Stutt­gart 21: abgrund­tief + bodenlos

Stutt­gart 21 und sein abseh­ba­res Schei­tern“ war das The­ma einer gut besuch­ten Ver­an­stal­tung des Zukunfts­fo­rums Gewerk­schaf­ten Rhein-Neckar am 16. Janu­ar 2018. 
Auf gro­ßes Inter­es­se stieß die fun­dier­te Kri­tik von Win­fried Wolf an S21 bei den Teil­neh­me­rIn­nen, die sich auch rege in die Dis­kus­si­on einbrachten. 
Musi­ka­lisch umrahmt wur­de der Abend im Mann­hei­mer Gewerk­schafts­haus von Bernd Köh­ler, der seit Jah­ren die Bewe­gung gegen S21 unterstützt.

Nach der Ver­an­stal­tung hat­ten wir Gele­gen­heit zu einem Inter­view mit Win­fried Wolf.

In Dei­nem neu­en Buch zu S21, abgrundtief+bodenlos, gehst Du von einem Schei­tern die­ses der­zeit größ­ten Bau­pro­jekts in Deutsch­land aus. Wor­auf begrün­dest Du die­sen Optimismus?
W.W.: Es ist die­se Sum­me von bau- und inge­nieur­tech­ni­schen, finan­zi­el­len, geo­lo­gi­schen und Sicher­heits­aspek­ten in Kom­bi­na­ti­on mit die­ser wun­der­ba­ren, krea­ti­ven Bür­ger­be­we­gung gegen Stutt­gart 21. Sie beglei­tet wie ein Watch­dog [Wach­hund] das zer­stö­re­ri­sche Groß­pro­jekt, was mich auch nach dem Auf­sichts­rats-Ja vom 26.01.2018 zu den neu­en Kos­ten­stei­ge­run­gen opti­mis­tisch sein lässt.

Du hast vier wesent­lich Punk­te für das abseh­ba­re Schei­tern von S21 genannt - die Gleis­nei­gung im geplan­ten unter­ir­di­schen Bahn­hof, den Kapa­zi­täts­ab­bau für den Bahn­ver­kehr, die per­ma­nen­te Kos­ten­stei­ge­rung und vor allem das Anhy­drit-Pro­blem beim Tun­el­bau. Kannst Du das bit­te erläutern?
W.W.: Der Tief­bahn­hof wird mit 15,1 Pro­mil­le eine Gleis­nei­gung haben, die beim Sechs­fa­chen des „eigent­lich“ Erlaub­ten liegt. Das ist im Fall eines gro­ßen Bahn­hofs ein­ma­lig in der Eisen­bahn­welt - und extrem gefähr­lich für die Fahr­gäs­te. Ein belie­bi­ger Lok­füh­rer könn­te sich mit Ver­weis auf deut­sches und EU-Recht wei­gern, in den S21-Haupt­bahn­hof einzufahren. 
Die Pro­jekt­kos­ten (1995: 2 Mrd., 2011: 4,5 Mrd., 2018: 8,2 Mrd. Euro) erwie­sen sich bereits bis­lang als Fass ohne Boden. Am Ende könn­ten auch 12 Mil­li­ar­den Euro nicht aus­rei­chen. Der Bahn­kon­zern hat gute Chan­cen, dass am Ende 60% der Mehr­kos­ten die Stadt Stutt­gart und das Land Baden-Würt­tem­berg zah­len müs­sen. Dass die Kos­ten von Groß­pro­jek­ten aus dem Ruder gera­ten, pas­siert sicher andern­orts auch. Doch bei S21 ist ein­ma­lig, dass man viel und immer mehr Geld dafür aus­gibt, um die Kapa­zi­tät eines bestehen­den, seit 90 Jah­ren sehr gut funk­tio­nie­ren­den Kopf­bahn­hofs um mehr als 30 Pro­zent abzu­bau­en – von 16 Kopf­bahn­glei­sen auf acht Durch­fahr­glei­se. Das ist exakt das Kapa­zi­täts­ni­veaus des Bahn­hofs in der Welt­stadt Bietigheim-Bissingen. 
Schließ­lich ist S21 eine Welt­ur­auf­füh­rung im nega­ti­ven Sinn, weil dort 16,7 km der ins­ge­samt 60 km lan­gen S21-Tun­nel­bau­ten im quell­fä­hi­gen Anhy­drit (Gips­keu­per) ver­lau­fen. So gut wie alles spricht dafür, dass es hier zu unkon­trol­lier­ba­ren Quell­vor­gän­gen kommt. Stau­fen im Breis­gau, wo sich die gesam­te Stadt seit Geo­ther­mie-Boh­run­gen im Jahr 2007 bis­lang um 60 Zen­ti­me­ter ange­ho­ben hat, lässt grüßen.

