Insze­nie­rung der Albträume

Zu den Pro­tes­ten gegen Maß­nah­men zur Seu­chen-Bekämp­fung

 

Hel­mut Dahmer

Die Tra­di­ti­on aller toten Geschlech­ter las­tet wie ein Alp auf dem Gehir­ne der Leben­den.“ (Marx)*

Francisco de Goya, Das Begräbnis der Sardine, Öl auf Holz, 1816. (Foto: Gemeinfrei.)

Fran­cis­co de Goya, Das Begräb­nis der Sar­di­ne, Öl auf Holz, 1816. (Foto: Gemeinfrei.)

Im Früh­jahr 1945, als ihnen däm­mer­te, dass es mit dem ver­hei­ße­nen „End­sieg“ nichts wür­de, such­ten vie­le der „haupt­be­las­te­ten“ Nazis ihr Heil in der Flucht – etwa über die „Rat­ten-Linie“ nach Latein­ame­ri­ka –, ande­re tauch­ten unter und leg­ten sich flugs eine „neue“, fal­sche Iden­ti­tät zu. Die Mehr­heit unse­rer Lands­leu­te aber flüch­te­te sich ins „Ver­ges­sen“.

Die­se mehr oder weni­ger geglück­te, ange­streng­te „kol­lek­ti­ve Amne­sie“ hielt ein paar Jahr­zehn­te lang vor, so dass Opti­mis­ten sogar den Ein­druck gewin­nen konn­ten, der „Anti­se­mi­tis­mus ohne Juden“ sei an ein Ende gekom­men. Im Gefol­ge der liber­tä­ren Min­der­hei­ten-Revol­te der 68er begann dann ein lang­wie­ri­ger „Aufarbeitungs“-Prozess der ver­schüt­te­ten Geschich­te der fata­len 12 Jah­re, der, wie die Wie­der­kehr faschis­ti­scher Ter­ro­ris­ten und Par­tei­en zeigt, der inter­ge­ne­ra­tio­nell tra­dier­ten „auto­ri­tä­ren“ Men­ta­li­tät etwa eines Drit­tels der Bevöl­ke­rung kei­nen Abbruch getan hat.

Die seit 1945 ein­ge­üb­te Fähig­keit, die NS-Ver­gan­gen­heit zu „ver­ges­sen“, trifft auch deren Wie­der­gän­ger. Anders ist weder das „Erstau­nen“, das die Bevöl­ke­rung und die Reprä­sen­tan­ten der drei Gewal­ten bei jedem neu­en Ter­ror­akt, jedem Waf­fen­fund und jedem „neo“-faschistischen „Chat“ über­kommt, zu erklä­ren, noch die Unfä­hig­keit und der Unwil­le, die NSU-Ban­de zu ver­haf­ten und ihr Unter­stüt­zer-Umfeld aufzurollen.

Die Brand­stif­ter und Mör­der der 1990er Jah­re, die auf die Wie­der­ver­ei­ni­gung der bei­den deut­schen Teil­staa­ten, die sie über­for­der­te, reagier­ten, indem sie etwa 100 Flücht­lin­ge und „Aus­län­der“ umbrach­ten, und die Atten­tä­ter von Hal­le und Hanau bil­den Glie­der einer Ket­te. Und ein­zig die fort­wir­ken­de kol­lek­ti­ve Amne­sie hin­dert unse­re Lands­leu­te, den Zusam­men­hang die­ser Ket­ten­glie­der wahr­zu­neh­men. Sie sehen nicht, dass die Täter Wie­der­ho­lungs-Täter sind, die ihnen die ver­pön­te Ver­gan­gen­heit, die sie noch immer nicht erin­nern wol­len, vor­spie­len: Pogro­me und Mord­ak­tio­nen, wie sie im „Drit­ten Reich“ all­täg­lich waren. Was nicht erin­nert wer­den soll (und dann bald auch nicht mehr erin­nert wer­den kann), drängt zur Dar­stel­lung (zum „acting out“). Doch die­se öffent­li­chen Dar­bie­tun­gen wer­den so wenig ver­stan­den wie der Sinn von Träu­men und Sym­pto­men. Dar­um gerät auch die Abwehr von Anti­se­mi­tis­mus, Xeno­pho­bie und Neo­fa­schis­mus so hilf­los wie vor 30 Jahren.

