„Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer das laut zu sagen, was ist.“ (Rosa Luxemburg)
Ernest Mandel ist vor 25 Jahren, am 20. Juli 1995 gestorben. Kurz danach ist in einer Sonderausgabe der Zeitung Avanti – die internationale der folgende Nachruf veröffentlicht worden. Wir geben ihn unverändert wieder.*
Ernest Mandel (1923-1995)
Ernest Mandels Tod bedeutet einen unersetzlichen Verlust – für unsere Organisation, die IV. Internationale, und für die gesamte Arbeiterbewegung.
Ernest Mandel wird am 5. April 1923 in Frankfurt am Main geboren. Seine Eltern, deutsche Emigranten jüdischer Herkunft, leben damals bereits in Belgien. In Antwerpen wächst Ernest heran. Die Wirtschaftskrise und das daraus resultierende Elend der arbeitenden Klasse, der Aufstieg des Faschismus in Europa, das Versagen von Sozialdemokratie und Stalinismus, die Kriegsgefahr und der Beginn des 2. Weltkrieges prägen den Jungen. Die revolutionär-kommunistische Familientradition, der Kontakt mit klassenbewußten Antwerpener Arbeitern und mit deutschen „trotzkistischen“ Flüchtlingen, die die Widerstandszeitung Unser Wort herausgeben, ermöglichen ihm die Orientierung. In dieser Zeit entsteht seine besonders enge Verbindung zur deutschen Arbeiterbewegung und zu deren marxistischen Köpfen – Karl Marx, Friedrich Engels und Rosa Luxemburg.
Der Widerstandskämpfer
Mit 17 Jahren tritt Ernest Mandel der belgischen Sektion der IV. Internationale bei. Wir schreiben das Jahr 1940, das Jahr in dem Trotzki auf Geheiß Stalins in Mexiko ermordet wird. Ernest ist in der Résistance gegen die faschistische Besatzung Belgiens aktiv. Als Mitglied der PSR (Revolutionär Sozialistische Partei) organisiert er Zellen unter den Bergarbeitern und den Metallarbeitern von Charleroi und Liège. Er verteilt Flugblätter an Soldaten der Wehrmacht. Mehrere Male wird er von der deutschen Besatzungsmacht verhaftet, aber es gelingt ihm zu entkommen. Es spricht für seine Beredsamkeit und Überzeugungskraft, daß er seine deutschen Gefängniswärter politisch für sich einnehmen kann. Gegen Kriegsende wird er erneut festgenommen, vor ein deutsches Militärtribunal gestellt und wegen seiner Widerstandstätigkeit 1944 ins „Reich“ deportiert und gefangen gehalten. Zum Glück stufen ihn die Faschisten als „Politischen“ und nicht als Juden ein. lm April 1945 gelingt ihm die Flucht aus einem Lager für Zwangsarbeiter bei Köln zurück nach Belgien. Seine Sprachkenntnisse und sein Instinkt helfen ihm, alle lebensbedrohenden Situationen gut zu überstehen. In Belgien nimmt er umgehend wieder Kontakt mit seiner Organisation auf. Diese harten Jahre bestärken ihn in seinem unerschütterlichen und ansteckenden Optimismus, der so viele Menschen ermutigt.
Noch während des Krieges unterstützt er die Arbeit des im Untergrund gebildeten Europäischen Sekretariats der IV. Internationale. Ab 1946 bis zu seinem Tod wird er immer wieder in die internationale Leitung unserer Organisation gewählt.
Der Gewerkschafter
Von 1954 bis 1962 arbeitet Ernest Mandel als Sachverständiger in der wirtschaftlichen Studienkommission des belgischen Gewerkschaftsverbandes FTGB. Er ist einer der Hauptberater des stellvertretenden Generalsekretärs des FTGB und Führers der Gewerkschaftslinken, André Renard. lm FTGB ist Ernest Mandel einer der Initiatoren des Programms der „antikapitalistischen Strukturreformen“.
Die linken gewerkschaftlichen Aktivitäten bereiten den spontanen Ausbruch des belgischen Generalstreiks Ende 1960 / Anfang 1961 vor, der sich gegen die Sozialabbau-Pläne der bürgerlichen Regierung Eyskens richtet. Ernest befindet sich mitten im Geschehen. Er kommt täglich mit hunderten Delegierten und Gewerkschaftsaktivisten in Kontakt, dem bewußtesten Teil der belgischen Arbeiterklasse. Hier kann er die Beziehungen zwischen der Eigenaktivität der kämpfenden Klasse und ihren Organisationen, zwischen der Vorhut und der großen Masse, zwischen dem linken Flügel und der Bürokratie genau untersuchen und Schlußfolgerungen ziehen. Revolutionäre Organisationen, mögen sie noch so klein sein, dürfen bei derartigen Massenbewegungen nicht sektiererisch daneben stehen. Sie müssen sich einmischen – ohne erhobenen Zeigefinger.
Der Journalist
Neben seiner gewerkschaftlichen Tätigkeit beteiligt sich Ernest Mandel an der Gründung der linkssozialistischen Zeitung La Gauche / Links und wird deren Chefredakteur. Für die internationale sozialistische Presse schreibt er ungezählte Artikel – so auch für deutsche Zeitschriften wie Pro und Contra oder Sozialistische Politik. In seinen Artikeln analysiert er die Realität, um sie verändern zu können. Aber er scheut auch keineswegs die Polemik mit dem politischen Gegner. 1964 wird er – wie alle antikapitalistischen Linken – aus der Sozialdemokratie, der Sozialistischen Partei Belgiens, ausgeschlossen.
Das gesamte Ergebnis seiner journalistischen Tätigkeit ist noch zu erschließen – ein Steinbruch der Erkenntnis, trotz aller zeitbedingten Besonderheiten.
