Zur Lage der arbeitenden Klasse in Zeiten der Pandemie.
N.B.
Das Thema unseres Bildungsabends im April war ambitioniert. Dennoch gelang es dem Referenten, eindrücklich den Klassencharakter der Pandemie herauszustellen. In der Diskussion besonders engagiert aufgegriffen wurde die Frage nach dem Bewusstsein der arbeitenden Klasse. Dies ist von Bedeutung, um Anknüpfungspunkte für klassenkämpferische Politik finden zu können.
Unser Referent stellte dar, dass von den 44 Mio. Erwerbstätigen in Deutschland 20 % als „atypisch Beschäftigte“ arbeiten (befristet oder geringfügig sowie in Teilzeit oder Zeitarbeit Tätige). Mehr als 1/5 der Beschäftigten, insbesondere Frauen und Migrant*innen, arbeiten im Niedriglohnsektor mit einem Entgelt unter 11,40 €/Stunde (Stand 2018). Die Lohnquoten gehen seit den 1970er Jahren zurück. Insgesamt stehe Deutschland mit an vorderster Front bei der Ausbeutung weltweit.
Erschöpfung, Unsicherheit und Angst
Die Kapitalseite setze vieles daran, die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter*innen zu behindern. Der hohe Anteil an Kleinstunternehmen ohne Betriebsräte in Deutschland sei u. a. das Ergebnis von Auslagerungen bestimmter Tätigkeiten in Subunternehmen und Dienstleistungsfirmen.
In den Betrieben werde versucht, die Belegschaft durch psychologisch gestützte Führungstechniken gefügig zu machen. Belegschaften werden aber auch gezielt gespalten, gesetzliche und tarifliche Regelungen unterlaufen und klassenkämpferische Betriebsräte behindert. Das alles führe zu psychischer Erschöpfung, sozialer Unsicherheit und Angst bei fehlender Kampferfahrung und -bereitschaft.
Neoliberale Propaganda
Die Arbeit der Gewerkschaften sei meist staatskonform und sozialpartnerschaftlich. Ein großer Teil der arbeitenden Klasse ebenso wie die sie vertretenden Betriebsräte sei scheinbar gelähmt. Dies bezeichnete unser Referent als das Ergebnis des jahrzehntelangen Propagierens neoliberaler Ideologie. Diese behaupte eine unveränderliche menschliche Natur der Konkurrenz, des Individualismus und Egoismus, welche zwangsläufig zu sozialer Ungleichheit führe.
Die Verankerung dieser Ideologie auch in der arbeitenden Klasse habe die Zerstörung kollektiver, solidarischer Bezüge zur Folge. Zudem bestärke sie den Irrglauben, dass Klassen historisch überkommen seien. In solch einem Weltbild haben sozialistische Theorie und Praxis selbstverständlich keinen Platz.
Corona und die Klasse
Und was hat das Ganze mit dem Virus zu tun? Wenig überraschend sind die Ergebnisse einer kürzlich veröffentlichten Studie von Dragano und Wahrendorf. Demnach seien die durchschnittlichen Inzidenzen in Regionen mit hoher Erwerbstätigkeit insbesondere in der Produktion wesentlich höher als in anderen. Das RKI berichte, die COVID-19-Sterblichkeit sei in Regionen mit sozial stark benachteiligter Bevölkerung um 50 - 70 % höher als in anderen Regionen. Neben den schwerwiegenden gesundheitlichen Risiken seien aber auch die sozialen nicht zu vernachlässigen. Einkommens- und Arbeitsverluste treffen insbesondere prekär Beschäftigte und Geringverdiener*innen hart.
Die Corona-Pandemie habe die kapitalistische Krise verschärft. Sie sei den Herrschenden gelegen gekommen als Legitimation ihrer Krisenpolitik auf Kosten der arbeitenden Klasse. Die Diskussion um die weitere Erhöhung des Rentenalters sei ein Vorgeschmack darauf, wer nach der Bundestagswahl im Herbst die Zeche zahlen solle.
Wir seien aktuell in der Defensive, konstatierte ein Diskussions-Teilnehmer. Bei vielen Arbeiter*innen steige aber auch die Wut. Den linken Parteien und politischen Organisationen gelinge es jedoch nicht, dieses vorhandene Bewusstsein aufzugreifen. Viele seien trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse darauf aus, den Kapitalismus mit zu verwalten, statt ihn zu überwinden. Die meisten hätten zudem den Bezug zur arbeitenden Klasse verloren.
Von „Feuerchen“ und „Leuchttürmen“
Immer wieder flammten in der Diskussion aber auch kleine „Feuerchen“ des Widerstands auf, wenn auch aktuell kein „Leuchtturm“ heraussteche, wie der Referent es ausdrückte. Als Stichworte fielen die indigene Selbstverwaltung in Chiapas, die Arabische Rebellion 2010/11, aber auch Bewegungen wie Black Lives Matter, Fridays for Future oder das Bündnis Seebrücke.
Wenn die Situation momentan auch manchmal aussichtslos erscheine, so seien in der Geschichte doch auch die stabilsten Herrschaften irgendwann erschüttert und gestürzt worden. Für diese Momente des Auflehnens gelte es wach zu sein und die Menschen dort abzuholen, wo sie bereit sind. So lautete das übereinstimmende Fazit mehrerer Teilnehmender.