Reak­tio­nen
War die (fata­le) Reak­ti­on auf den mili­tä­ri­schen Zusam­men­bruch der NS-Zustim­mungs­dik­ta­tur ein nach­träg­li­ches Unge­sche­hen­ma­chen-Wol­len, so erle­ben wir gegen­wär­tig bei einem Teil unse­rer Bevöl­ke­rung (etwa 10 Pro­zent) eine ähn­lich fata­le Reak­ti­on auf die Coro­na-Pan­de­mie, bei der es sich um eine als „Natur-Kata­stro­phe“ ver­kann­te Sozi­al-Kata­stro­phe han­delt. Die­se Ver­wechs­lung wird im Übri­gen eine ange­mes­se­ne Seu­chen-Pro­phy­la­xe ver­hin­dern und dadurch über kurz oder lang neue, ähn­li­che Kata­stro­phen heraufführen.

Francisco de Goya, Fledermäuse, menschliche Gesichter und Pferd, Tuschezeichnung, 1796 - 1797. (Foto: Gemeinfrei.)

Fran­cis­co de Goya, Fle­der­mäu­se, mensch­li­che Gesich­ter und Pferd, Tusche­zeich­nung, 1796 - 1797. (Foto: Gemeinfrei.)

Im Arse­nal der (psy­cho­ana­ly­tisch erkann­ten) „Abwehr­me­cha­nis­men“ ist die Ver­leug­nung der Vor­läu­fer der De-Rea­li­sie­rung (also des Unge­sche­hen-Machens) und des Ver­ges­sens. Die NS-„Volksgemeinschaft“ ver­leug­ne­te einst ihre kan­ni­ba­li­sche Kehr­sei­te (näm­lich die „Gehei­men Reichs­sa­chen“ der Kran­ken­mor­de und des Holo­causts) und ver­such­te sie dann zu vergessen.

Die­se vor Jahr­zehn­ten ange­wöhn­ten kol­lek­tiv-psy­cho­lo­gi­schen Not­hil­fen wur­den aktua­li­siert, als Anfang 2020 die neu­ar­ti­ge COVID-19-Epi­de­mie bei gro­ßen Grup­pen der Bevöl­ke­rung ein ähn­li­ches Ohn­machts­ge­fühl aus­lös­te wie einst der mili­tä­ri­sche Zusam­men­bruch Hit­ler­deutsch­lands bei des­sen Funk­tio­nä­ren und Mit­läu­fern. Auch dies­mal war über­wäl­ti­gen­de Angst (nun vor der Seu­che) die Mut­ter der Ver­leug­nung. Und wie der Glau­be an den „End­sieg“ die Gene­ra­ti­on der Groß­el­tern bei der Fah­nen­stan­ge hielt, bis es zu spät war, so „ret­ten“ sich die Verquer-„Denker“ nun in den Glau­ben, es gebe gar kei­ne lebens­be­dro­hen­de Pan­de­mie, es han­de­le sich nur um ein Gerücht, näm­lich die mas­sen­me­di­al pro­pa­gier­te Erfin­dung eini­ger Mil­li­ar­dä­re und Mana­ger von phar­ma­zeu­ti­schen Kon­zer­nen, die die par­la­men­ta­ri­schen Regie­run­gen als ihre Mario­net­ten ein­setz­ten, um die Bevöl­ke­rung zu mani­pu­lie­ren (oder „aus­zu­wech­seln“) und dadurch ihre Pro­fi­te zu steigern.

Ver­keh­run­gen
So begann auf Stra­ßen und Plät­zen deut­scher (und öster­rei­chi­scher) Städ­te eine wei­te­re Insze­nie­rung von „Furcht und Schre­cken des ‚Drit­ten Rei­ches‘“, dies­mal frei­lich, wie aus der „Traum­ar­beit“ (und der Theo­rie der „Abwehr­me­cha­nis­men“) bekannt, unterm Impe­ra­tiv der „Ver­keh­rung ins Gegenteil“.

Hat­te der „NSU“ die „unge­sche­hen“ gemach­te, dar­um für Bevöl­ke­rung und Exe­ku­ti­ve unkennt­lich gewor­de­ne Jagd auf (belie­bi­ge) „Frem­de“ in Sze­ne gesetzt, so spie­len die Coro­na-Leug­ner das alte Schre­ckens­stück nun mit ver­tausch­ten Rol­len. War es die „Bot­schaft“ der Zsch­ä­pe und Co.: Seht her, so ging es damals hier zu, und wir zei­gen es Euch, so lau­tet die Bot­schaft der Zehn­tau­sen­de, die gegen­wär­tig gegen die Seu­chen­be­kämp­fungs-Maß­nah­men der Regierung(en) demons­trie­ren: Seht her, wir spie­len Euch vor, wie unse­re Groß­el­tern vor 80 Jah­ren – gemein­sam mit den damals Ver­folg­ten – sich hät­ten weh­ren sol­len. Wir tre­ten in der Rol­le der „Juden“ von damals auf, nein: Wir sind die unge­impf­ten „Juden“ von heute.

