Sozia­lis­mus oder Bar­ba­rei (II)

 

Redak­tio­nel­le Vorbemerkung
Ende Febru­ar 2025 fand der 18. Welt­kon­gress der IV. Inter­na­tio­na­le statt. Unter ande­rem wur­de dort der Ent­wurf für ein Mani­fest des revo­lu­tio­nä­ren Mar­xis­mus im Zeit­al­ter kapi­ta­lis­ti­scher Zer­stö­rung von Umwelt und Gesell­schaft diskutiert. 

Wir ver­öf­fent­li­chen im Fol­gen­den – redak­tio­nell bear­bei­tet – das 6. Kapi­tel die­ses Tex­tes, der im Netz unter www.iso-4-rhein-neckar.de/manifest abruf­bar ist. Das 4. Kapi­tel ist auch in der Theo­rie­bei­la­ge zu Avan­ti², Nr. 124, von Dezem­ber 2024 zu finden.

28. Febru­ar 2025.


Gegen den Strom, die Kämp­fe zusam­men­füh­ren, um mit dem kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­vis­mus zu bre­chen. Die Regie­rungs­ge­walt ergrei­fen, den öko­so­zia­lis­ti­schen Bruch auf der Grund­la­ge von Eigen­in­itia­ti­ve, Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on, Kon­trol­le von unten und brei­tes­ter Demo­kra­tie in Gang setzen.

1. Die kapi­ta­lis­ti­sche Akku­mu­la­ti­on und die impe­ria­lis­ti­sche Aus­plün­de­rung der Mensch­heit haben die Wirt­schaft, den Staat, die Poli­tik der Bour­geoi­sie und die inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen in eine öko­so­zia­le Sack­gas­se gestürzt. Auf der gan­zen Welt leben die Aus­ge­beu­te­ten und Unter­drück­ten in Angst und Sorge.

2. Gegen den Strom for­miert sich der Wider­stand. Selbst unter extrem schwie­ri­gen Bedin­gun­gen set­zen sich Men­schen für ihre sozia­len, demo­kra­ti­schen und öko­lo­gi­schen Rech­te ein sowie für die Rech­te von Frau­en, LGBTQ+-Personen, von Ras­sis­mus und Impe­ria­lis­mus betrof­fe­ne Men­schen, für die indi­ge­nen Völ­ker und die Landbevölkerung. 
Es wur­den bereits eini­ge bemer­kens­wer­te Sie­ge errun­gen: der Sieg der indi­schen Bau­ern gegen die Modi-Regie­rung, der Sieg der „Zadist:innen“1 in Frank­reich gegen den Flug­ha­fen von Not­re-Dame-des-Lan­des, der Sieg der argen­ti­ni­schen Frau­en im Kampf um das Recht auf Abtrei­bung, der Sieg der Sioux in den USA gegen die XXL-Pipeline … 
Aber der Feind ist in der Offen­si­ve und vie­le Kämp­fe waren nicht erfolg­reich. Unse­re Auf­ga­be als Aktivist:innen der IV. Inter­na­tio­na­le besteht dar­in, die Orga­ni­sie­rung zu unter­stüt­zen, um die Kämp­fe vor­an­zu­trei­ben. Dabei brin­gen wir unse­re öko­so­zia­lis­ti­sche und inter­na­tio­na­lis­ti­sche Per­spek­ti­ve ein.

