Zur Aktualität der „gleitenden Lohnskala“
Eine redaktionelle Vorbemerkung
Derzeit erleben wir eine in dieser Höhe seit Jahrzehnten nicht mehr gekannte Inflation. Als Inflation gilt eine fortgesetzte und allgemeine Erhöhung der Verbraucherpreise. Inflation kann als das Ergebnis eines Verteilungskonflikts definiert werden, bei dem es um die Aufteilung der produzierten Reichtümer geht. Die Kapitalseite nutzt sie immer wieder zur Aufrechterhaltung ihrer Profitraten aus.
Was können wir dagegen tun?
Eine interessante Antwort auf diese Frage kann der nachfolgende Auszug aus dem „Übergangsprogramm“ der IV. Internationale geben (siehe hierzu auch die Theoriebeilagen zu Avanti², Nr. 75 von November 2020 und Nr. 93 von Mai 2022). Er befasst sich mit der Frage der „gleitenden Lohnskala“.
Die „gleitende Lohnskala“ wird in diesem wegen seines methodischen Ansatzes nach wie vor grundlegenden Text als Kampflosung gegen die Teuerung propagiert und wie folgt erklärt: „Tarifverträge [müssen] eine automatische Erhöhung der Löhne parallel zu den Preissteigerungen der Verbrauchsgüter garantieren“.
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Kapitalistische Ausbeutung und imperialistische Unterdrückung führen zwar immer wieder zu Massenkämpfen. Spontan werden dabei in der Regel jedoch nur unmittelbare Forderungen formuliert. Zum Beispiel die Verteidigung oder Erhöhung der Reallöhne oder die Verteidigung oder Durchsetzung gewisser demokratischer Rechte.
Die Herrschenden sind erfahren genug, um die Brisanz von großen außerparlamentarischen Bewegungen zu verstehen. Deshalb versuchen sie, diese zu verhindern und − wenn das nicht gelingt − zu integrieren oder notfalls zu unterdrücken. Mit den Methoden von „Zuckerbrot und Peitsche“, „Brot und Spielen“, „Teilen und Herrschen“, „Mediation und Konsultation“, „Ruhe und Ordnung“ und dergleichen mehr ist das auch immer wieder möglich.
Gelingt es dem Kapital, der Staatsmacht und den systemkonformen Medien aber nicht, solche Massenkämpfe zu verhindern oder niederzuhalten, kann die kapitalistische Klasse – und ihr politisches Personal – Zugeständnisse machen. Das wird umso eher geschehen, je mehr sie über Instrumente verfügt, um Konzessionen auszuhöhlen oder ganz zurückzunehmen.
So können etwa Lohnsteigerungen seitens der Firmenleitungen durch Preiserhöhungen von Waren oder durch „Kostensenkungen“ in der Produktion zugunsten des Profits kompensiert werden.
Wenn Bewegungen der arbeitenden Klasse soziale Verbesserungen durchsetzen, können zum Beispiel bestimmte Steuern erhöht werden. Letztlich zahlt dann doch die große Mehrheit für die Zugeständnisse des Staates.
Übergangsforderungen
Dieser Teufelskreis ist nur zu durchbrechen, wenn sich Massenbewegungen Übergangsforderungen zu eigen machen. Deren Besonderheit ist, dass ihre Durchsetzung das normale Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft und des bürgerlichen Staates grundsätzlich infrage stellt.
Übergangsforderungen sind so zu formulieren, dass sie für eine große Öffentlichkeit verständlich sind. Sie müssen an aktuellen Problemen und an den jeweiligen Bedingungen anknüp- fen. Nur dann können sie populär werden.
Ihr Inhalt und die Tiefe der zu ihrer Durchsetzung erforderlichen Klassenauseinandersetzungen können dann zum einen die Logik des kapitalistischen Systems im Denken und im Handeln der Kämpfenden infrage stellen. Zum anderen können sie die Bildung von Formen selbstorganisierter demokratischer Gegenmacht der Massen befördern (Komitees, Räte …). (Vgl. hierzu Ernest Mandel, Einführung in den Marxismus, Frankfurt am Main 1979, S. 146 f.).
Um das Klassenbewusstsein der abhängig Beschäftigten entwickeln zu können, braucht es also vor allem die Ermöglichung von Kampferfahrungen und eine „Strategie der Übergangsforderungen“. Letztere wird nur durch eine organisierte politische Verbindung mit den aktivsten und fortschrittlichsten Sektoren der arbeitenden Klasse entwickelt und vermittelt werden können.