Wie aus der zen­su­rie­ren­den, ent­stel­len­den Über­set­zung der laten­ten (ver­bor­ge­nen) Traum­ge­dan­ken in die rät­sel­haf­ten Bil­der der „mani­fes­ten“ (beim Erwa­chen erin­ner­ten) Träu­me bekannt, staf­fie­ren die Umzugs­teil­neh­mer sich mit lau­ter unver­stan­de­nen Erin­ne­rungs-Requi­si­ten aus, schrei­en „Wider­stand!“, tra­gen selbst­fer­tig­te Juden­ster­ne mit dem Schrift­zug „Unge­impft“ und para­die­ren als wie­der­auf­er­stan­de­ne „Geschwis­ter Scholl“.

Francisco de Goya, Universelle Sprache, Federzeichnung, 1797. (Foto: Gemeinfrei.)

Fran­cis­co de Goya, Uni­ver­sel­le Spra­che, Feder­zeich­nung, 1797. (Foto: Gemeinfrei.)

Zehn­tau­sen­de „spie­len“ mit dem eins­ti­gen Ent­set­zen, von dem sie kei­ne Ahnung haben. Men­schen, die sich als Ernied­rig­te und Belei­dig­te füh­len, oft noch nie am poli­ti­schen Leben teil­nah­men, weder gegen sinn­lo­se Krie­ge, an denen die Bun­des­wehr betei­ligt war, pro­tes­tier­ten, noch gegen die auf deut­schem Ter­ri­to­ri­um sta­tio­nier­ten Atom­waf­fen, weder gegen sozia­le Ungleich­heit, noch gegen Kor­rup­ti­on auf die Stra­ße gin­gen, wäh­nen sich in einer „Dik­ta­tur“.

Rea­li­tä­ten
Wie jeder Wahn hat frei­lich auch die­ser einen rea­len Kern. Das ist die Erfah­rung, dass sie, trotz frei­er Wah­len, Objek­te einer wirt­schaft­li­chen Ent­wick- lung sind, die aus Ent­schei­dun­gen anony­mer Inves­to­ren resul­tiert, und dass sie poli­tisch von Berufs­po­li­ti­kern abhän­gig sind, die sie zwar wäh­len, aber nicht kon­trol­lie­ren kön­nen, von Poli­ti­kern, die den gesell­schaft­li­chen Sta­tus quo nur ver­wal­ten, statt ihn zu ändern.

Was die Demons­tran­ten zu ihren Pro­tes­ten bewegt, ist die alt­be­kann­te „anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Sehn­sucht“ (Gre­gor Stras­ser), die in Deutsch­land, nach der blu­tig nie­der­ge­schla­ge­nen Revo­lu­ti­on von 1918, auch eine „anti­so­zia­lis­ti­sche“ war, wes­halb die Arbeits­lo­sen und die ent­eig­ne­ten Mit­tel­schich­ten dem natio­na­lis­ti­schen Mes­si­as Hit­ler in Scha­ren zulie­fen, der von ihnen „nur“ ver­lang­te, drein­zu­schla­gen, „jüdi­sches“ Eigen­tum zu „über­neh­men“ und in ande­ren Län­dern Beu­te zu machen.

Die heu­ti­gen Verquer-„Denker“ wol­len zunächst ein­mal ihr „nor­ma­les Leben“, ihr „Land“ und ihre „Frei­heit“ „zurück“, und das ist eben die, kei­ne „Mas­ke“ zu tra­gen, sich nicht imp­fen las­sen zu müs­sen, ohne „Lock­downs“, Aus­gangs­sper­ren und „Abstän­de“ zu leben …

Dar­über hin­aus aber wür­den sie gern, nach Washing­to­ner Vor­bild, den „Reichs­tag“ stür­men, die „Coro­na-Dik­ta­tur“ stür­zen und die dafür Ver­ant­wort­li­chen „an den Inter­na­tio­na­len Gerichts­hof“ aus­lie­fern. In ihren Phan­ta­sien über gehei­me Wel­ten­len­ker („Ver­schwö­rer“), lebt deren Pro­to­typ, die faschis­ti­sche Legen­de von der „Jüdi­schen Welt­ver­schwö­rung“, wie­der auf, und das ist mit­nich­ten eine „Theo­rie“, son­dern ein Wahnsystem.

