Trotz­ki und Freud

 

Hel­mut Dahmer

I

In mei­nem (2022 ver­öf­fent­lich­ten) Buch mit dem Titel Trotz­ki, die Psy­cho­ana­ly­se und die kan­ni­ba­li­schen Regime1 geht es um Trotz­kis Par­tei­nah­me für die Psy­cho­ana­ly­se, genau­er: um sein Inter­es­se an der Freud‘schen als einer ande­ren „Kri­ti­schen Theo­rie“. Dabei han­delt es sich weder um ein „harm­lo­ses“, noch um ein ledig­lich lite­ra­tur­his­to­ri­sches The­ma. Denn sowohl der mar­xis­ti­sche Revo­lu­tio­när als auch der Psy­cho­lo­ge des Unbe­wuss­ten sind ges­tern wie heu­te mit­nich­ten „neu­tra­le“ Figuren.

Dar­um macht es einen Unter­schied, ob man über das Ver­hält­nis von Albert Ein­stein zu Niels Bohr oder auch von Tho­mas Mann zu Hein­rich Mann spricht und schreibt, oder über das zwi­schen dem Autor der Traum­deu­tung2 und dem der Geschich­te der rus­si­schen Revo­lu­tio­nen des Jah­res 1917.3 Bei­de waren, um mit Gemein­sa­mem zu begin­nen, Mate­ria­lis­ten und Athe­is­ten, und bei­de waren ihr Leben lang – als Autoren und als Akteu­re – umstritten.

Per­sön­lich sind sie sich nicht begeg­net, und Freud nahm weder Notiz von Trotz­kis Inter­es­se an der Psy­cho­ana­ly­se, noch ist bekannt, dass er irgend­wel­che Schrif­ten Trotz­kis gele­sen hät­te. Bei­der Bücher wur­den 1933 in Ber­lin und in ande­ren Städ­ten des Hit­ler­reichs ver­brannt, wäh­rend sie in Mos­kau zur sel­ben Zeit ver­pönt waren und spä­ter jah­re­lang in deut­schen wie in sowje­ti­schen Biblio­the­ken unter Ver­schluss gehal­ten wurden.

Freud und Trotz­ki waren Zeit­ge­nos­sen, und sie hat­ten gemein­sa­me Geg­ner, nicht nur Kir­che und Mon­ar­chie, son­dern auch die „mas­sen­feind­li­chen Mas­sen­be­we­gun­gen“ und die tota­li­tä­ren (oder „kan­ni­ba­li­schen“) Regime, denen der II. Teil des genann­ten Buches gewid­met ist.

Spre­chen wir heu­te über Freud und Trotz­ki, so haben wir es zunächst ein­mal mit dem Resul­tat zwei­er Rezep­ti­ons­ge­schich­ten zu tun.

Im Fall der Psy­cho­ana­ly­se bestand die­se Rezep­ti­on in einer suk­zes­si­ven Restrik­ti­on oder „Revi­si­on“ unter gesell­schaft­li­chem und poli­ti­schem Druck. Die Reduk­ti­on der Freud‘schen Kri­tik unse­rer Kul­tur und ihrer Sexu­al­öko­no­mie auf eine Psy­cho­tech­nik unter ande­ren voll­zog sich im Zei­chen ihrer Ver­wis­sen­schaft­li­chung, „Medi­zi­na­li­sie­rung“ (Paul Parin) oder Pragmatisierung.

Im Fall Trotz­kis ging es – in der Stalin‘schen Sowjet­uni­on und in der von der Sta­lin-Füh­rung seit Mit­te der 1920er Jah­re kon­trol­lier­ten Kom­mu­nis­ti­schen Inter­na­tio­na­le – dar­um, sei­ne poli­ti­sche Rol­le in den rus­si­schen Revo­lu­tio­nen von 1905 und 1917 sowie als Armee­füh­rer im Bür­ger­krieg eben­so ver­ges­sen zu machen wie die von ihm ins Leben geru­fe­ne anti­sta­li­nis­ti­sche Lin­ke Opposition.

