Jede Per­son, die eine Gelb­wes­te ver­un­glimpft, belei­digt mei­nen Vater“*

Verbot von Granaten und Gummigeschossen – Marsch der Verletzten in Paris, 2. Februar 2019 (Foto: Copyright Photothèque Rouge Martin Noda.)

Ver­bot von Gra­na­ten und Gum­mi­ge­schos­sen – Marsch der Ver­letz­ten in Paris, 2. Febru­ar 2019 (Foto: Copy­right Pho­to­t­hè­que Rouge Mar­tin Noda.)

Édouard Lou­is

»Seit eini­gen Tagen ver­su­che ich, einen Text über die Gelb­wes­ten und für die Gelb­wes­ten zu schrei­ben. Aber es gelingt mir nicht. Mich lähmt etwas an der extre­men Gewalt und der Klas­sen­ver­ach­tung, die sich gegen die­se Bewe­gung rich­tet, weil ich mich dadurch auf eine gewis­se Art und Wei­se per­sön­lich abge­stem­pelt fühle.

Der Schock, den ich emp­fun­den habe, als ich die ers­ten Bil­der der Gelb­wes­ten sah, ist schwer zu beschrei­ben. Auf den Fotos, die die Arti­kel illus­trie­ren, sah ich Kör­per, die in der Öffent­lich­keit und den Medi­en fast nie erschei­nen: lei­den­de Kör­per, die von der Arbeit gezeich­net sind, von der Müdig­keit, vom Hun­ger, von der per­ma­nen­ten Ernied­ri­gung der Beherrsch­ten durch die Herr­schen­den, von sozia­ler und geo­gra­fi­scher Aus­gren­zung. Ich sah müde Kör­per, abge­ar­bei­te­te Hän­de, gebeug­te Rücken, erschöpf­te Blicke.

Gewalt und Manipulation

Der Grund für mei­ne Beun­ru­hi­gung war natür­lich mei­ne Abscheu für die Gewalt der Gesell­schaft und ihre Ungleich­hei­ten. Aber auch – viel­leicht vor allem ande­ren –, weil die auf den Fotos abge­bil­de­ten mensch­li­chen Kör­per, den­je­ni­gen mei­nes Vaters, mei­nes Bru­ders, mei­ner Tan­te ähnel­ten … Sie gli­chen den Kör­pern mei­ner Fami­lie und der Ein­woh­ner des Dorfs, in dem ich mei­ne Kind­heit ver­bracht hat­te. Die­se Men­schen, deren Gesund­heit durch Elend und Armut rui­niert wor­den war, wie­der­hol­ten stän­dig und jeden Tag wäh­rend mei­ner Kind­heit: „Wir zäh­len nichts. Von uns spricht nie­mand.“ Des­halb fühl­te ich mich per­sön­lich berührt durch die Ver­ach­tung und die Gewalt der Bour­geoi­sie, die sofort über die­se Bewe­gung her­ein­ge­bro­chen ist. Denn in mir, für mich, belei­digt jede Per­son, die eine Gelb­wes­te ver­un­glimpft, mei­nen Vater.

Sofort nach dem Ent­ste­hen die­ser Bewe­gung haben wir in den Medi­en „Exper­ten“ und „Poli­ti­ker“ gese­hen, die die Gelb­wes­ten und ihre Revol­te abwer­te­ten, ver­damm­ten und ver­lach­ten. Ich sah in den sozia­len Netz­wer­ken die Begrif­fe „Bar­ba­ren“, „Idio­ten“, „Ver­bre­cher“, „Ver­ant­wor­tungs­lo­se“. Die Medi­en spra­chen vom „Mur­ren“ der Gelb­wes­ten: Die unte­ren Klas­sen erhe­ben sich nicht, sie „mur­ren“ wie Tie­re. Ich hör­te, wie man von der „Gewalt die­ser Bewe­gung“ sprach, wenn ein Auto ange­zün­det, ein Schau­fens­ter zer­schla­gen oder eine Sta­tue beschä­digt wor­den war.