3. Der Pro­duk­ti­vis­mus der hege­mo­nia­len Kräf­te der Lin­ken (der lin­ken Par­tei­en und der Gewerk­schaf­ten) ist ein ernst zu neh­men­des Hin­der­nis auf dem Weg zu einer öko­so­zia­lis­ti­schen und der objek­ti­ven Lage ange­mes­se­nen Lösung. Die meis­ten Par­tei- und Gewerk­schafts­füh­run­gen haben jeg­li­che anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Per­spek­ti­ve aufgegeben.
Die Sozi­al­de­mo­kra­tie und alle ande­ren Spiel­ar­ten des Refor­mis­mus sind sozi­al-libe­ral gewor­den. Ihr ein­zi­ges Inter­es­se besteht dar­in, den Markt durch ein paar sozia­le Maß­nah­men inner­halb der neo­li­be­ra­len Gren­zen zu korrigieren. 
Die Spit­zen der gro­ßen Gewerk­schaf­ten hegen mehr­heit­lich die Illu­si­on, dass die Arbeits­be­din­gun­gen, die Löh­ne und die sozia­le Absi­che­rung durch kapi­ta­lis­ti­sches Wachs­tum auch im Neo­li­be­ra­lis­mus ver­bes­sert wer­den kön­nen. Anstatt ein Bewusst­sein für die öko­so­zia­le Sack­gas­se zu schaf­fen, führt die­se Poli­tik der Klas­sen­kol­la­bo­ra­ti­on nur noch wei­ter in die Sack­gas­se und ver­schlei­ert den Ernst der Lage.

4. Zum Glück begin­nen eini­ge poli­ti­sche Kräf­te und gewerk­schaft­li­che Strö­mun­gen – vor allem in Euro­pa, den USA und Latein­ame­ri­ka – sich von Pro­duk­ti­vis­mus und Neo­li­be­ra­lis­mus zu lösen. So haben Gewerkschaftsaktivist:innen, die sich der öko­lo­gi­schen Her­aus­for­de­rung bewusst sind, das Kon­zept des „gerech­ten Über­gangs“ entwickelt. 
Die Sozi­al­de­mo­kra­tie und der Inter­na­tio­na­le Gewerk­schafts­bund (IGB) haben sich die­ses Kon­zept ange­eig­net und miss­brau­chen es, um nach pro­duk­ti­vis­ti­scher Logik die Wett­be­werbs­fä­hig­keit von Unter­neh­men zu stärken. 
Die herr­schen­de Klas­se war schon immer Exper­tin in Sachen Mani­pu­la­ti­on. So fand auch der „gerech­te Über­gang“ – wie bereits zuvor das Kon­zept der „nach­hal­ti­gen Ent­wick­lung“ – Ein­gang in die Rhe­to­rik von Regie­run­gen, die die Gerech­tig­keit mit Füßen tre­ten und sich um Nach­hal­tig­keit kei­nen Deut scheren.

5. In den „ent­wi­ckel­ten“ kapi­ta­lis­ti­schen Län­dern zäh­len mitt­ler­wei­le auch die Grü­nen zu den tra­di­tio­nel­len Kräf­ten. Vier Jahr­zehn­te nach ihrem Auf­kom­men hat sich die gro­ße Mehr­heit der Grü­nen Par­tei­en den poli­ti­schen Ver­wal­tern des Kapi­ta­lis­mus ange­schlos­sen. Ihr Prag­ma­tis­mus beruft sich auf die Eigen­ver­ant­wor­tung der Konsument:innen und hat über zahl­rei­che Umwelt­ver­bän­de Ein­gang in die Zivil­ge­sell­schaft gefunden. 
Das ermög­licht der Sozi­al­de­mo­kra­tie und den tra­di­tio­nel­len Gewerk­schafts­füh­run­gen, ihre Klas­sen­zu­sam­men­ar­beit zu ver­schlei­ern und das „klei­ne­re sozia­le Übel“ mit Öko­steu­ern und ande­ren soge­nann­ten „rea­lis­ti­schen“ Lösun­gen einer „weder lin­ken noch rech­ten“ Öko­lo­gie zu verteidigen.