Flucht­be­we­gun­gen
Um die Fata Mor­ga­na des „Drit­ten Reichs“ zu kom­plet­tie­ren, fehl­ten bis­her nur noch die Flücht­lin­ge aus der „Coro­na-Dik­ta­tur“, die für sie Weg­be­rei­ter eines „ille­ga­len Ter­ror- und Lager­staats“ ist. An die Stel­le der his­to­ri­schen Zufluchts­län­der der Flücht­lin­ge aus Hit­ler­deutsch­land (Hol­land, Frank­reich, Eng­land, USA) ist nun die bul­ga­ri­sche Schwarz­meer­küs­te getre­ten, wo die Emi­gran­ten-Dar­stel­ler bereits abge­schot­te­te „Kolo­nien“ gebil­det haben – aus­ge­rech­net in einem der Armen­häu­ser Euro­pas, dem Land mit der höchs­ten Coro­na-Ster­be­ra­te der EU.

Francisco de Goya, Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, Aquatinta-Radierung, um 1797. (Foto: Gemeinfrei.)

Fran­cis­co de Goya, Der Schlaf der Ver­nunft gebiert Unge­heu­er, Aqua­tin­ta-Radie­rung, um 1797. (Foto: Gemeinfrei.)

Dort sind die neu­en deut­schen Emi­gran­ten zu fin­den, die nicht ver­folgt wer­den, son­dern frei­wil­lig gehen, und in deren Lebens- und Traum­welt eine Spie­gel-Repor­ta­ge von Wal­ter Mayr Ein­blick gewährt: 
„Frü­her war das Leben in Deutsch­land frei­er …“ „Wir haben immer mehr Zulauf von Leu­ten, die nur noch weg­wol­len.“ „Für euch sind wir alle nur Schwurb­ler, Alu­hü­te, ihr wollt uns in eine Ecke drän­gen, an die Wand stel­len.“ „Bei vie­len Deut­schen nimmt die Angst zu, ohne Imp­fung aus­ge­grenzt zu wer­den, am Leben nicht mehr teil­ha­ben zu kön­nen, die Kin­der zwangs­imp­fen las­sen zu müs­sen.“ Oder: Ich will nichts zu tun haben mit Jour­na­lis­ten, die „als Hein­zel­männ­chen dar­an mit­wir­ken“, dass Mil­lio­nen Men­schen hin­ters Licht geführt wer­den wie dum­me Scha­fe, weil sie ihren „Medi­en blind glau­ben“ – Opfer per­fek­ter Gehirn­wä­sche, die „nicht mehr unter­schei­den kön­nen zwi­schen eige­nen und frem­den Gedan­ken.“ „Den Maschen­draht­zaun, der durch ihre Köp­fe geht, spü­ren sie nicht, solan­ge sie noch eine und noch eine Test­sprit­ze in die Blut­bahn bekommen.“

Deutsch­land (und Öster­reich) sind wun­der­li­che Gesell­schaf­ten, die auch nach Jahr­zehn­ten von ihrer ent­setz­li­chen Ver­gan­gen­heit nicht los­kom­men. Als Reak­ti­on auf die COVID-19-Pan­de­mie und die Ver­su­che der Regierung(en), sie ein­zu­däm­men, ent­wi­ckelt sich – drei Jahr­zehn­te nach dem Sturz der spät­sta­li­nis­ti­schen DDR-Regie­rung und ihres Sta­si-Regimes durch Mas­sen­de­mons­tra­tio­nen – neu­er­lich eine nach Zehn­tau­sen­den zäh­len­de, irgend­wie „anti­au­to­ri­tä­re“ Pro­test­be­we­gung. Ange­sichts der unge­lös­ten „gro­ßen“ gesell­schaft­li­chen Pro­ble­me han­delt es sich bei deren Zie­len offen­sicht­lich um die „Ver­schie­bung auf ein Kleins­tes“, näm­lich auf die „Befrei­ung“ von Mas­ken und Vak­zi­nen. Und weil alles „Uner­le­dig­te“ wie­der­kehrt, tre­ten als Wort­füh­rer der nun schon Mona­te anhal­ten­den Pro­test­um­zü­ge aus­ge­rech­net … Faschis­ten auf.

Fran­cis­co Goya hat­te recht: „El sue­ño de la razón pro­du­ce mons­tru­os“ – „Der Schlaf der Ver­nunft gebiert Ungeheuer“…

Wien, 6. Janu­ar 2022


Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Febru­ar 2022
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