Im „Wes­ten“ wie­der­um ging es vor allem dar­um, sei­ne Mit­ver­ant­wor­tung (als Mit­glied der bol­sche­wis­ti­schen Regie­rung) für die Ermor­dung der Zaren­fa­mi­lie (1918) und für die Nie­der­schla­gung des Auf­stands von Kron­stadt (im März 1921) her­vor­zu­he­ben und ihn dadurch zu diskreditieren.

In Hit­lers euro­päi­schem Groß­reich galt die Psy­cho­ana­ly­se als eine zer­set­zen­de „jüdi­sche Wis­sen­schaft“, und im von Sta­lin beherrsch­ten „Sechs­tel der Erde“ gal­ten Trotz­kis Ana­ly­sen der Sowjet­uni­on, Hit­ler­deutsch­lands, der chi­ne­si­schen Revo­lu­ti­on (1927 und im Lau­fe des fol­gen­den Jahr­zehnts), sowie des spa­ni­schen Bür­ger­kriegs (1936-39) mehr als ein Vier­tel­jahr­hun­dert lang als kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re, um nicht zu sagen „faschis­ti­sche“ Lite­ra­tur. Trotz­ki selbst, sei­ne Fami­lie und sei­ne Genos­sin­nen und Genos­sen wur­den in den drei­ßi­ger Jah­ren zum Frei­wild der Stalin‘schen Geheimpolizei.

Trotz der Bemü­hun­gen um eine Rekon­struk­ti­on des Ori­gi­nals der Freud‘schen „Sache“, näm­lich sei­ner Kri­tik der Gegen­warts-Kul­tur als der Vor­aus­set­zung sei­ner Therapie4 , und trotz der drei­bän­di­gen Bio­gra­phie, mit der Isaac Deut­scher vor bei­na­he 70 Jah­ren die Wahr­heit über Leben und Werk Trotz­kis wie­der­her­ge­stellt hat5, haben wir es also, wenn wir über Trotz­ki und die Psy­cho­ana­ly­se spre­chen, zunächst ein­mal mit dem Gerücht über bei­de zu tun, näm­lich mit dem Nie­der­schlag der von mäch­ti­gen Geg­nern in die Welt gesetz­ten Ver­fe­mung ihrer Per­son sowie der Reduk­ti­on ihrer Theo­rien im Bewusst­sein unse­rer Zeitgenossen.

Der Mar­xist Trotz­ki und der Psy­cho­ana­ly­ti­ker Freud hat­ten gemein­sa­me Geg­ner, und der eine wie der ande­re wur­den von die­sen Geg­nern aus ihren Hei­mat­län­dern und Wir­kungs­stät­ten ver­trie­ben, der eine 1929, der ande­re 1938. Freud starb nach Beginn des Zwei­ten Welt­kriegs im eng­li­schen Exil, und Trotz­ki wur­de ein Jahr spä­ter von Sta­lins Auf­trags­kil­ler Ramón Mer­ca­der in Mexi­ko erschla­gen. Bei­der Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge wur­den in Hit­lers Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger-Uni­ver­sum bezie­hungs­wei- se in Sta­lins Archi­pel GULAG umge­bracht; das betraf vier Schwes­tern Freuds und acht Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge Trotz­kis. Nicht weni­ge Freud-Schü­ler fie­len den Nazis zum Opfer (ich nen­ne hier nur Sabi­na Spiel­rein und Karl Land­au­er), wäh­rend Sta­lin Tau­sen­de von Anhän­ge­rin­nen und Anhän­ger Trotz­kis wäh­rend des Mas­sen­ter­rors der Jah­re 1936-38 erschie­ßen ließ.