6. In ande­ren Tei­len der Welt gewin­nen öko­so­zia­lis­ti­sche Kon­zep­te, auch wenn sie noch nicht mehr­heits­fä­hig sind, zuneh­mend Ein­fluss auf sozia­le Bewe­gun­gen und die radi­ka­le Lin­ke. Eini­ge wich­ti­ge loka­le Erfah­run­gen – u. a. in Mind­a­nao, Roja­va und Chia­pas – wei­sen Ähn­lich­kei­ten mit der öko­so­zia­lis­ti­schen Per­spek­ti­ve auf.
Den­noch gehen die meis­ten Men­schen immer noch von der irri­gen Mei­nung aus, dass nur kapi­ta­lis­ti­sches Wachs­tum eine Ver­bes­se­rung der sozia­len Lage garan­tie­ren kann.

7. Ange­sichts des Aus­ma­ßes und der Unüber­sicht­lich­keit der Kri­se besteht die rea­le Gefahr, dass in Tei­len der arbei­ten­den Klas­sen die Ten­denz zunimmt, öko­lo­gi­sche Zie­le auf dem Altar wirt­schaft­li­cher Ent­wick­lung, der Schaf­fung von Arbeits-plät­zen und der Stei­ge­rung der Ein­kom­men zu opfern. Obwohl genau die­se Klas­sen schon heu­te zu den ers­ten Opfern zäh­len, wür­de die­se Ten­denz die Kata­stro­phe nur ver­schär­fen und den Legi­ti­ma­ti­ons­ver­lust der Gewerk­schaf­ten wei­ter verstärken.
Sie wäre auch der Nähr­bo­den für neo­fa­schis­ti­sche Bestre­bun­gen, ihre ras­sis­ti­schen, kolo­nia­lis­ti­schen und völ­ker­mör­de­ri­schen Pro­jek­te in ein grü­nes Gewand zu klei­den. Ziel­schei­be sol­cher Hass­kam­pa­gnen sind in ers­ter Linie die Men­schen, die aus ihren zer­stör­ten Län­dern flie­hen müssen.

8. Das sozia­lis­ti­sche Pro­jekt ist durch die Geschich­te des Sta­li­nis­mus und der Sozi­al­de­mo­kra­tie zutiefst dis­kre­di­tiert. Wir müs­sen eine Alter­na­ti­ve aus den Kämp­fen her­aus neu erfin­den, nicht aus den Dogmen.

9. Wer steht heu­te an vor­ders­ter Front der rele­van­ten Bewe­gun­gen? Es sind die indi­ge­nen Völ­ker, Jugend­li­che, Kleinbäuer:innen, ras­sis­tisch unter­drück­te Men­schen, die alle einen hohen Preis für die sozia­le und öko­lo­gi­sche Zer­stö­rung zah­len. In die­sen vier Grup­pen spie­len Frau­en mit ihren spe­zi­fi­schen, öko­fe­mi­nis­ti­schen For­de­run­gen, für die sie auto­nom kämp­fen und sich orga­ni­sie­ren, eine ent­schei­den­de Rolle.

10. Via Cam­pe­si­na, das inter­na­tio­na­le Bünd­nis von Klein­bäu­er: innen und Landarbeiter:innen, zeigt, dass es mög­lich ist, die Ver­tei­di­gung der Rech­te armer Bau­ern und indi­ge­ner Völ­ker, den Kampf gegen Extrak­ti­vis­mus und Agrar­in­dus­trie, den Kampf für Ernäh­rungs­sou­ve­rä­ni­tät und die Erhal­tung der Öko­sys­te­me mit femi­nis­ti­schen For­de­run­gen zu verbinden.
11. Die gro­ße Mehr­heit der Lohn­ab­hän­gi­gen betei­ligt sich nicht oder nur zöger­lich an den anti­pro­duk­ti­vis­ti­schen Kämp­fen. Eini­ge Aktivist:innen fol­gern dar­aus, dass der Klas­sen­kampf über­holt ist oder von einer „öko­lo­gi­schen Klas­se“ geführt wer­den muss, die aller­dings nur in ihrer eige­nen Vor­stel­lung exis­tiert. Die Ver­hin­de­rung der Kata­stro­phe ist jedoch nur durch eine Revo­lu­ti­on der Pro­duk­ti­ons­wei­se auf gesamt­ge­sell­schaft­li­cher Ebe­ne zu bewerk­stel­li­gen. Ohne die akti­ve und bewuss­te Betei­li­gung der Produzent:innen – also der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung – ist das ein Ding der Unmöglichkeit.

