Redaktionelle Vorbemerkung
Ende Februar 2025 fand der 18. Weltkongress der IV. Internationale statt. Unter anderem wurde dort der Entwurf für ein Manifest des revolutionären Marxismus im Zeitalter kapitalistischer Zerstörung von Umwelt und Gesellschaft diskutiert.
Wir veröffentlichen im Folgenden – redaktionell bearbeitet – das 6. Kapitel dieses Textes, der im Netz unter www.iso-4-rhein-neckar.de/manifest abrufbar ist. Das 4. Kapitel ist auch in der Theoriebeilage zu Avanti², Nr. 124, von Dezember 2024 zu finden.
28. Februar 2025.
Gegen den Strom, die Kämpfe zusammenführen, um mit dem kapitalistischen Produktivismus zu brechen. Die Regierungsgewalt ergreifen, den ökosozialistischen Bruch auf der Grundlage von Eigeninitiative, Selbstorganisation, Kontrolle von unten und breitester Demokratie in Gang setzen.
1. Die kapitalistische Akkumulation und die imperialistische Ausplünderung der Menschheit haben die Wirtschaft, den Staat, die Politik der Bourgeoisie und die internationalen Beziehungen in eine ökosoziale Sackgasse gestürzt. Auf der ganzen Welt leben die Ausgebeuteten und Unterdrückten in Angst und Sorge.
2. Gegen den Strom formiert sich der Widerstand. Selbst unter extrem schwierigen Bedingungen setzen sich Menschen für ihre sozialen, demokratischen und ökologischen Rechte ein sowie für die Rechte von Frauen, LGBTQ+-Personen, von Rassismus und Imperialismus betroffene Menschen, für die indigenen Völker und die Landbevölkerung.
Es wurden bereits einige bemerkenswerte Siege errungen: der Sieg der indischen Bauern gegen die Modi-Regierung, der Sieg der „Zadist:innen“1 in Frankreich gegen den Flughafen von Notre-Dame-des-Landes, der Sieg der argentinischen Frauen im Kampf um das Recht auf Abtreibung, der Sieg der Sioux in den USA gegen die XXL-Pipeline …
Aber der Feind ist in der Offensive und viele Kämpfe waren nicht erfolgreich. Unsere Aufgabe als Aktivist:innen der IV. Internationale besteht darin, die Organisierung zu unterstützen, um die Kämpfe voranzutreiben. Dabei bringen wir unsere ökosozialistische und internationalistische Perspektive ein.
3. Der Produktivismus der hegemonialen Kräfte der Linken (der linken Parteien und der Gewerkschaften) ist ein ernst zu nehmendes Hindernis auf dem Weg zu einer ökosozialistischen und der objektiven Lage angemessenen Lösung. Die meisten Partei- und Gewerkschaftsführungen haben jegliche antikapitalistische Perspektive aufgegeben.
Die Sozialdemokratie und alle anderen Spielarten des Reformismus sind sozial-liberal geworden. Ihr einziges Interesse besteht darin, den Markt durch ein paar soziale Maßnahmen innerhalb der neoliberalen Grenzen zu korrigieren.
Die Spitzen der großen Gewerkschaften hegen mehrheitlich die Illusion, dass die Arbeitsbedingungen, die Löhne und die soziale Absicherung durch kapitalistisches Wachstum auch im Neoliberalismus verbessert werden können. Anstatt ein Bewusstsein für die ökosoziale Sackgasse zu schaffen, führt diese Politik der Klassenkollaboration nur noch weiter in die Sackgasse und verschleiert den Ernst der Lage.
4. Zum Glück beginnen einige politische Kräfte und gewerkschaftliche Strömungen – vor allem in Europa, den USA und Lateinamerika – sich von Produktivismus und Neoliberalismus zu lösen. So haben Gewerkschaftsaktivist:innen, die sich der ökologischen Herausforderung bewusst sind, das Konzept des „gerechten Übergangs“ entwickelt.
Die Sozialdemokratie und der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) haben sich dieses Konzept angeeignet und missbrauchen es, um nach produktivistischer Logik die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen zu stärken.
Die herrschende Klasse war schon immer Expertin in Sachen Manipulation. So fand auch der „gerechte Übergang“ – wie bereits zuvor das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung“ – Eingang in die Rhetorik von Regierungen, die die Gerechtigkeit mit Füßen treten und sich um Nachhaltigkeit keinen Deut scheren.
