die sich auf Trotz­kis Kon­zept der inter­na­tio­na­len Revo­lu­ti­on und der revo­lu­tio­nä­ren Orga­ni­sa­ti­on beru­fen).2

Kampf für Einheitsfront
Alles schil­dert nicht nur die Her­aus­bil­dung der Lin­ken Oppo­si­ti­on der KPD (LO), son­dern auch deren Ver­hält­nis zu ande­ren lin­ken (und rech­ten) kom­mu­nis­ti­schen Oppo­si­ti­ons­grup­pen in und neben der mos­kau­treu­en, sta­li­nis­ti­schen KPD (Lenin­bund, KPO, SAP, „Rote Kämp­fer“ …). Er beschreibt detail­liert die Ver­su­che Trotz­kis und der ILO, mit Hil­fe von ein paar Tau­send ent­schlos­se­nen Revo­lu­tio­nä­rin­nen und Revo­lu­tio­nä­ren den ver­häng­nis­vol­len Kurs der Thäl­mann-KPD (gegen den „Sozi­al­fa­schis­mus“ der SPD) recht­zei­tig zu kor­ri­gie­ren und eine kampf­fä­hi­ge Ein­heits­front der Arbei­ter­or­ga­ni­sa­tio­nen gegen die para­mi­li­tä­ri­schen Kampf­for­ma­tio­nen der NSDAP zu bil­den.3

Alles ver­folgt die Schick­sa­le der Inter­na­tio­na­len Kom­mu­nis­ten Deutsch­lands (IKD) – und ihrer bedeu­ten­den Zeit­schrift Unser Wort (1933-1941) – im Unter­grund des faschis­ti­schen Deutsch­lands und in den Zufluchts­län­dern der Emi­gran­ten. Er skiz­ziert abschlie­ßend die Ver­su­che, auch im geteil­ten Nach­kriegs­deutsch­land die räte­de­mo­kra­tisch-inter­na­tio­na­lis­ti­sche Tra­di­ti­on wiederzubeleben.

Die jetzt vor­lie­gen­de Neu­auf­la­ge sei­nes Buches hat Alles nicht nur durch ein instruk­ti­ves Nach­wort (S. 289-299) erwei­tert, in dem er auch die seit 1978 zum The­ma erschie­ne­nen Bücher und Arti­kel auf­führt, son­dern auch durch 37 bio­gra­phi­sche Por­träts von LO- und IKD-Mit­glie­dern. Zudem gibt es ein aus­führ­li­ches Quel­len- und Lite­ra­tur­ver­zeich­nis (S. 255-262), 6 Abbil­dun­gen und ein Personenregister.


Fuß­no­ten
* Wolf­gang Alles (1978, 1987), Für Ein­heits­front gegen Faschis­mus, Zur Poli­tik und Geschich­te der Lin­ken Oppo­si­ti­on ab 1930 [3., erw. Aufl. von Zur Geschich­te und Poli­tik der deut­schen Trotz­kis­ten ab 1930], Köln (Neu­er ISP-Ver­lag) 2022. 
1 Ben­ja­min, Wal­ter ([1940] 1942), „Über den Begriff der Geschich­te“, (hg. von Gérard Rau­let), Wer­ke und Nach­laß, Kri­ti­sche Gesamt­aus­ga­be, Band 19, Ber­lin (Suhr­kamp) 2010, S. 32. 
2 Ben­saïd, Dani­el (2002), Was ist Trotz­kis­mus? [Les trots­kys­mes], Köln (Neu­er ISP-Ver­lag) 2004.
3 Vgl. dazu Trotz­ki (1929-40), Schrif­ten über Deutsch­land, Bd. I und II, Frank­furt (Euro­päi­sche Ver­lags­an­stalt) 1971.


Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Mai 2023
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