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Die „gleitende Lohnskala“ ist keine aus Computerspielen kopierte verrückte Idee. Es ist aber kaum verwunderlich, dass angesichts der politischen und medialen Verhältnisse hierzulande weitestgehende Ahnungslosigkeit über dieses hochaktuelle Thema vorherrscht. Versuchen wir also mit unseren bescheidenen Mitteln, diesem Missstand ein klein wenig abzuhelfen.
Vor allem in Frankreich (von 1952 bis 1982) und Italien (von 1975 bis 1992) war die „gleitende Lohnskala“ jahrzehntelang in unterschiedlicher Form Realität, – bis sie von jeweils sozialdemokratisch geführten Regierungen abgeschafft wurde.
Auch heute noch werden allerdings sowohl in Belgien (seit 1919/20) als auch in Luxemburg (seit 1921) Löhne, Gehälter und sonstige Bezüge wie Renten automatisch an die Preissteigerungen angepasst – sehr zum Ärger der Europäischen Kommission, des Internationalen Währungsfonds, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der Ratingagenturen und der dortigen prokapitalistischen Regierungen und ihrer Auftraggeber.
Belgien
Wenn in Belgien der „Schwellenindex“ überschritten wird, dann ist das ein Beleg dafür, dass die Preise gestiegen sind und das Leben teurer geworden ist. Aufgrund gesetzlicher Bestimmungen müssen dann die Renten, die Soziallleistungen und auch die Beamtengehälter ansteigen, denn sie sind an den Index gebunden. Meist folgt dem eine Anhebung der Löhne und Gehälter in der Privatwirtschaft eine gewisse Zeit später.
Der „Schwellenindex“ errechnet sich aus den Preissteigerungen eines festgelegten Waren- und Dienstleistungskorbs. Er misst die Teuerungsrate für die Ausgaben der privaten Haushalte. Übersteigt sie eine bestimmte Grenze, dann steigt auch der Schwellenindex.
Der den Index bestimmende Warenkorb beinhaltet etwa sechshundert Produkte und Dienstleistungen. Er wird jedes Jahr mit neuen Waren und Dienstleistungen bestückt, die Ausdruck eines veränderten Konsumverhaltens sind.
Vor allem die aktiven belgischen Gewerkschaften verteidigen dieses System der Kaufkrafterhaltung gegen die fortgesetzten Angriffe des Kapitals und seiner politischen Handlager.
Luxemburg
In Luxemburg werden die Löhne und Gehälter automatisch angepasst, sobald die kumulierte Inflation 2,5 % des Index der Lebenshaltungskosten (Verbraucherpreisindex) erreicht.
Das Nationale Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien (Statec) ermittelt monatlich die Höhe des Index der Verbraucherpreise mit Bezug auf einen festgelegten Basiswert.
Auf dieser Grundlage kann dann halbjährlich ein „gleitender Durchschnittswert“ für das letzte halbe Jahr ermittelt werden. Sobald dieser Wert eine bestimmte „Fälligkeitsquote“ erreicht oder überschreitet, löst sich im Folgemonat automatisch der Mechanismus der gleitenden Lohn- und Gehaltsskala aus.
Allerding steht es im Falle „großer Schwierigkeiten“ der Regierung frei, den Mechanismus der „gleitenden Lohnskala“ vor- übergehend auszusetzen.
Sowohl in Belgien als auch in Luxemburg ersetzt die „gleitende Lohnskala“ nicht das gewerkschaftliche Aushandeln und Durchsetzen von Entgelt-Tarifverträgen.
Jedoch erfordert − wie eingangs angemerkt − eine umfassende „gleitende Lohnskala“ im Sinne des „Übergangsprogramms“ unter anderem auch „Tarifverträge [, die] eine automatische Erhöhung der Löhne parallel zu den Preissteigerungen der Verbrauchsgüter garantieren“.
Von großer Bedeutung ist es aber, sich nicht auf die (Noch-)Beschäftigten zu beschränken, sondern immer die Einheit der gesamten arbeitenden Klasse im Auge zu behalten. Das kann insbesondere durch die Verknüpfung mit der Losung der „gleitenden Skala der Arbeitszeit“ geschehen, die die Interessen der Erwerbslosen und der prekär Arbeitenden mit in den Blick nimmt.