12. Ande­re schla­gen vor, dar­auf zu war­ten, bis die Mas­se der arbei­ten­den Bevöl­ke­rung, die für ihre unmit­tel­ba­ren sozio­öko­no­mi­schen For­de­run­gen ein­tritt, einen Bewusst­seins­stand erreicht hat, der es ihr erlaubt, sich auf einer „Klas­sen­li­nie“ am öko­lo­gi­schen Kampf zu betei­li­gen. Doch wie las­sen sich öko­lo­gi­sche Fra­gen im Bewusst­sein der Werk­tä­ti­gen ver­an­kern, wenn sie sich zuneh­mend in der Defen­si­ve befin­den und auf die Ver­tei­di­gung ihrer unmit­tel­ba­ren sozio­öko­no­mi­schen Rech­te beschrän­ken? Ohne gro­ße sozia­le Kämp­fe, die den pro­duk­ti­vis­ti­schen Rah­men spren­gen, wird das nicht gehen. Die Über­win­dung der pro­duk­ti­vis­ti­schen Logik bedarf öffent­li­cher Initia­ti­ven und einer sorg­fäl­ti­gen Pla­nung des erfor­der­li­chen wirt­schaft­li­chen Umbaus mit garan­tier­ten Arbeits­plät­zen und Einkommen.

13. Klas­sen­kampf ist kei­ne lee­re Abs­trak­ti­on. Marx defi­niert ihn als die „wirk­li­che Bewe­gung, die den jet­zi­gen Zustand auf­hebt“ und benennt sei­ne Akteu­re und Akteu­rin­nen. Die Kämp­fe von Frau­en, LGBTQ+-Personen, unter­drück­ten Völ­kern, ras­sis­tisch dis­kri­mi­nier­ten Bevöl­ke­rungs­grup­pen, von Migrant:innen, klei­nen Land­wir­ten und indi­ge­nen Völ­kern für ihre Rech­te ent­wi­ckeln sich nicht abseits der Kämp­fe der Werk­tä­ti­gen gegen die Aus­beu­tung der Arbeits­kraft durch die Bos­se. Sie sind Teil des leben­di­gen Klassenkampfs.

14. Sie sind Teil davon, weil der Kapi­ta­lis­mus die patri­ar­cha­le Unter­drü­ckung von Frau­en braucht, um den Mehr­wert zu maxi­mie­ren und die sozia­le Repro­duk­ti­on zu gerin­ge­ren Kos­ten sicher­zu­stel­len; er braucht die Dis­kri­mi­nie­rung von LGBTQ+-Personen, um das Patri­ar­chat zu bestä­ti­gen; er braucht den struk­tu­rel­len Ras­sis­mus, um die Aus­plün­de­rung der Peri­phe­rie durch das Zen­trum zu recht­fer­ti­gen; er braucht die unmensch­li­che „Asyl­po­li­tik“, um die indus­tri­el­le Reser­ve­ar­mee zu regu­lie­ren; er braucht die Unter­wer­fung der Klein­bau­ern und Klein- bäue­rin­nen unter das Dik­tat der Junk Food pro­du­zie­ren­den Agrar­in­dus­trie, um den Preis der Arbeits­kraft zu drü­cken; und er braucht die Besei­ti­gung noch bestehen­der wert­schät­zen­der Bezie­hun­gen inner­halb mensch­li­cher Gemein­schaf­ten und zur Natur, um sie durch die indi­vi­dua­lis­ti­sche Ideo­lo­gie der Herr­schaft zu erset­zen, die mensch­li­ches Zusam­men­le­ben in einen Auto­ma­ten und alles Leben­di­ge in tote Din­ge verwandelt.

