Alle Welt schaut auf den Streik ab dem 7. März
Bernard Schmid
Geisterstunde am Freitag, den 17. Februar 2023. Um kurz vor Mitternacht wurde die Debatte über den Gesetzentwurf zur „Rentenreform“ in der Nationalversammlung abgebrochen. Die zwei Sitzungswochen dauernde Diskussion hatte wesentliche Teile des Gesetzestextes nicht behandelt.
Insbesondere war sie nicht bis zum Kern-Artikel 7 vorgedrungen. Dieser Paragraph beinhaltet die Anhebung des gesetzlichen Rentenmindestalters von bislang 62 auf 64. Aber nicht vergessen: Eine von Abzügen wegen fehlender Beitragsjahre abschlagsfreie Rente gibt es in Frankreich erst ab 67!
Die Aussprache im Parlament war zum Erliegen gekommen, weil Tausende von Änderungsanträgen zuvor hatten behandelt werden müssen. Insgesamt waren 20.500 Änderungsanträge eingereicht worden, unter ihnen gut 18.000 allein von dem Bündnis mehrerer Linksfraktionen, der NUPES.
Damit wiederholte die Linksopposition die parlamentarische Verzögerungs- und Behinderungstaktik, die im Jahr 2004 mit einigem Publikumserfolg u. a. durch Parlamentarier der KP gegen die damals zur Abstimmung gestellte Privatisierung des französischen Stromversorgers EDF angewandt worden war.
Auch wenn der parlamentarische Zirkus von 2004 gewiss keine Tragödie darstellte, sondern eher eine Art von Wider- standshandlung, so ließen sich die Abläufe im Jahr 2023 nicht mit vergleichbaren Ergebnissen wiederholen.
Zum Ersten, weil die bürgerliche Regierungsmehrheit dieses Mal nicht überrascht war, sondern sich längst argumen- tativ darauf eingestellt hatte. Bei ihren Auftritten in Medien warnten Vertreter des Regierungslagers, aber auch anderer Oppositionsparteien schon vorbeugend vor einer zu erwartenden „Chaos-Strategie“.
Und zum Zweiten, weil die Parlamentsdebatte dieses Mal von vornherein zeitlich beschränkt war, denn das Regierungslager hatte den „Reformentwurf“ als Haushaltsgesetz (d. h. als Nachtragshaushalt) deklariert. Bei Haushaltsdebatten gibt es nur jeweils eine Lesung in der Nationalversammlung (und im Senat, der anderen Parlamentskammer) statt sonst drei Lesun- gen. Wird die Debatte nicht nach fünfzig Tagen abgeschlossen, darf die Exekutive den fraglichen Text auf dem Verordnungsweg verabschieden.
Grenzen parlamentarischer Taktiken
Die Taktik des „Chaotisierens“ lief sich darum ein Stück tot. Zudem zeigte sich auch das Linksbündnis NUPES tief gespalten. Selbst deren zahlenmäßig stärkste Einzelfraktion, die linkssozialdemokra- tisch bis linksnationalistisch schillernde Wahlplattform LFI („Das unbeugsame Frankreich“) war sich sehr uneinig.
Ein Teil ihrer Abgeordneten hätte es gerne den übrigen Linksfraktionen gleich getan und die Debatte bis zum besonders strittigen Artikel 7 vorrücken lassen, da von ihrer Einzelfraktion noch immer 13.000 Änderungsanträge im Raum standen.
Doch der faktische Chef der ohne Parteistrukturen auskommenden Wahlplattform, der frühere Präsidentschaftskandi- dat Jean-Luc Mélenchon, hielt dagegen. Er wies öffentlich den Chef der Französischen KP, Fabien Roussel, zurecht: Seine Position zugunsten eines Rückzugs zahlreicher Änderungsanträge sei falsch. Ihr zu folgen, wäre ein verhängnisvoller Fehler;.
Übrigens waren auch Teile der sozialen Bewegungen (im Unterschied zu den Strukturen von CGT und CFDT) der Überzeugung, dass es eventuell demobilisierend wäre, wenn der Artikel 7 debattiert und beschlossen würde. Dann, so die Befürchtung, könne das Argument der „demokratischen Legitimation“ greifen.
Letztendlich setzte sich faktisch die Position der Nichtbefassung durch, wozu auch das Regierungslager beitrug. Es verschleppte selbst die Debatten. Ihm ging es darum, zu verhindern, dass ihre Abgeordneten zum Artikel 7 Farbe bekennen mussten, da zumindest manche zu zögern schienen. Überdies hatten die Gewerkschaften unterdessen alle Abgeordneten (mit Ausnahme des rechtsextremen RN, welchen sie absichtlich ausklammerten) schriftlich aufgefordert, ihre Positionierung zur „Rentenreform“ bekannt zu machen. Was faktisch bedeutete, ihnen die spätere Nicht-Wiederwahl anzudrohen.
Jetzt steht auf jeden Fall die Vorbereitung der Streiks und Massenproteste ab dem 7. März 2023 im Vordergrund, die nach dem Willen der Gewerkschaften Frankreich lahmlegen sollen.