H. N., 30. Mai 2022.
Unter den Bedingungen des sich zersetzenden Kapitalismus führen die Massen weiter das düstere Leben von Unterdrückten, die jetzt mehr denn je von der Gefahr bedroht sind, in den Abgrund der Verelendung geworfen zu werden. Sie sind gezwungen, ihr bißchen Brot zu verteidigen, wenn sie es schon nicht vergrößern oder verbessern können. Es besteht weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit, hier all die verschiedenen Teilforderungen aufzuzählen, die jeweils aus den konkreten nationalen, lokalen oder gewerkschaftlichen Bedingungen hervor- gehen. Aber zwei wirtschaftliche Grundübel, in denen sich die wachsende Sinnlosigkeit des kapitalistischen Systems zusammenfaßt, nämlich die Erwerbslosigkeit und die Teuerung, erfordern verallgemeinerte Losungen und Kampfmethoden.
Die IV. Internationale erklärt der Politik der Kapitalisten einen unversöhnlichen Krieg, einer Politik, die zu einem beträchtlichen Teil – genauso wie die Politik ihrer Agenten, der Reformisten – darauf abzielt, auf die Arbeiterschaft die ganze Last des Militarismus, der Krise, der Zerrüttung der Geldsysteme und anderer Übel des kapitalistischen Niedergangs abzuwälzen. Die IV. Internationale fordert Arbeit und eine würdige Existenz für alle.
Weder Geldinflation der Währung noch Stabilisierung können dem Proletariat als Losungen dienen, denn das sind nur die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Gegen die Teuerung, die mit dem Herannahen des Krieges einen immer zügelloseren Charakter annehmen wird, kann man nur kämpfen mit der Losung der gleitenden Lohnskala. Das heißt, daß Tarifverträge eine automatische Erhöhung der Löhne parallel zu den Preissteigerungen der Verbrauchsgüter garantieren müssen.
Will sich das Proletariat nicht selbst dem Untergang ausliefern, dann darf es nicht dulden, daß ein wachsender Teil der Arbeiterschaft zu chronisch erwerbslosen Armen gemacht wird, der von den Brosamen einer sich zersetzenden Gesellschaft leben muß. Das Recht auf Arbeit ist das einzig ernsthafte Recht, das der Arbeiter in einer auf Ausbeutung begrün- deten Gesellschaft besitzt. Jedoch wird ihm dieses Recht in jedem Augenblick genommen. Es ist an der Zeit, sowohl gegen die „strukturelle“ wie die „konjunkturelle“ Erwerbslosigkeit neben der Forderung nach öffentlichen Arbeiten die Losung der gleitenden Skala der Arbeitszeit zu propagieren. Die Gewerkschaften und andere Massenorganisationen müssen diejenigen, die Arbeit haben, und diejenigen, die keine haben, durch die gegenseitige Verpflichtung zur Solidarität verbinden. Auf dieser Grundlage muß die verfügbare Arbeit unter alle verfügbaren Arbeitskräfte aufgeteilt und so die Dauer der Arbeitswoche bestimmt werden. Der Durchschnittslohn jedes Arbeiters bleibt der gleiche wie bei der bisherigen Arbeitswoche. Der Lohn, mit einem fest garantierten Minimum, folgt der Bewegung der Preise. Kein anderes Programm ist für die jetzige Periode der Katastrophen annehmbar.
Die Besitzenden und ihre Anwälte werden die „Unmöglichkeit“ darlegen, diese Forderungen zu verwirklichen. Die kleineren Kapitalisten, insbesondere diejenigen, die dem Ruin entgegengehen, werden außerdem auf ihre Buchführung verweisen. Die Arbeiter werden kategorisch solche Argumente und Empfehlungen zurückweisen. Es handelt sich nicht um den „normalen“ Zusammenstoß entgegengesetzter materieller Interessen. Es geht darum, das Proletariat vor Verfall, Demoralisierung und Ruin zu bewahren. Es geht um Leben und Tod der einzig schöpferischen und fortschrittlichen Klasse und damit um die Zukunft der Menschheit selbst. Wenn der Kapitalismus unfähig ist, die Forderungen zu befriedigen, die unausweichlich aus den Übeln hervorgehen, die er selbst erzeugt hat, dann soll er untergehen! Die „Möglichkeit“ oder „Unmöglichkeit“, diese Forderungen zu verwirklichen, ist hierbei eine Frage des Kräfteverhältnisses, die nur durch den Kampf gelöst werden kann. Durch diesen Kampf – was auch immer seine unmittelbaren praktischen Erfolge sein mögen – werden die Arbeiter am besten die Notwendigkeit begreifen, die kapitalistische Sklaverei zu beseitigen.