5. In den „entwickelten“ kapitalistischen Ländern zählen mittlerweile auch die Grünen zu den traditionellen Kräften. Vier Jahrzehnte nach ihrem Aufkommen hat sich die große Mehrheit der Grünen Parteien den politischen Verwaltern des Kapitalismus angeschlossen. Ihr Pragmatismus beruft sich auf die Eigenverantwortung der Konsument:innen und hat über zahlreiche Umweltverbände Eingang in die Zivilgesellschaft gefunden.
Das ermöglicht der Sozialdemokratie und den traditionellen Gewerkschaftsführungen, ihre Klassenzusammenarbeit zu verschleiern und das „kleinere soziale Übel“ mit Ökosteuern und anderen sogenannten „realistischen“ Lösungen einer „weder linken noch rechten“ Ökologie zu verteidigen.
6. In anderen Teilen der Welt gewinnen ökosozialistische Konzepte, auch wenn sie noch nicht mehrheitsfähig sind, zunehmend Einfluss auf soziale Bewegungen und die radikale Linke. Einige wichtige lokale Erfahrungen – u. a. in Mindanao, Rojava und Chiapas – weisen Ähnlichkeiten mit der ökosozialistischen Perspektive auf.
Dennoch gehen die meisten Menschen immer noch von der irrigen Meinung aus, dass nur kapitalistisches Wachstum eine Verbesserung der sozialen Lage garantieren kann.
7. Angesichts des Ausmaßes und der Unübersichtlichkeit der Krise besteht die reale Gefahr, dass in Teilen der arbeitenden Klassen die Tendenz zunimmt, ökologische Ziele auf dem Altar wirtschaftlicher Entwicklung, der Schaffung von Arbeits-plätzen und der Steigerung der Einkommen zu opfern. Obwohl genau diese Klassen schon heute zu den ersten Opfern zählen, würde diese Tendenz die Katastrophe nur verschärfen und den Legitimationsverlust der Gewerkschaften weiter verstärken.
Sie wäre auch der Nährboden für neofaschistische Bestrebungen, ihre rassistischen, kolonialistischen und völkermörderischen Projekte in ein grünes Gewand zu kleiden. Zielscheibe solcher Hasskampagnen sind in erster Linie die Menschen, die aus ihren zerstörten Ländern fliehen müssen.
8. Das sozialistische Projekt ist durch die Geschichte des Stalinismus und der Sozialdemokratie zutiefst diskreditiert. Wir müssen eine Alternative aus den Kämpfen heraus neu erfinden, nicht aus den Dogmen.
9. Wer steht heute an vorderster Front der relevanten Bewegungen? Es sind die indigenen Völker, Jugendliche, Kleinbäuer:innen, rassistisch unterdrückte Menschen, die alle einen hohen Preis für die soziale und ökologische Zerstörung zahlen. In diesen vier Gruppen spielen Frauen mit ihren spezifischen, ökofeministischen Forderungen, für die sie autonom kämpfen und sich organisieren, eine entscheidende Rolle.
10. Via Campesina, das internationale Bündnis von Kleinbäuer: innen und Landarbeiter:innen, zeigt, dass es möglich ist, die Verteidigung der Rechte armer Bauern und indigener Völker, den Kampf gegen Extraktivismus und Agrarindustrie, den Kampf für Ernährungssouveränität und die Erhaltung der Ökosysteme mit feministischen Forderungen zu verbinden.
11. Die große Mehrheit der Lohnabhängigen beteiligt sich nicht oder nur zögerlich an den antiproduktivistischen Kämpfen. Einige Aktivist:innen folgern daraus, dass der Klassenkampf überholt ist oder von einer „ökologischen Klasse“ geführt werden muss, die allerdings nur in ihrer eigenen Vorstellung existiert. Die Verhinderung der Katastrophe ist jedoch nur durch eine Revolution der Produktionsweise auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zu bewerkstelligen. Ohne die aktive und bewusste Beteiligung der Produzent:innen – also der Mehrheit der Bevölkerung – ist das ein Ding der Unmöglichkeit.