Die übli­che Bestim­mung von Gewalt: Ein gro­ßer Teil der poli­ti­schen und media­len Welt will uns ein­re­den, dass Gewalt nicht die durch die Poli­tik ver­ur­sach­te Zer­stö­rung und Ver­elen­dung tau­sen­der Men­schen­le­ben ist, son­dern das Anzün­den eini­ger Autos. Man muss wirk­lich das Elend nie ken­nen­ge­lernt haben, um den­ken zu kön­nen, dass das Besprü­hen eines Denk­mals schlim­mer ist als die Unmög­lich­keit, für sich selbst sor­gen, in Gesund­heit leben und sich oder sei­ne Fami­lie ernäh­ren zu können.

Die Gelb­wes­ten spre­chen von Hun­ger, unsi­che­ren Lebens­um­stän­den, von Leben und Tod. Die „Poli­ti­ker“ und ein Teil der Jour­na­lis­ten ant­wor­ten: „Es sind Sym­bo­le unse­rer Repu­blik geschän­det wor­den.“ Aber wovon reden die­se Leu­te? Wie kön­nen sie so etwas wagen? Woher kom­men sie? Die Medi­en spre­chen auch von Ras­sis­mus und der Homo­pho­bie der Gelb­wes­ten. Wen ver­höh­nen sie? 

Édouard Louis auf der Frankfurter Buchmesse, 12. Oktober 2017  (Foto: Heike Huslage-Koch - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0.)

Édouard Lou­is auf der Frank­fur­ter Buch­mes­se, 12. Okto­ber 2017(Foto: Hei­ke Hus­la­ge-Koch - Eige­nes Werk, CC BY-SA 4.0.)

Ich möch­te nicht von mei­nen Büchern spre­chen, aber es ist inter­es­sant fest­zu­stel­len, dass ich jedes Mal, wenn ich einen Roman ver­öf­fent­licht habe, beschul­digt wor­den bin, das arme, länd­li­che Frank­reich anzu­pran­gern, genau weil ich an die im Dorf mei­ner Kind­heit ver­brei­te­te Homo­pho­bie und den Ras­sis­mus erin­nert habe. Jour­na­lis­ten, die sich noch nie für die unte­ren Klas­sen ein­ge­setzt hat­ten, empör­ten sich und spiel­ten sich als deren Ver­tei­di­ger auf.


Objekt der Herrschenden

Für die Herr­schen­den stel­len die unte­ren Klas­sen, wie es [der fran­zö­si­sche Sozio­lo­ge] Pierre Bour­dieu for­mu­lier­te, das per­fek­te „Klas­sen-Objekt“ dar. Ein mani­pu­lier­ba­res Objekt für Reden: An einem Tag sind sie die bra­ven, authen­ti­schen Armen, am nächs­ten sind sie Ras­sis­ten und Schwu­len­has­ser. In bei­den Fäl­len ist die unter­schwel­li­ge Absicht gleich: Es soll ver­hin­dert wer­den, dass eine eige­ne Spra­che der unte­ren Klas­sen über sie selbst ent­steht. Was bedeu­tet es da schon, dass man sich von einem Tag auf den ande­ren selbst wider­spricht, wenn nur die unte­ren Klas­sen schweigen.

Natür­lich gab es unter Gelb­wes­ten ras­sis­ti­sche und schwu­len­feind­li­che Äuße­run­gen oder Ver­hal­tens­wei­sen. Doch seit wann küm­mern sich die­se Medi­en und „Poli­ti­ker“ um Ras­sis­mus und Schwu­len­feind­lich­keit? Seit wann haben sie etwas gegen den Ras­sis­mus getan? […] Spre­chen sie von der Poli­zei­ge­walt, der Schwar­ze und Ara­ber in Frank­reich tag­täg­lich aus­ge­setzt sind? Haben sie nicht – als die Ehe für alle zur Debat­te stand – […] ermög­licht, dass die Schwu­len­feind­lich­keit in Talk­shows mög­lich und nor­mal gewor­den ist?