15. All die­se Kämp­fe sowie die Arbeits­kämp­fe gegen die kapi­ta­lis­ti­sche Aus­beu­tung sind Teil des gemein­sa­men Kampfs um mensch­li­che Eman­zi­pa­ti­on, die nur dann wirk­lich mög­lich und der Mensch­heit wür­dig ist, wenn wir uns bewusst sind, dass unse­re Spe­zi­es zur Natur gehört und dass der Mensch auf­grund sei­ner beson­de­ren Intel­li­genz die heu­te unum­gäng­li­che und lebens­wich­ti­ge Ver­ant­wor­tung hat, mit der Natur pfleg­lich umzu­ge­hen. Das sind unse­rer Mei­nung nach die stra­te­gi­schen Schluss­fol­ge­run­gen, die wir aus der Tat­sa­che ablei­ten, dass die zer­stö­re­ri­sche Kraft des Kapi­ta­lis­mus den Pla­ne­ten in ein neu­es geo­lo­gi­sches Zeit­al­ter geführt hat.

16. Die­se Ana­ly­se liegt unse­rer Stra­te­gie der Kon­ver­genz von sozia­len und öko­lo­gi­schen Kämp­fen zugrunde.

17. Die Kon­ver­genz der Kämp­fe darf sich nicht dar­auf beschrän­ken, unter den sozia­len Bewe­gun­gen und ihren Orga­ni­sa­tio­nen nach dem größ­ten gemein­sa­men Nen­ner der For­de­run­gen Aus­schau zu hal­ten. Eine sol­che Vor­ge­hens­wei­se könn­te näm­lich leicht zur Ver­nach­läs­si­gung bestimm­ter For­de­run­gen von bestimm­ten Grup­pen füh­ren – zum Nach­teil der Schwächs­ten. Und das wäre das Gegen­teil von Konvergenz.

18. Die Kon­ver­genz von sozia­len und öko­lo­gi­schen Kämp­fen umfasst alle Kämp­fe aller sozia­len Akteu­re, von den erfah­rens­ten bis zu den unent­schlos­se­nen. In einem dyna­mi­schen inter­ak­ti­ven Pro­zess lässt sich das Bewusst­sein über Aktio­nen und Debat­ten, die von gegen­sei­ti­gem Respekt getra­gen sind, erwei­tern. Ziel ist nicht eine fix-und-fer­ti­ge Platt­form, son­dern die Akti­ons­ein­heit der Aus­ge­beu­te­ten und Unter­drück­ten rund um kon­kre­te For­de­run­gen. Dadurch lässt sich eine Dyna­mik in Gang set­zen, die auf die Erobe­rung der poli­ti­schen Macht und den Sturz des Kapi­ta­lis­mus in der gan­zen Welt abzielt.

19. In der Pra­xis bedeu­tet die öko­so­zia­le Kon­ver­genz der Kämp­fe heu­te vor allem, dass sich die Akteu­re, die sich der öko­lo­gi­schen Gefah­ren am meis­ten bewusst sind, an die Akteu­re wen­den, die sich der sozia­len Bedro­hun­gen am meis­ten bewusst sind (und umge­kehrt), um gemein­sam den fal­schen kapi­ta­lis­ti­schen Gegen­satz zwi­schen sozia­len und öko­lo­gi­schen Fra­gen zu überwinden.

20. Bei die­sem Ansatz spielt das Ein­tre­ten für ein öko­lo­gi­sches Gewerk­schafts­mo­dell, das sowohl klas­sen­kämp­fe­risch als auch anti­pro­duk­ti­vis­tisch ist, eine wesent­li­che Rol­le. Es setzt an bei den kon­kre­ten Sor­gen der Werk­tä­ti­gen um die Sicher­heit am Arbeits­platz und um die Erhal­tung ihrer Gesund­heit und es weist auf die Schä­den an den Öko­sys­te­men und die Gefah­ren der Pro­duk­ti­on hin, die am bes­ten von den Beschäf­tig­ten selbst ein­ge­schätzt wer­den können.

