Ras­sis­mus tötet

159 „Far­bi­ge“ als Opfer von Poli­zei­ge­walt in Deutschland

 

Hel­mut Dahmer

1. 1945 mach­ten alli­ier­te Trup­pen dem Hit­ler-Himm­ler­schen Ter­ror- und Poli­zei­staat ein Ende. Aus der preu­ßi­schen Geheim­po­li­zei und den ent­spre­chen­den Orga­ni­sa­tio­nen der ande­ren Reichs­län­der hat­te sich seit 1933 die berüch­tig­te Gesta­po for­miert. Im Zwei­ten Welt­krieg brach­ten die Poli zei-„Einsatzgruppen“ – „ganz nor­ma­le Män­ner“1 – Hun­der­tau­sen­de Men­schen in Polen und Russ­land um. Auf deut­schen Poli­zei­sta­tio­nen wur­de bis zum Früh­jahr 1945 geprü­gelt und gefol­tert. Über Wider­stands­ak­tio­nen von Poli­zei­be­am­ten, die die­sen Namen ver­die­nen, ist nichts bekannt. Von die­ser Geschich­te der deut­schen Poli­zei weiß der nor­ma­le deut­sche Poli­zist offen­bar so gut wie nichts.

BLM-Kundgebung am 06. Juni 2020 in Mannheim (Foto: A.D.)

BLM-Kund­ge­bung am 06. Juni 2020 in Mann­heim (Foto: A.D.)

2. Die Poli­zei hat (in aller Her­ren Län­der) zwei ein­an­der wider­strei­ten­de Auf­ga­ben: Sie soll das bestehen­de Recht (den Hüter der Ungleich­heit) wah­ren und hat im Kri­sen­fall (bei Rechts­ver­stö­ßen, Ver­bre­chen, Mas­sen­de­mons­tra­tio­nen und Auf­ruhr) die Kom­pe­tenz, nicht nur bestehen­des Recht durch­zu­set­zen, son­dern – durch Immu­ni­tät geschützt – dem staat­li­chen Gewalt­mo­no­pol durch impro­vi­sier­te Rechts-Set­zung (Ord­nungs- „Maß­nah­men“) Gel­tung zu ver­schaf­fen. Die Rechts-Set­zung kol­li­diert dann mit der Rechts­wah­rung, und wo bei­de sich über­schnei­den, ent­steht ein Frei­raum, in dem jed­we­dem Miss­brauch Tür und Tor geöff­net sind.

3. Aus der reprä­sen­ta­ti­ven „Leip­zi­ger Auto­ri­ta­ris­mus-Stu­die 2018“ wis­sen wir, dass „die Aus­län­der­feind­lich­keit […] die am wei­tes­ten ver­brei­te­te anti­de­mo­kra­ti­sche Ein­stel­lung in der Bun­des­re­pu­blik“ ist2 und dass „mehr als 40 % der Befrag­ten […] die mani­fes­te Bereit­schaft auf[weisen], ein auto­ri­tä­res Sys­tem zu stüt­zen.“3 Sofern Poli­zei (und Heer) eine Art „Spie­gel“ der Gesell­schaft sind, steht zu erwar­ten, dass auto­ri­tä­re und frem­den­feind­li­che Ein­stel­lun­gen sich mit ähn­li­chen pro­zen­tua­len Antei­len auch im Gesamt­ka­der deut­scher Poli­zis­tin­nen und Poli­zis­ten wie­der­fin­den. Was die­se Berufs­grup­pe angeht, ist aber noch ein wei­te­rer Fak­tor zu berück­sich­ti­gen, denn zu den Moti­ven, die die Berufs­wahl von Poli­zei­an­wär­tern bestim­men, gehört in allen Klas­sen­ge­sell­schaf­ten auch der Wunsch, im Zwei­fels­fall nicht zu den Geschla­ge­nen, son­dern zu den Schlä­gern zu gehö­ren, also zu der klei­nen Trup­pe, die über Knüp­pel, Gas und Revol­ver ver­fügt, und zwar nicht nur, um Ver­bre­cher­ban­den oder ille­ga­li­sier­te poli­ti­sche Grup­pen zu bekämp­fen, son­dern auch um, falls nötig, eine auf­müp­fi­ge Nor­mal­be­völ­ke­rung in Schach zu halten.

4. In den drei Jahr­zehn­ten seit der Wie­der­ver­ei­ni­gung der bei den deut­schen Teil­staa­ten sind nicht weni­ger als 159 „Far bige“ in Polizei-„Gewahrsam“ oder durch Poli­zei­schüs­se ums Leben gekom­men,4 und das sind 159 zu viel. Kaum aber wen­det sich der – nach der Ermor­dung Geor­ge Floyds durch einen Poli­zei­be­am­ten auf offe­ner Stra­ße – an den aktu­el­len Ver­hält­nis­sen in den USA geschul­te Blick zurück auf die Situa­ti­on im eige­nen Land, tre­ten die Nebel­wer­fer und Schlei­er­ma­cher in Akti­on, vom Innen­mi­nis­te­ri­um bis zur Poli­zei­ge­werk­schaft. Denn im Dun­keln ist gut mun­keln. Und solan­ge es kei­ne empi­ri­schen Daten zu Wis­sen (und Unwis­sen), zu Moti­ven und Welt­bild deut­scher Poli­zis­ten gibt, wird jeder Auf­klä­rungs­ver­such zwi­schen der Skyl­la des „Gene­ral-Ver­dachts“ und der Cha­ryb­dis der Gene­ral-Ver­leug­nung zerrieben.

5. War­um aber spie­len Poli­zei­ge­schich­te und Vor­ur­teils­kun­de in der deut­schen Poli­zei­aus­bil­dung so gut wie kei­ne Rol­le? War­um gibt es (fast) kei­ne empi­ri­sche Stu­die zu Moti­va­ti­on, Wis­sens­stand und Welt­bild deut­scher Polizisten?
Fra­gen über Fra­gen. Doch Hein­rich Hei­ne wuss­te: Nur „ein Narr war­tet auf Antwort“ …


Fuß­no­ten
1 Brow­ning, Chris­to­pher R. (1992), Ganz nor­ma­le Män­ner, Das Reser­ve-Poli­zei­ba­tail­lon 101 und die „End­lö­sung“ in Polen, Rein­bek (Rowohlt) 1993 (Neu­auf­la­ge 2020). Fer­ner: Kraus­nick, Hel­mut (1981), Hit­lers Ein­satz­grup­pen, Die Trup­pe des Welt­an­schau­ungs­krie­ges 1938-1942, Frank­furt (Fischer) 1985 (1998).

2 Decker, Oli­ver, und E. Bräh­ler (Hg.) (2018), Flucht ins Auto­ri­tä­re, Rechts­extre­me Dyna­mi­ken in der Mit­te der Gesell­schaft, Gie­ßen (Psy­cho­so­zi­al-Ver­lag), S. 109. Vgl. dazu auch Kat­rin Elgers Spie­gel-Inter­view mit Yase­min Shoo­man: „Es geht um viel mehr“; in: Der Spie­gel, 13. 06. 2020, S. 39.

3 Decker und Bräh­ler, a. a. O., S. 152.

4 Neu­feld, Dia­li­ka (2020), Leit­ar­ti­kel „Unse­re Geor­ge Floyds“; in: Der Spie­gel, 13. 6. 2020, S. 6.


Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Juli/August 2020
Tagged , , , , , . Bookmark the permalink.