Der Internationalist
Ernest Mandel ist seit seiner Jugend ein überzeugter Internationalist. 1950 beteiligt er sich an den Hilfsbrigaden, die die sozialistischen Ansätze von Titos Jugoslawien im Konflikt mit der konterrevolutionären Bürokratie Stalins unterstützen. Er engagiert sich danach für den algerischen Widerstand gegen die französische Kolonialmacht. Den Sturz der Batista-Diktatur in Kuba 1959 durch die Revolutionäre um Fidel Castro und Ernesto Che Guevara begrüßt er freudig. Mehrfach hält er sich in Kuba auf. 1963/64 beteiligt er sich auf Einladung Che Guevaras an der Debatte über die Entwicklung der kubanischen Wirtschaft.
Sicherlich ist für ihn der Mai ´68 in Frankreich eines seiner Schlüsselerlebnisse. Er zweifelt nicht daran, daß in Westeuropa gute Chancen für eine sozialistische Revolution bestehen, und nun sieht er sich bestätigt. In den Massenveranstaltungen, der erneuten Erfahrung eines landesweiten Generalstreiks, den geheimen Versammlungen der Organisation und auf den Barrikaden von Paris spürt er mit seinen französischen Genossinnen und Genossen den Atem der geschichtlichen Veränderung. Auch im „heißen Herbst“ 1969, den Massenstreiks der italienischen Arbeiterklasse, und in der portugiesischen „Revolution der Nelken“ 1974 ist er präsent, versucht er, Einfluss auf die politische Entwicklung zu nehmen.
Wie ein roter Faden zieht sich die Parteinahme für die Arbeiteraufstände im Osten durch sein Leben. Ob im Fall der DDR 1953, Ungarns 1956, der CSSR 1968 oder Polens 1980/81 – stets tritt er für die antibürokratische Revolution, für die Verwirklichung sozialistischer Demokratie und gegen die Restauration des Kapitalismus ein. Der Zusammenbruch des Stalinismus nach 1989 bestätigt seine Kritik an der Bürokratie, aber die Hoffnung auf eine antikapitalistische Entwicklung erfüllt sich nicht. Wegen seiner revolutionären, internationalistischen Aktivitäten wird der Planet für Ernest immer kleiner: Einreiseverbote sowohl im Osten (UdSSR, VR China, Osteuropa einschließlich der DDR) als auch im Westen (USA, Frankreich, Schweiz, Australien … und natürlich in der BRD, wo ihm die sozialliberale Koalition von 1972 bis 1978 den Zugang verwehrt). Sein Eintreten für eine Solidarität ohne Grenzen kann dies zwar erschweren, nicht aber verhindern.
Der Theoretiker
Ernest Mandel ist ein wissenschaftlicher Kopf von Weltrang, der Vertreter eines „offenen Marxismus“. Zwar wird sein Studium der Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1941 unterbrochen: Die deutschen Besatzer lassen die Universität Brüssel schließen. Aber in den 60er Jahren setzt er sein Studium in Paris fort. Die Regierenden in der BRD und Westberlin verhindern in den 70er Jahren mehrfach seine Berufung an Lehrstühle deutscher Universitäten. Seit 1982 unterrichtet er als Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Freien Universität in Brüssel – ohne jedes professorale Gehabe.
Ernest Mandel hinterlässt ein sehr bedeutsames und umfangreiches Werk. Es setzt sich kritisch mit der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit auseinander. Es versucht aus einer internationalistischen und geschichtlich geprägten Perspektive, Antworten auf die aktuellen Fragen – nicht nur des revolutionären Flügels – der Arbeiterbewegung zu geben. Seine zahlreichen Bücher, Broschüren, seine ungezählten Artikel, Aufsätze, Interviews, Reden und Diskussionsbeiträge sind auf allen fünf Kontinenten, in vielen Sprachen verbreitet.
Unermüdlich tritt er darin für eine Welt ohne Kriege, Zerstörung, Ausbeutung, Unterdrückung und Hunger ein. Unablässig verteidigt er die Perspektive einer revolutionären Überwindung von Kapitalismus und Stalinismus. Immer wieder erklärt er die für die Emanzipation notwendige Selbsttätigkeit und Selbstorganisation der arbeitenden Klasse, der Frauen und der Jugend. Vehement setzt er sich für den gleichzeitigen Aufbau revolutionärer Organisationen in den verschiedenen Staaten und einer revolutionären Internationale ein. All das sind ihm Voraussetzungen, um die eigenen Interessen der Unterdrückten gegen die Angriffe der Herrschenden erfolgreich verteidigen zu können, ist ihm Vorbedingung für eine rätedemokratische, sozialistische Alternative, einer Gesellschaft für die Vielen, in der nicht mehr einige wenige das Sagen haben.
Das Erbe
Ernest Mandels Leben ist Zeugnis seines bedingungslosen Einsatzes für den revolutionären Sozialismus, für die IV. Internationale – „meiner absoluten Priorität“, wie er in seinem Testament schreibt. Ein Leben, das geprägt wird aus seinen eigenen politischen Erfahrungen seit seiner Jugend. Ein Leben, das gespeist wird aus der Tradition eines unverfälschten Marxismus, der von dem ausgeht, was ist.
Ernest Mandel ist am 20. Juli 1995 gestorben. Aber seine Ideen leben weiter. Seine revolutionäre Unbeugsamkeit und seinen – trotz aller Rückschläge – heiteren Optimismus werden wir nicht vergessen. Wir haben einen Freund und Genossen verloren. Wir werden seinen Kampf gegen die Barbarei und für den Sozialismus fortsetzen – geduldig und mit langem Atem!
* [Der unsignierte Text ist von W.A. verfasst worden.]