21. Als öko­so­zia­lis­ti­sche Aktivist:innen unter­stüt­zen wir den Wider­stand am Arbeits­platz durch Streiks und ande­re Akti­ons­for­men zur För­de­rung der Orga­ni­sie­rung und Selbst­ver­wal­tung der Beschäf­tig­ten. Wir arbei­ten dar­an, die Mobi­li­sie- run­gen vor­an­zu­trei­ben, indem wir Streiks und Demons­tra­tio­nen sowie alle Spiel­ar­ten der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und der Ver­tei­di­gung gegen Repres­sio­nen mit Infor­ma­ti­ons­kam­pa­gnen ver­bin­den, um den Lügen der herr­schen­den Medi­en und der Regie­run­gen entgegenzuwirken.

22. Wir las­sen uns auch von For­men des zivi­len Unge­hor­sams inspi­rie­ren, von der Blo­cka­de von Anla­gen bis zum Boy­kott von Miet­zah­lun­gen, die eben­falls ihre Wirk­sam­keit bewie­sen haben.

23. Die Erfah­run­gen aus den Kämp­fen flie­ßen in die stra­te­gi­sche Debat­te ein.

24. Anti­pro­duk­ti­vis­ti­sche Kämp­fe sind viel­fäl­tig, aber im All­ge­mei­nen ist ihr Aus­gangs­punkt sehr kon­kret, oft lokal, etwa im Wider­stand gegen eine neue Ver­kehrs­in­fra­struk­tur (Auto­bahn, Flug­ha­fen usw.), kom­mer­zi­el­le oder logis­ti­sche Infra­struk­tur, extrak­ti­vis­ti­sche Infra­struk­tur (Berg­wer­ke, Pipe­lines, Mega­stau­däm­me usw.), die Aneig­nung von Land oder Was­ser, die Zers- törung eines Wal­des oder eines Flus­ses usw. Men­schen wer­den nicht so sehr auf­grund von all­ge­mei­nen Über- legun­gen aktiv, son­dern in ers­ter Linie wegen der unmit­tel­ba­ren Bedro­hung des täg­li­chen Lebens, der Lebens­grund­la­gen und der Gesund­heit. Durch die Aus­ein­an­der­set­zung mit poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­gern, kapi­ta­lis­ti­schen Kon­zer­nen und den Insti­tu­tio­nen, die in deren Inter­es­se agie­ren, sowie durch das Schmie­den von Alli­an­zen zwi­schen Akteu­ren mit unter­schied­li­chen Geschich­ten und Anlie­gen wird der Kampf glo­ba­ler und politischer.

25. Die Ver­bin­dung von Kämp­fen, die in einem bestimm­ten Gebiet ver­an­kert sind, mit einem prä­zi­sen Ziel und einer all­ge­mei­nen Stoß­rich­tung gibt es über­all auf der Welt. Sie hat eine neue poli­ti­sche Rea­li­tät geschaf­fen: „Blo­ck­a­dia“.

26. In Frank­reich hat der Zusam­men­schluss von Bau­ern und Bäue­rin­nen, jun­gen radi­ka­len Aktivist:innen und Anrai­nern gegen das Flug­ha­fen­pro­jekt in Not­re-Dame-des-Lan­des die Unter­stüt­zung der Bevöl­ke­rung und der Gewerk­schaf­ten, ein­schließ­lich der­je­ni­gen des Kon­zes­sio­närs, erhal­ten und zum Sieg geführt.
Inspi­riert von die­ser erfolg­rei­chen Stra­te­gie konn­te die Bewe­gung Soulè­ve­ments de la Terre im Kampf gegen Mega­bas­sins (rie­si­ge Was­ser­re­ser­voirs für die Bewäs­se­rung von Plan­ta­gen der Agrar­kon­zer­ne) die Fra­ge des Was­sers als Gemein­gut auf­wer­fen, das gegen sei­ne Mono­po­li­sie­rung durch die Agrar­in­dus­trie geschützt wer­den muss.

