ISO-Info­abend April 2023


100 Jah­re Ernest Mandel

R. G.

Ernest Man­del war Mar­xist, revo­lu­tio­nä­rer Sozia­list und einer der bedeu­tends­ten Ana­ly­ti­ker und Kri­ti­ker des Kapi­ta­lis­mus in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts. Er wur­de am 5. April 1923 gebo­ren und starb am 20. Juli 1995. Anläss­lich sei­nes hun­derts­ten Geburts­ta­ges erin­ner­te die ISO Rhein-Neckar an ihn im Rah­men ihres April-Infoabends.

Ernest Mandel 1970. (Foto: IIRE.)

Ernest Man­del 1970. (Foto: IIRE.)

In sei­nem Ein­lei­tungs­re­fe­rat gelang es unse­rem Refe­ren­ten ein­drucks­voll, das poli­ti­sche Leben und Wir­ken Ernest Man­dels nachzuzeichnen.

Ein poli­ti­sches Leben
Ernest Man­del kam schon wäh­rend sei­ner Kind­heit in einer deut­schen, jüdisch-stäm­mi­gen Fami­lie mit sozia­lis­ti­schen Ideen in Berüh­rung. Mit 17 Jah­ren orga­ni­sier­te er sich poli­tisch und kämpf­te seit­dem sein gesam­tes Leben gegen jeg­li­che Form von Aus­beu­tung und Unterdrückung.

Man­del war im Wider­stand gegen den faschis­ti­schen Ter­ror aktiv, wur­de von den Nazis als „Poli­ti­scher“ inhaf­tiert und konn­te nur mit Glück und Über­zeu­gungs­kraft sei­ner Ermor­dung ent­ge­hen. Uner­müd­lich kämpf­te er gegen die sta­li­nis­ti­schen Dik­ta­tu­ren, orga­ni­sier­te Soli­da­ri­tät mit den anti­ko­lo­nia­len Befrei­ungs- bewe­gun­gen und unter­stütz­te in den impe­ria­lis­ti­schen Län­dern Gewerk­schaf­ten und anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Bewegungen.

Mit sei­ner unver­söhn­li­chen Hal­tung gegen Kapi­ta­lis­mus und Sta­li­nis­mus zog er die poli­ti­sche Feind­schaft der Regie­ren­den die­ser Sys­te­me auf sich. Auch nach der Nie­der­la­ge des Faschis­mus 1945 blieb er nicht von Ver­fol­gung und Repres­si­on ver­schont. Er erhielt Berufs- und Ein­rei­se­ver­bo­te; nicht nur im „unfrei­en“ Osten, son­dern auch im „frei­en“ Wes­ten, nicht zuletzt in Deutschland.

Theo­re­ti­ker, Leh­rer, Organisator
Neben sei­ner poli­ti­schen und orga­ni­sa­to­ri­schen Arbeit war Man­del auch theo­re­tisch unge­mein schöp­fe­risch. Er schrieb zahl­lo­se Arti­kel in unter­schied­li­chen Spra­chen für die Pres­se der IV. Inter­na­tio­na­le, aber auch für bür­ger­li­che oder gewerk­schaft­li­che Zeitungen.

In sei­nen Büchern setz­te er sich mit aktu­el­len und his­to­ri­schen Fra­gen aus­ein­an­der. In sei­nem Buch Der Spät­ka­pi­ta­lis­mus ana­ly­sier­te er die Ent­wick­lung des Kapi­ta­lis­mus nach dem II. Welt­krieg. In sei­nem Buch Macht und Geld behan­del­te er unter ande­rem die Fra­ge der Büro­kra­tie und die not­wen­di­gen poli­ti­schen Ant­wor­ten auf die­ses Phänomen.

In zahl­lo­sen Schu­lun­gen und Vor­trä­gen begeis­ter­te er zehn­tau­sen­de Men­schen für die Idee einer sozia­lis­ti­schen Demo­kra­tie jen­seits von sta­li­nis­ti­scher Dik­ta­tur und kapi­ta­lis­ti­scher Aus­beu­tung. Dabei beton­te er immer wie­der die Not­wen­dig­keit der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und der Eigen­ak­ti­vi­tät der „Mas­sen“.

Welt­wei­te Soli­da­ri­tät war für ihn kein Sonn­tags­the­ma, son­dern wesent­li­cher Teil sei­ner poli­ti­schen Tages­pra­xis. Nicht zuletzt war er über vie­le Jahr­zehn­te ein füh­ren­des Mit­glied der IV. Inter­na­tio­na­le, für deren Auf­bau und Ent­wick­lung er sich uner­müd­lich in vie­len Län­dern einsetzte.

Dis­kus­si­on mit per­sön­li­chen Erinnerungen
Die anschlie­ßen­de Dis­kus­si­on wur­de geprägt von per­sön­li­chen Erin­ne­run­gen der Teil­neh­men­den an Ernest Man­del. Nicht zuletzt ging es dabei um sei­nen uner­schüt­ter­li­chen Opti­mis­mus, den er sich trotz per­sön­li­cher Erfah­run­gen mit Faschis­mus, Sta­li­nis­mus und der Inte­gra­ti­on der Arbei­ter­or­ga­ni­sa­tio­nen in den Kapi­ta­lis­mus bewahrt habe. Man­del sei zutiefst davon über­zeugt gewe­sen, dass die arbei­ten­de Klas­se den Kapi­ta­lis­mus über­win­den und eine mensch­li­che, soli­da­ri­sche Gesell­schaft auf­bau­en könne.

Sein Opti­mis­mus habe zwar auch zu tages­po­li­ti­schen Fehl­ein­schät­zun­gen geführt, ihn aber nicht poli­tisch blind wer­den las­sen. Er hät­te sehr wohl die Gefah­ren der Inte­gra­ti­ons­kräf­te des Kapi­ta­lis­mus, eines neu­en Faschis­mus, eines Atom­kriegs und schon 1972 auch der Umwelt­zer­stö­rung gesehen.

Nicht zuletzt sei er sich völ­lig über die läh­men­de und ver­rä­te­ri­sche Rol­le der Büro­kra­tie in der orga­ni­sier­ten Arbei­ter­be­we­gung im Kla­ren gewe­sen. Sei­ne Ant­wort dar­auf hät­te gelau­tet, die Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und Eigen­ak­ti­vi­tät der Arbei­ten­den zu för­dern. Dies sei für ihn der ein­zi­ge und rea­lis­ti­sche Aus­weg aus der poli­ti­schen Erstar­rung der Arbei­ter­be­we­gung gewesen.

Die Dis­ku­tie­ren­den waren sich einig, dass es wich­ti­ge Grün­de gibt, sich wie­der mit dem poli­ti­schen und theo­re­ti­schen Erbe Ernest Man­dels auseinanderzusetzen.


Lese­emp­feh­lun­gen:
www.ernestmandel.org/
www.inprekorr.de/586-ernest-mk.htm
www.iso-4-rhein-neckar.de/im-gedenken-an-ernest-mandel/
www.iso-4-rhein-neckar.de/ernest-mandel-buecher-infos-filme/

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Juni 2023
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