Trotzkis Faschismustheorie
R. G.
Vor 90 Jahren wurde in Deutschland die politische Macht an Hitler und seine Nazi-Partei übergeben. Dies war das Startsignal für deren mörderische Vernichtungs- und Kriegspolitik im Interesse des deutschen Großkapitals.
Die Blutspur des Faschismus liefert Millionen schrecklicher Gründe, um sich mit ihm zu beschäftigen. Dabei darf es nicht nur um einen historischen Rückblick gehen. Vielmehr gilt es, seine Wurzeln und Ursachen zu verstehen, um einen neuen, wie auch immer gearteten Faschismus zu verhindern.
Aus diesen Gründen war das Thema des Februar-Lesekreises der ISO Rhein-Neckar Trotzkis Faschismustheorie. Als Grundlage diente ein Text von Ernest Mandel aus dem Jahr 1968, der die Kernelemente dieser Theorie zusammenfasst (veröffentlicht als Theoriebeilage der Avanti² Nr. 71/72).
Trotzkis Faschismustheorie
Warum gerade Trotzki? Dieser entwickelte bereits vor 1933 die wohl hellsichtigste Einschätzung des Faschismus. Unter anderem hat er früh davor gewarnt, dass Hitler sowohl die deutsche Arbeiterbewegung als auch die Sowjetunion angreifen werde. Nicht zuletzt propagierte er unermüdlich den einzig erfolgversprechenden Weg, um den Faschismus zurückzudrängen: Den Aufbau einer kämpfenden Einheitsfront aus KPD, SPD und Gewerkschaften.
Mandel beschreibt in seinem Text sechs objektive und subjektive Faktoren, die Trotzkis Faschismustheorie beinhalte.
1. Der Faschismus sei Ausdruck einer tiefen und umfassenden Krise der kapitalistischen Gesellschaft. In dieser Krise sei seine historische Funktion, die Bedingungen schlagartig zu Gunsten des Kapitals zu verändern.
2. Aufgrund der Stärke der Arbeiterbewegung sei die bürgerlich-parlamentarische Demokratie für das Großkapital zwar die „günstigste“ Herrschaftsform, aber nicht die einzig mögliche. Werde das gesellschaftliche Kräftegleichgewicht erschüttert, sei das Kapital zur Sicherung von Macht und Reichtum auch zu autoritären Staatsformen bereit.
3. Autoritäre Staatsformen (z. B. Militärdiktatur, Polizeistaat) könnten nicht allein durch Repression „erfolgreich“ sein. Dazu brauche es eine Massenbewegung, die die Arbeiterklasse und ihre Organisationen terrorisiere, entmutige und nach Erreichen der politischen Macht diese zerschlage.
4. Diese Massenbewegung entstehe unter dem Druck der Krise im Wesentlichen aus dem Kleinbürgertum. In ihr würden sich Versatzstücke einer „antikapitalistischen“ Demagogie mit der Feindschaft gegen die organisierte Arbeiterklasse verbinden. Sobald sie in der Lage sei, letztere mit Gewalt zu bekämpfen, sei eine faschistische Bewegung entstanden. Um die politische Macht erobern zu können, brauche sie jedoch die Unterstützung des Großkapitals.
5. Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg des Faschismus sei das Fehlen eines aktiven gemeinsamen proletarischen Widerstands gegen den braunen Terror. Der Sieg des Faschismus sei nicht unausweichlich. Im Gegenteil: Bei entschlossener und einheitlicher Gegenwehr könne er verhindert werden.
6. Nach seinem Sieg zeige der Faschismus, dass er nicht die Interessen des Kleinbürgertums vertrete, sondern die des Großkapitals. Die faschistische Bewegung werde teilweise in den Staats- und Unterdrückungsapparat integriert, die „antikapitalistische“ Demagogie werde aufgeben. Vor allem aber würden die Profitbedingungen des Großkapitals verbessert werden.
Gemeinsam lesen und diskutieren
Ernest Mandels Text ist inhaltlich dicht und in der vorliegenden Übersetzung ohne Vorkenntnisse nicht leicht verständlich. Aber durch gemeinsames Lesen und Diskutieren konnten ihn die Teilnehmenden für sich erarbeiten. Dabei wurde deutlich, wie hochaktuell Trotzkis Faschismustheorie ist. Gerade derzeit ist der Kapitalismus von globalen und tiefen Krisen geprägt, nimmt die Zahl autoritär geführter Staaten zu und werden rechte und faschistische Parteien immer stärker.
Bislang finden die Organisationen der arbeitenden Klasse und die sozialen Bewegungen darauf keine angemessenen Antworten. Erneut stellt sich darum die Aufgabe, eine solidarische Front gegen autoritäre und faschistische Strömungen aufzubauen. Noch ist nichts entschieden. Das beweisen nicht zuletzt die Demokratiebewegung im Iran und die aktuellen Massenstreiks in Frankreich.
Aber den Teilnehmenden wurde deutlich, wie wichtig und drängend der Aufbau einer solchen Abwehrfront ist. Genau dafür lieferte dieser Lesekreis in einer solidarischen Atmosphäre viele inhaltliche und praktische Anregungen.