27. In den Ver­ei­nig­ten Staa­ten haben die Sioux gegen die Dako­ta Access Pipe­line (DAPL), die den Mis­sou­ri und den Mis­sis­sip­pi zu ver­schmut­zen droht und das Hei­li­ge Land der indi­ge­nen Sioux durch­quert, ein Camp in Stan­ding Rock errich­tet, dem sich Tau­sen­de von Men­schen (Jugend­li­che, Umweltschützer:innen und ande­re) ange­schlos­sen haben. Das Camp wider­stand hef­ti­gen Repres­sio­nen und erzwang eine Unter­su­chung über die Gefah­ren der DAPL für die Umwelt. Der juris­ti­sche und poli­ti­sche Kampf geht weiter.
28. Die Ent­ste­hung eines öko­so­zia­lis­ti­schen Klas­sen­be­wusst­seins setzt die Kon­ver­genz der Kämp­fe vor­aus. Dazu kön­nen auch (jun­ge) Wissenschaftler:innen bei­tra­gen, indem sie ihr (agro­no­mi­sches, kli­ma­ti­sches, natur­wis­sen­schaft­li­ches…) Wis­sen nut­zen und teilen.

29. Streik­ko­mi­tees, kom­mu­na­le Gesund­heits­zen­tren, Betriebs­über­nah­men, Land­be­set­zun­gen, selbst­ver­wal­te­te Wohn­an­la­gen, Repa­ra­tur­werk­stät­ten, Kan­ti­nen, Saat­gut­bi­blio­the­ken usw. ermög­li­chen das Expe­ri­men­tie­ren mit einer vom Kapi­ta­lis­mus befrei­ten Orga­ni­sa­ti­on der Gesellschaft. 
Sie ermög­li­chen den poli­tisch und wirt­schaft­lich Ent­mach­te­ten, ihre kol­lek­ti­ve Macht und Intel­li­genz zu erfah­ren. Mit der Zer­streu­ung von Illu­sio­nen über eine mög­li­che Umge­hung oder Anpas­sung des Sys­tems tref­fen sie frü­her oder spä­ter auf den Staat und den kapi­ta­lis­ti­schen Markt und erfah­ren, dass es unmög­lich ist, auf die poli­ti­sche Macht und den Umsturz des Sys­tems zu verzichten. 
Durch kon­kre­te Alter­na­ti­ven, die, wenn auch oft nur vor­über­ge­hend, eine ande­re, basis­na­he, demo­kra­ti­sche und soli­da­ri­sche Legi­ti­mi­tät schaf­fen, wer­den sich die Unter­drück­ten ihrer eige­nen Stär­ken bewusst und kön­nen auf die Errich­tung einer neu­en Hege­mo­nie hinarbeiten.

30. Ins­ge­samt betrach­tet steht der Auf­bau von Selbst­ver­wal­tungs­or­ga­nen der Bevöl­ke­rung im Mit­tel­punkt unse­rer Strategie.