12. Andere schlagen vor, darauf zu warten, bis die Masse der arbeitenden Bevölkerung, die für ihre unmittelbaren sozioökonomischen Forderungen eintritt, einen Bewusstseinsstand erreicht hat, der es ihr erlaubt, sich auf einer „Klassenlinie“ am ökologischen Kampf zu beteiligen. Doch wie lassen sich ökologische Fragen im Bewusstsein der Werktätigen verankern, wenn sie sich zunehmend in der Defensive befinden und auf die Verteidigung ihrer unmittelbaren sozioökonomischen Rechte beschränken? Ohne große soziale Kämpfe, die den produktivistischen Rahmen sprengen, wird das nicht gehen. Die Überwindung der produktivistischen Logik bedarf öffentlicher Initiativen und einer sorgfältigen Planung des erforderlichen wirtschaftlichen Umbaus mit garantierten Arbeitsplätzen und Einkommen.
13. Klassenkampf ist keine leere Abstraktion. Marx definiert ihn als die „wirkliche Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt“ und benennt seine Akteure und Akteurinnen. Die Kämpfe von Frauen, LGBTQ+-Personen, unterdrückten Völkern, rassistisch diskriminierten Bevölkerungsgruppen, von Migrant:innen, kleinen Landwirten und indigenen Völkern für ihre Rechte entwickeln sich nicht abseits der Kämpfe der Werktätigen gegen die Ausbeutung der Arbeitskraft durch die Bosse. Sie sind Teil des lebendigen Klassenkampfs.
14. Sie sind Teil davon, weil der Kapitalismus die patriarchale Unterdrückung von Frauen braucht, um den Mehrwert zu maximieren und die soziale Reproduktion zu geringeren Kosten sicherzustellen; er braucht die Diskriminierung von LGBTQ+-Personen, um das Patriarchat zu bestätigen; er braucht den strukturellen Rassismus, um die Ausplünderung der Peripherie durch das Zentrum zu rechtfertigen; er braucht die unmenschliche „Asylpolitik“, um die industrielle Reservearmee zu regulieren; er braucht die Unterwerfung der Kleinbauern und Klein- bäuerinnen unter das Diktat der Junk Food produzierenden Agrarindustrie, um den Preis der Arbeitskraft zu drücken; und er braucht die Beseitigung noch bestehender wertschätzender Beziehungen innerhalb menschlicher Gemeinschaften und zur Natur, um sie durch die individualistische Ideologie der Herrschaft zu ersetzen, die menschliches Zusammenleben in einen Automaten und alles Lebendige in tote Dinge verwandelt.
15. All diese Kämpfe sowie die Arbeitskämpfe gegen die kapitalistische Ausbeutung sind Teil des gemeinsamen Kampfs um menschliche Emanzipation, die nur dann wirklich möglich und der Menschheit würdig ist, wenn wir uns bewusst sind, dass unsere Spezies zur Natur gehört und dass der Mensch aufgrund seiner besonderen Intelligenz die heute unumgängliche und lebenswichtige Verantwortung hat, mit der Natur pfleglich umzugehen. Das sind unserer Meinung nach die strategischen Schlussfolgerungen, die wir aus der Tatsache ableiten, dass die zerstörerische Kraft des Kapitalismus den Planeten in ein neues geologisches Zeitalter geführt hat.
16. Diese Analyse liegt unserer Strategie der Konvergenz von sozialen und ökologischen Kämpfen zugrunde.
17. Die Konvergenz der Kämpfe darf sich nicht darauf beschränken, unter den sozialen Bewegungen und ihren Organisationen nach dem größten gemeinsamen Nenner der Forderungen Ausschau zu halten. Eine solche Vorgehensweise könnte nämlich leicht zur Vernachlässigung bestimmter Forderungen von bestimmten Gruppen führen – zum Nachteil der Schwächsten. Und das wäre das Gegenteil von Konvergenz.
18. Die Konvergenz von sozialen und ökologischen Kämpfen umfasst alle Kämpfe aller sozialen Akteure, von den erfahrensten bis zu den unentschlossenen. In einem dynamischen interaktiven Prozess lässt sich das Bewusstsein über Aktionen und Debatten, die von gegenseitigem Respekt getragen sind, erweitern. Ziel ist nicht eine fix-und-fertige Plattform, sondern die Aktionseinheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten rund um konkrete Forderungen. Dadurch lässt sich eine Dynamik in Gang setzen, die auf die Eroberung der politischen Macht und den Sturz des Kapitalismus in der ganzen Welt abzielt.