War­um hal­ten DB-Vor­stand, Auf­sichts­rat sowie die Bun­des- und die Lan­des­re­gie­rung den­noch an die­sem Irr­sinn fest?
W.W.: Alle sagen sie jetzt: HEUTE wür­de man sich nicht mehr für S21 ent­schei­den. Das Pro­jekt sei jedoch „zu weit fort­ge­schrit­ten“. Das ist dop­pel­ter Unsinn. Der ato­ma­re „Schnel­le Brü­ter“ war kom­plett fer­tig­ge­baut – da wur­den 6 Mrd. Euro (in heu­ti­gen Prei­sen) ver­baut. Doch er wur­de nicht in Betrieb genom­men. Er blieb ener­gie­tech­nisch eine Bau­rui­ne bzw. ist jetzt ein Frei­zeit­park. Bei S21 wur­de bis­lang die Hälf­te ver­baut. Und es gibt das aus­ge­zeich­ne­te Pro­jekt „Umstieg 21“, nach­dem ein grö­ße­rer Teil der bis­he­ri­gen Bau­maß­nah­men umge­nutzt wer­den könn­ten im Rah­men eines moder­ni­sier­ten Kopf­bahn­hofs. Es ist die „Staats­rä­son“, wes­we­gen auf Teu­fel komm raus wei­ter­ge­baut wird. Und am Ende, wenn man sich viel­leicht mal 2027 oder spä­ter der Inbe­trieb­nah­me nähern soll­te, dann sind alle Ver­ant­wort­li­chen längst nicht mehr da – in Ren­te, im Sarg oder auf dem Jakobs­weg nach Sant­ia­go de Compostela.

Wel­chen Zusam­men­hang gibt es zwi­schen S21 und der Ent­wick­lung des Kapitalismus?
W.W.: Das aktu­el­le Sta­di­um des Kapi­ta­lis­mus ist dadurch geprägt, dass Kapi­tal­an­la­gen im pro­duk­ti­ven Sek­tor immer weni­ger den Pro­fit ein­spie­len, den Inves­to­ren erwar­ten. Immer mehr Geld fließt in Spe­ku­la­ti­on (Immo­bi­li­en, Bit­co­ins, Akti­en), in Rüs­tung (womit man Krie­ge und Flücht­lin­ge pro­du­ziert, was neue Inves­ti­tio­nen aus­löst, um die Fes­tungs­mau­ern um Euro­pa noch höher zu machen) und in absur­de Groß­pro­jek­te wie gigan­ti­sche Tun­nel­bau­ten (Bren­ner­ba­sis­tun­nel, Val-di-Susa-Tun­nel, Feh­marn­belt-Que­rung) oder eben in Stutt­gart 21. Das bringt Bau­kon­zer­nen, Ban­ken und Ver­si­che­run­gen staat­lich abge­si­cher­te Gewin­ne. Ein will­kom­me­ner Neben­ef­fekt ist, dass hier oft Geld für die Schie­ne aus­ge­ge­ben wird, das dem Schie­nen­ver­kehr kaum etwas bringt, oder die­sem, wie bei S21, sogar scha­det. Den Auto­kon­zer­nen, die in Stutt­gart ohne­hin domi­nie­ren, kann es recht sein. Die Tat­sa­che, dass die maß­geb­li­chen S21-Bahn­chefs Heinz Dürr, Hart­mut Meh­dorn und Rüdi­ger Gru­be alle aus der Daim­ler-Kader­schie­de kamen, zuvor Top-Mana­ger bei Daim­ler waren, spricht Bände.

Wel­che Alter­na­ti­ven zu S21 siehst Du und wer kann sie durchsetzen?
W.W.: Die Alter­na­ti­ve wur­de mit „Umstieg 21“ ein­leuch­tend und durch­ge­rech­net (mit Prüf­tes­tat von der Ver­kehrs­be­ra­tungs­ge­sell­schaft Vier­egg) vor­ge­stellt: Erhalt des Kopf­bahn­hofs; Nut­zung des aus­ge­ho­be­nen Trogs für einen unter­ir­di­schen Bus­bahn­hof, für Fahr­rad­sta­ti­on und Park­decks, Wie­der­errich­tung des Nord- und Süd­flü­gels des Bonatz­baus. Die Glei­se wer­den – nach dem Ein­zie­hen der neu­en Beton­de­cke – wie­der bis zum Quer­ge­bäu­de vor­ge­zo­gen; alles wird mit einer moder­nen Glas­kon­struk­ti­on mit Solar­zel­len über­dacht, Tei­le der ande­ren bis­lang rea­li­sier­ten Tun­nel­bau­ten kön­nen teil­wei­se für ande­re Zwe­cke umge­nutzt wer­den. Und am Ende spart man – ver­gli­chen mit den rea­lis­ti­schen S21-Kos­ten – noch 3 bis 4 Mil­li­ar­den Euro.

[Die Fra­gen stell­te W.A.]

 

Buch-Tipp:

Win­fried Wolf
abgrundtief+bodenlos
Stutt­gart 21, sein abseh­ba­res Schei­tern und die Kul­tur des Widerstands
Köln 2018
373 Sei­ten, € 20,00 [D]
ISBN: 978-3-89438-671-9

Wei­te­re Infos:
Bro­schü­re zu „Umstieg 21“: www.umstieg-21.de/broschuere.html

Auf unse­rer Web­sei­te  fin­det ihr den Audio­mit­schnitt der Ver­an­stal­tung vom 16.01.2018 als mp3 zum Nachhören.

aus der Rhein-Neckar Bei­la­ge zur Avan­ti Febru­ar 2018
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