31. Die Sys­tem­kri­se des vom trans­na­tio­na­len Finanz­we­sen beherrsch­ten „Spät­ka­pi­ta­lis­mus“ ruft sowohl Ekel vor den Ver­falls­er­schei­nun­gen der bür­ger­li­chen Ord­nung her­vor als auch ein Gefühl der Hilf­lo­sig­keit ange­sichts der tief­grei­fen­den quan­ti­ta­ti­ven und qua­li­ta­ti­ven Ver­schlech­te­rung des Kräf­te­ver­hält­nis­ses zwi­schen den Klas­sen. In die­sem Zusam­men­hang gewinnt die Fra­ge der Regie­rung zuneh­mend an Bedeu- tung. Die Über­nah­me der poli­ti­schen Macht ist eine Vor­aus­set­zung für die Umset­zung eines Pro­gramms, das mit der herr­schen­den Poli­tik bricht. Aller­dings haben die letz­ten Jah­re die töd­li­chen Illu­sio­nen diver­ser poli­ti­scher Pro­jek­te sicht­bar gemacht, die die Anlie­gen der Bevöl­ke­rung aus­nut­zen, Pro­tes­te kana­li­sie­ren oder sogar im Namen einer Real­po­li­tik abwür­gen, wovon anschlie­ßend die extre­me Rech­te profitiert.

32. Es gibt kei­ne Abkür­zung. Eine öko­so­zia­lis­ti­sche Stra­te­gie des Bruchs mit den bestehen­den Ver­hält­nis­sen ist nicht vor­stell­bar ohne Kampf um eine Regie­rung auf Grund­la­ge eines Über­gangs­pro­gramms und der sys­te­ma­ti­schen För­de­rung der Selbst­tä­tig­keit, der Über­nah­me der Kon­trol­le und der direk­ten Inter­ven­ti­on der Aus­ge­beu­te­ten und Unter­drück­ten auf allen Ebe­nen. Kon­se­quen­te Maß­nah­men gegen Aus­beu­tung, Unter­drü­ckung und Zer­stö­rung der Öko­sys­te­me kön­nen nicht durch­ge­setzt wer­den ohne ein Kräf­te­ver­hält­nis, das sich auf Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on stützt. Selbst­eman­zi­pa­ti­on ist daher nicht nur unser Ziel, son­dern auch eine Stra­te­gie zum Umsturz der bestehen­den Ordnung. 
Es müs­sen neue Insti­tu­tio­nen geschaf­fen wer­den, um gemein­sam zu über­le­gen und demo­kra­tisch zu ent­schei­den, wie sich die Pro­duk­ti­on und die gesam­te Gesell­schaft orga­ni­sie­ren las­sen. Die­se neu­en Kräf­te müs­sen dem kapi­ta­lis­ti­schen Staats­ap­pa­rat ent­ge­gen­tre­ten, um ihn zu ver­nich­ten. Der Umsturz der Gesell­schafts­ord­nung und die Ent­eig­nung der Kapi­ta­lis­ten wer­den unwei­ger­lich mit einer gewalt­tä­ti­gen, bewaff­ne­ten Reak­ti­on der herr­schen­den Klas­sen rech­nen müs­sen. Ange­sichts die­ser Gewalt wer­den die Aus­ge­beu­te­ten und Unter­drück­ten kei­ne ande­re Wahl haben, als sich zu ver­tei­di­gen. Es wird dar­um gehen, für die Ver­tei­di­gung der legi­ti­men Gewalt selbst zu sor­gen – und zwar auf demo­kra­ti­sche Wei­se und unter Ver­zicht auf Män­ner­do­mi­nanz und Stellvertreterpolitik.

33. Nach­den­ken und han­deln, Kämp­fe orga­ni­sie­ren und die not­wen­di­gen Vor­aus­set­zun­gen dafür schaf­fen, Erfah­run­gen ver­glei­chen und dar­aus ler­nen: Die inter­na­tio­na­le Umset­zung die­ser gewal­ti­gen Auf­ga­be erfor­dert einen poli­ti­schen Rah­men, eine neue Inter­na­tio­na­le der Aus­ge­beu­te­ten und Unter­drück­ten. Mit die­sem Mani­fest bringt die IV. Inter­na­tio­na­le ihre Bereit­schaft zum Aus­druck, zur Bewäl­ti­gung die­ser Her­aus­for­de­rung beizutragen.

Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Mai 2025
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