19. In der Praxis bedeutet die ökosoziale Konvergenz der Kämpfe heute vor allem, dass sich die Akteure, die sich der ökologischen Gefahren am meisten bewusst sind, an die Akteure wenden, die sich der sozialen Bedrohungen am meisten bewusst sind (und umgekehrt), um gemeinsam den falschen kapitalistischen Gegensatz zwischen sozialen und ökologischen Fragen zu überwinden.
20. Bei diesem Ansatz spielt das Eintreten für ein ökologisches Gewerkschaftsmodell, das sowohl klassenkämpferisch als auch antiproduktivistisch ist, eine wesentliche Rolle. Es setzt an bei den konkreten Sorgen der Werktätigen um die Sicherheit am Arbeitsplatz und um die Erhaltung ihrer Gesundheit und es weist auf die Schäden an den Ökosystemen und die Gefahren der Produktion hin, die am besten von den Beschäftigten selbst eingeschätzt werden können.
21. Als ökosozialistische Aktivist:innen unterstützen wir den Widerstand am Arbeitsplatz durch Streiks und andere Aktionsformen zur Förderung der Organisierung und Selbstverwaltung der Beschäftigten. Wir arbeiten daran, die Mobilisie- rungen voranzutreiben, indem wir Streiks und Demonstrationen sowie alle Spielarten der Selbstorganisation und der Verteidigung gegen Repressionen mit Informationskampagnen verbinden, um den Lügen der herrschenden Medien und der Regierungen entgegenzuwirken.
22. Wir lassen uns auch von Formen des zivilen Ungehorsams inspirieren, von der Blockade von Anlagen bis zum Boykott von Mietzahlungen, die ebenfalls ihre Wirksamkeit bewiesen haben.
23. Die Erfahrungen aus den Kämpfen fließen in die strategische Debatte ein.
24. Antiproduktivistische Kämpfe sind vielfältig, aber im Allgemeinen ist ihr Ausgangspunkt sehr konkret, oft lokal, etwa im Widerstand gegen eine neue Verkehrsinfrastruktur (Autobahn, Flughafen usw.), kommerzielle oder logistische Infrastruktur, extraktivistische Infrastruktur (Bergwerke, Pipelines, Megastaudämme usw.), die Aneignung von Land oder Wasser, die Zers- törung eines Waldes oder eines Flusses usw. Menschen werden nicht so sehr aufgrund von allgemeinen Über- legungen aktiv, sondern in erster Linie wegen der unmittelbaren Bedrohung des täglichen Lebens, der Lebensgrundlagen und der Gesundheit. Durch die Auseinandersetzung mit politischen Entscheidungsträgern, kapitalistischen Konzernen und den Institutionen, die in deren Interesse agieren, sowie durch das Schmieden von Allianzen zwischen Akteuren mit unterschiedlichen Geschichten und Anliegen wird der Kampf globaler und politischer.
25. Die Verbindung von Kämpfen, die in einem bestimmten Gebiet verankert sind, mit einem präzisen Ziel und einer allgemeinen Stoßrichtung gibt es überall auf der Welt. Sie hat eine neue politische Realität geschaffen: „Blockadia“.
26. In Frankreich hat der Zusammenschluss von Bauern und Bäuerinnen, jungen radikalen Aktivist:innen und Anrainern gegen das Flughafenprojekt in Notre-Dame-des-Landes die Unterstützung der Bevölkerung und der Gewerkschaften, einschließlich derjenigen des Konzessionärs, erhalten und zum Sieg geführt.
Inspiriert von dieser erfolgreichen Strategie konnte die Bewegung Soulèvements de la Terre im Kampf gegen Megabassins (riesige Wasserreservoirs für die Bewässerung von Plantagen der Agrarkonzerne) die Frage des Wassers als Gemeingut aufwerfen, das gegen seine Monopolisierung durch die Agrarindustrie geschützt werden muss.
27. In den Vereinigten Staaten haben die Sioux gegen die Dakota Access Pipeline (DAPL), die den Missouri und den Mississippi zu verschmutzen droht und das Heilige Land der indigenen Sioux durchquert, ein Camp in Standing Rock errichtet, dem sich Tausende von Menschen (Jugendliche, Umweltschützer:innen und andere) angeschlossen haben. Das Camp widerstand heftigen Repressionen und erzwang eine Untersuchung über die Gefahren der DAPL für die Umwelt. Der juristische und politische Kampf geht weiter.
