„Nichts gegen junge Bankangestellte …“
R. G.
Anlässlich des hundertsten Geburtstags von Ernest Mandel erinnert die ISO Rhein-Neckar mit verschiedenen Veranstaltungen an diesen herausragenden Marxisten und revolutionären Sozialisten. So hat auch unser Lesekreis im Juni einen Text von Mandel aus dem Jahr 1994 gelesen und diskutiert: „Nichts gegen junge Bankangestellte … Die ‚langen Wellen‘ der kapitalistischen Entwicklung“.
Der Text setzt sich nur am Rande mit jungen Bankangestellten auseinander, viel mehr aber mit den „langen Wellen der kapitalistischen Entwicklung“. Dabei geht es Mandel vor allem um die ökonomische und politische Einordnung der kapitalistischen Entwicklung, die damit verbundenen Folgen und Gefahren und die seiner Meinung nach notwendigen politisch-praktischen Antworten der arbeitenden Klasse.
„Lange Wellen“
De kapitalistische Weltwirtschaft bewegt sich Mandel zufolge in „langen Wellen“, in deren Verlauf es wirtschaftliche Auf- und Abschwünge gebe. Die lange Welle, in der man sich 1994 befunden habe, sei durch eine lange Depression geprägt gewesen. Eines ihrer Kennzeichen: Auch im Aufschwung wäre die Erwerbslosigkeit nicht abgebaut worden.
Knapp und treffend beschreibt Mandel die bis heute wirksame immense Anhäufung von Geld in den Händen Weniger, die wachsende „Globalisierung der Weltwirtschaft“, die zunehmende „Internationalisierung des Kapitals“ und die sich ausdehnende Spekulation auf den Devisenmärkten. Zudem versuche das Kapital, seine Profite zu sichern, indem es die sozialen Sicherungssysteme und die allgemeinen Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse angreife. Je länger sich diese Entwicklung fortsetze, umso mehr werde letztere dadurch geschwächt.
Krise der Glaubwürdigkeit
Doch diese Politik unterschätze die Gefahren, die damit für das Kapital selbst verbunden seien. Denn längst sei der Atem der apokalyptischen Reiter zu spüren: Atomenergie, Krieg und Hunger „werden politische Folgen haben, welche die Demokratie bedrohen“. Die Massen würden diese Bedrohung und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen nicht einfach hinnehmen und sich massenhaft dagegen wehren.
Allerdings verlaufe diese Entwicklung „in einem weltweiten Klima der tiefen Glaubwürdigkeitskrise des Sozialismus“. Ideen links von Stalinismus und Sozialdemokratie würden noch nicht als glaubwürdige Alternative betrachtet werden.
Sozialismus und Selbstverwaltung
Mandel sieht daher die Notwendigkeit, das gesellschaftliche Gegenmodell eines Sozialismus der Selbstverwaltung der Mehrheit der Bevölkerung zu vermitteln. Dazu bedürfe es einer glaubhaften Utopie.
Dieses Problem lasse sich nicht theoretisch lösen, sondern nur praktisch. Es brauche historische Ereignisse wie die russische und die deutsche Revolution. Wann dies geschehe, lasse sich nicht vorhersagen. Aber es gebe Grund zu Optimismus. Nicht zuletzt, weil „wir“ viele und „sie“ wenige seien. So gebe es weltweit inzwischen mehr als eine Milliarde Lohnabhängige und überall auf der Welt hätten sich diese organisiert.
Gefahren und Widerstand
Eine große Gefahr bestehe darin, dass es dem Kapital gelingt, die arbeitende Klasse zu zersplittern und zu entsolidarisieren. Die Folge wären Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und eine Gefährdung der politischen Demokratie sowie der Menschenrechte. Das wesentliche Mittel dagegen sei die Bekämpfung der Erwerbslosigkeit durch die radikale Verkürzung der Arbeitszeit.
Aus all dem zieht Mandel am Ende eine notwendige Schlussfolgerung: „Widerstand, Rebellion, unbegrenzte Solidarität. Die unbegrenzte Überzeugung, daß letzten Endes die lohnabhängigen Menschen, die 99 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, ihr Schicksal selbst in die Hände nehmen und bestimmen können.“
Spannende Diskussion
Der Text von Ernest regte zu einer lebendigen und kritischen Diskussion an. So wurde etwa angemerkt, dass Mandel Fragen wie Ökologie und unbezahlte gesellschaftliche Sorgearbeit nicht ausreichend berücksichtigt habe. Am Ende waren sich aber alle Teilnehmenden einig: Die Auseinandersetzung mit diesem Text hat sich sehr gelohnt und war hilfreich für die politische Tagesarbeit.