159 „Farbige“ als Opfer von Polizeigewalt in Deutschland
Helmut Dahmer
1. 1945 machten alliierte Truppen dem Hitler-Himmlerschen Terror- und Polizeistaat ein Ende. Aus der preußischen Geheimpolizei und den entsprechenden Organisationen der anderen Reichsländer hatte sich seit 1933 die berüchtigte Gestapo formiert. Im Zweiten Weltkrieg brachten die Poli zei-„Einsatzgruppen“ – „ganz normale Männer“1 – Hundertausende Menschen in Polen und Russland um. Auf deutschen Polizeistationen wurde bis zum Frühjahr 1945 geprügelt und gefoltert. Über Widerstandsaktionen von Polizeibeamten, die diesen Namen verdienen, ist nichts bekannt. Von dieser Geschichte der deutschen Polizei weiß der normale deutsche Polizist offenbar so gut wie nichts.
2. Die Polizei hat (in aller Herren Länder) zwei einander widerstreitende Aufgaben: Sie soll das bestehende Recht (den Hüter der Ungleichheit) wahren und hat im Krisenfall (bei Rechtsverstößen, Verbrechen, Massendemonstrationen und Aufruhr) die Kompetenz, nicht nur bestehendes Recht durchzusetzen, sondern – durch Immunität geschützt – dem staatlichen Gewaltmonopol durch improvisierte Rechts-Setzung (Ordnungs- „Maßnahmen“) Geltung zu verschaffen. Die Rechts-Setzung kollidiert dann mit der Rechtswahrung, und wo beide sich überschneiden, entsteht ein Freiraum, in dem jedwedem Missbrauch Tür und Tor geöffnet sind.
3. Aus der repräsentativen „Leipziger Autoritarismus-Studie 2018“ wissen wir, dass „die Ausländerfeindlichkeit […] die am weitesten verbreitete antidemokratische Einstellung in der Bundesrepublik“ ist2 und dass „mehr als 40 % der Befragten […] die manifeste Bereitschaft auf[weisen], ein autoritäres System zu stützen.“3 Sofern Polizei (und Heer) eine Art „Spiegel“ der Gesellschaft sind, steht zu erwarten, dass autoritäre und fremdenfeindliche Einstellungen sich mit ähnlichen prozentualen Anteilen auch im Gesamtkader deutscher Polizistinnen und Polizisten wiederfinden. Was diese Berufsgruppe angeht, ist aber noch ein weiterer Faktor zu berücksichtigen, denn zu den Motiven, die die Berufswahl von Polizeianwärtern bestimmen, gehört in allen Klassengesellschaften auch der Wunsch, im Zweifelsfall nicht zu den Geschlagenen, sondern zu den Schlägern zu gehören, also zu der kleinen Truppe, die über Knüppel, Gas und Revolver verfügt, und zwar nicht nur, um Verbrecherbanden oder illegalisierte politische Gruppen zu bekämpfen, sondern auch um, falls nötig, eine aufmüpfige Normalbevölkerung in Schach zu halten.
4. In den drei Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung der bei den deutschen Teilstaaten sind nicht weniger als 159 „Far bige“ in Polizei-„Gewahrsam“ oder durch Polizeischüsse ums Leben gekommen,4 und das sind 159 zu viel. Kaum aber wendet sich der – nach der Ermordung George Floyds durch einen Polizeibeamten auf offener Straße – an den aktuellen Verhältnissen in den USA geschulte Blick zurück auf die Situation im eigenen Land, treten die Nebelwerfer und Schleiermacher in Aktion, vom Innenministerium bis zur Polizeigewerkschaft. Denn im Dunkeln ist gut munkeln. Und solange es keine empirischen Daten zu Wissen (und Unwissen), zu Motiven und Weltbild deutscher Polizisten gibt, wird jeder Aufklärungsversuch zwischen der Skylla des „General-Verdachts“ und der Charybdis der General-Verleugnung zerrieben.
5. Warum aber spielen Polizeigeschichte und Vorurteilskunde in der deutschen Polizeiausbildung so gut wie keine Rolle? Warum gibt es (fast) keine empirische Studie zu Motivation, Wissensstand und Weltbild deutscher Polizisten?
Fragen über Fragen. Doch Heinrich Heine wusste: Nur „ein Narr wartet auf Antwort“ …
Fußnoten
1 Browning, Christopher R. (1992), Ganz normale Männer, Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek (Rowohlt) 1993 (Neuauflage 2020). Ferner: Krausnick, Helmut (1981), Hitlers Einsatzgruppen, Die Truppe des Weltanschauungskrieges 1938-1942, Frankfurt (Fischer) 1985 (1998).
2 Decker, Oliver, und E. Brähler (Hg.) (2018), Flucht ins Autoritäre, Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, Gießen (Psychosozial-Verlag), S. 109. Vgl. dazu auch Katrin Elgers Spiegel-Interview mit Yasemin Shooman: „Es geht um viel mehr“; in: Der Spiegel, 13. 06. 2020, S. 39.
3 Decker und Brähler, a. a. O., S. 152.
4 Neufeld, Dialika (2020), Leitartikel „Unsere George Floyds“; in: Der Spiegel, 13. 6. 2020, S. 6.