28. Die Entstehung eines ökosozialistischen Klassenbewusstseins setzt die Konvergenz der Kämpfe voraus. Dazu können auch (junge) Wissenschaftler:innen beitragen, indem sie ihr (agronomisches, klimatisches, naturwissenschaftliches…) Wissen nutzen und teilen.
29. Streikkomitees, kommunale Gesundheitszentren, Betriebsübernahmen, Landbesetzungen, selbstverwaltete Wohnanlagen, Reparaturwerkstätten, Kantinen, Saatgutbibliotheken usw. ermöglichen das Experimentieren mit einer vom Kapitalismus befreiten Organisation der Gesellschaft.
Sie ermöglichen den politisch und wirtschaftlich Entmachteten, ihre kollektive Macht und Intelligenz zu erfahren. Mit der Zerstreuung von Illusionen über eine mögliche Umgehung oder Anpassung des Systems treffen sie früher oder später auf den Staat und den kapitalistischen Markt und erfahren, dass es unmöglich ist, auf die politische Macht und den Umsturz des Systems zu verzichten.
Durch konkrete Alternativen, die, wenn auch oft nur vorübergehend, eine andere, basisnahe, demokratische und solidarische Legitimität schaffen, werden sich die Unterdrückten ihrer eigenen Stärken bewusst und können auf die Errichtung einer neuen Hegemonie hinarbeiten.
30. Insgesamt betrachtet steht der Aufbau von Selbstverwaltungsorganen der Bevölkerung im Mittelpunkt unserer Strategie.
31. Die Systemkrise des vom transnationalen Finanzwesen beherrschten „Spätkapitalismus“ ruft sowohl Ekel vor den Verfallserscheinungen der bürgerlichen Ordnung hervor als auch ein Gefühl der Hilflosigkeit angesichts der tiefgreifenden quantitativen und qualitativen Verschlechterung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen. In diesem Zusammenhang gewinnt die Frage der Regierung zunehmend an Bedeu- tung. Die Übernahme der politischen Macht ist eine Voraussetzung für die Umsetzung eines Programms, das mit der herrschenden Politik bricht. Allerdings haben die letzten Jahre die tödlichen Illusionen diverser politischer Projekte sichtbar gemacht, die die Anliegen der Bevölkerung ausnutzen, Proteste kanalisieren oder sogar im Namen einer Realpolitik abwürgen, wovon anschließend die extreme Rechte profitiert.
32. Es gibt keine Abkürzung. Eine ökosozialistische Strategie des Bruchs mit den bestehenden Verhältnissen ist nicht vorstellbar ohne Kampf um eine Regierung auf Grundlage eines Übergangsprogramms und der systematischen Förderung der Selbsttätigkeit, der Übernahme der Kontrolle und der direkten Intervention der Ausgebeuteten und Unterdrückten auf allen Ebenen. Konsequente Maßnahmen gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Zerstörung der Ökosysteme können nicht durchgesetzt werden ohne ein Kräfteverhältnis, das sich auf Selbstorganisation stützt. Selbstemanzipation ist daher nicht nur unser Ziel, sondern auch eine Strategie zum Umsturz der bestehenden Ordnung.
Es müssen neue Institutionen geschaffen werden, um gemeinsam zu überlegen und demokratisch zu entscheiden, wie sich die Produktion und die gesamte Gesellschaft organisieren lassen. Diese neuen Kräfte müssen dem kapitalistischen Staatsapparat entgegentreten, um ihn zu vernichten. Der Umsturz der Gesellschaftsordnung und die Enteignung der Kapitalisten werden unweigerlich mit einer gewalttätigen, bewaffneten Reaktion der herrschenden Klassen rechnen müssen. Angesichts dieser Gewalt werden die Ausgebeuteten und Unterdrückten keine andere Wahl haben, als sich zu verteidigen. Es wird darum gehen, für die Verteidigung der legitimen Gewalt selbst zu sorgen – und zwar auf demokratische Weise und unter Verzicht auf Männerdominanz und Stellvertreterpolitik.
33. Nachdenken und handeln, Kämpfe organisieren und die notwendigen Voraussetzungen dafür schaffen, Erfahrungen vergleichen und daraus lernen: Die internationale Umsetzung dieser gewaltigen Aufgabe erfordert einen politischen Rahmen, eine neue Internationale der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Mit diesem Manifest bringt die IV. Internationale ihre Bereitschaft zum Ausdruck, zur Bewältigung dieser Herausforderung beizutragen.