Wenn die herr­schen­den Klas­sen und gewis­se Medi­en über die Homo­pho­bie und den Ras­sis­mus in der Bewe­gung der Gelb­wes­ten reden, geht es weder um Schwu­len­feind­lich­keit noch um Ras­sis­mus. Sie mei­nen: „Arme, hal­tet den Mund!“ Im Übri­gen befin­det sich die Bewe­gung der Gelb­wes­ten noch im Auf­bau. Ihre Spra­che ist noch nicht gefes­tigt. Falls noch Schwu­len­feind­lich­keit oder Ras­sis­mus unter Gelb­wes­ten exis­tiert, liegt es in unse­rer Ver­ant­wor­tung, die­se Spra­che zu verändern.

Ich lei­de“, kann man auf ganz unter­schied­li­che Art sagen. Eine sozia­le Bewe­gung ist genau der Augen­blick, wo sich die Mög­lich­keit eröff­net, dass die­je­ni­gen, die lei­den, nicht mehr sagen: „Ich lei­de wegen der Ein­wan­de­rung und weil mei­ne Nach­ba­rin Sozi­al­hil­fe erhält.“, son­dern: „Ich lei­de wegen den Regie­ren­den. Ich lei­de wegen des Sys­tems der Klas­sen­tren­nung und wegen Emma­nu­el Macron und Édouard Phil­ip­pe.“ Wäh­rend der sozia­len Bewe­gung wan­delt sich Spra­che, kön­nen alte Begrif­fe ins Wan­ken gera­ten. Genau das pas­siert heu­te. Seit eini­gen Tagen fin­det eine Neu­for­mu­lie­rung des Wort­schat­zes der Gelb­wes­ten statt. Anfangs hör­te man nur über Ben­zin reden und manch­mal uner­freu­li­che Begrif­fe wie „Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ger“. Jetzt hört man Wor­te wie Ungleich­hei­ten, Lohn­er­hö­hun­gen, Ungerechtigkeiten.

Die­se Bewe­gung muss wei­ter­ge­hen, weil sie etwas Rich­ti­ges, Drin­gen­des, grund­le­gend Radi­ka­les ver­kör­pert, weil sie Gesich­ter und Stim­men sicht- und hör­bar macht, die gewöhn­lich ins Ver­bor­ge­ne gezwun­gen wer­den. Die­ser Kampf wird nicht ein­fach wer­den. Wie man sieht, sind die Gelb­wes­ten für einen Groß­teil der Bour­geoi­sie eine Art Ror­schach-Test [psy­cho­ana­ly­ti­scher Per­sön­lich­keits-Test]. Die Gelb­wes­ten zwin­gen sie, ihre Klas­sen­ver­ach­tung und ihre Gewalt­tä­tig­keit – die sie gewöhn­lich ver­de­cken – direkt aus­zu­drü­cken. Die­se Ver­ach­tung, die so vie­le Leben um mich her­um zer­stört hat, die sie immer wei­ter zer­stört, die­se Ver­ach­tung, die zum Schwei­gen ver­ur­teilt und die mich so sehr lähmt, dass ich die­sen Text, den ich schrei­ben woll­te, fast nicht schrei­ben konn­te, dass ich nicht das aus­drü­cken konn­te, was ich ver­mit­teln wollte.

Aber wir müs­sen gewin­nen: Wir sind vie­le und zahl­reich genug um zu sagen, dass man eine wei­te­re Nie­der­la­ge für die Lin­ke, und damit für die Frau­en und Män­ner, die lei­den, nicht hin­neh­men darf.«

*[Die­ser im Dezem­ber 2018 ver­fass­te Text des fran­zö­si­schen Schrift­stel­lers Édouard Lou­is erschien mit des­sen freund­li­cher Geneh­mi­gung in l’An­ti­ca­pi­ta­lis­te (Monats­zeit­schrift der NPA), Nr. 103 von Janu­ar 2019. (Über­set­zung von H.N. und G.W., Zwi­schen­über­schrif­ten und Erläu­te­run­gen der hier ver­öf­fent­lich­ten Aus­zü­ge aus dem Fran­zö­si­schen von H.N.) Im Janu­ar 2019 ist das neus­te Buch von Édouard Lou­is unter dem Titel Wer hat mei­nen Vater umge­bracht auf Deutsch erschienen.

Aus der Theo­rie­bei­la­ge zur Avan­ti² Rhein-Neckar März 2019
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