Der Hass, dem Marx und sein Schü­ler Trotz­ki eben­so wie Freud und des­sen Schü­le­rin­nen und Schü­ler aus­ge­setzt waren, resul­tier­te (und resul­tiert) aus dem eigen­tüm­li­chen Cha­rak­ter ihrer Theo­rien und ihrer Ent­de­ckun­gen. Es han­delt sich näm­lich bei der Marx‘schen wie bei der Freud‘schen Theo­rie weder um Natur-, noch um Geis­tes­wis­sen­schaf­ten im übli­chen Sinn, son­dern um Ver­su­che, einen Aus­weg aus der Aus­beu­tungs-, Illu­si­ons-, Kriegs- und Mord­ge­schich­te zu fin­den, kurz: das Rät­sel des Wie­der­ho­lungs­zwangs zu lösen.

Bei­de ent­wi­ckel­ten zu die­sem Zweck eine neue Art von Wis­sen­schaft, die der Kri­tik, in der qua­si-natur­wis­sen­schaft­li­che und geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Ver­fah­ren – Erklä­ren und Ver­ste­hen – kom­bi­niert wer­den, um den Zwang, den pseu­do­na­tür­li­che Insti­tu­tio­nen der Lebens- und Sozi­al­ge­schich­te auf deren (bewusst­lo­se) Pro­du­zen­ten aus­üben, auf­zu­lö­sen.6

Freud ent­wi­ckel­te sei­ne Psy­cho­lo­gie des Unbe­wuss­ten, indem er zum einen den rät­sel­haf­ten „Psy­cho­neu­ro­sen“ sei­ner Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten nach­ging und sie als „sozia­le Lei­den“ (Sán­dor Feren­c­zi) – also Lei­den an der bestehen­den Gesell­schaft – erkann­te und, zum andern, die eben­so „unver­ständ­li­chen“ mensch­li­chen Träu­me als zen­sier­te (und dar­um ver­schlüs­sel­te) Wunsch­er­fül­lungs-Phan­ta­sien dechif­frier­te. Galt ihm die See­le als ein „Reiz­be­wäl­ti­gungs-Appa­rat“, so bestand das See­len­le­ben der ver­ge­sell­schaf­te­ten Indi­vi­du­en im Aus­tra­gen der lebens­lan­gen Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen ihren „aso­zia­len“ Trieb­wün­schen und den ihnen auf­er­leg­ten schicht- und klas­sen­spe­zi­fi­schen Versagungen.

Von Ernst Hae­ckels Wei­ter­ent­wick­lung der Darwin‘schen Ent­wick­lungs­theo­rie ange­regt, der zufol­ge die Onto­ge­ne­se eine ver­kürz­te Reka­pi­tu­la­ti­on der Phy­lo­ge­ne­se ist, also jedes Indi­vi­du­um die Ent­wick­lung sei­ner Gat­tung abge­kürzt wiederholt7, ent­deck­te Freud „Ent­spre­chun­gen“ (oder Ana­lo­gien) zwi­schen den von Eth­no­lo­gen bei außer­eu­ro­päi­schen, vor­ka­pi­ta­lis­tisch orga­ni­sier­ten Völ­kern beschrie­be­nen Insti­tu­tio­nen (wie „Totem“ und „Tabu“), den Mythen und Orga­ni­sa­ti­ons­for­men anti­ker Kul­tu­ren sowie euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen der Gegen­wart. Vor allem sah er in der (früh­kind­lich-fami­lia­len) Sozia­li­sa­ti­on eine Wie­der­ho­lung ent­schei­den­der Etap­pen der Ent­wick­lung früh­mensch­li­cher „Urhor­den“.8

Er ging also, um über die im Bann der ältes­ten Geschich­te ste­hen­de Gegen­wart hin­aus­zu­kom­men, auf deren Vor­ge­schich­te zurück, so, wie er, um das Lei­den sei­ner Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten zu ver­ste­hen und (nach Mög­lich­keit) zu lin­dern, auf deren „Vor­ge­schich­te“, näm­lich auf ihre Kind­heit Bezug nahm.

Bei der Erfor­schung der Gene­se psy­chi­scher Stö­run­gen wie bei der Fahn­dung nach dem Sinn von Träu­men ver­fuhr er dia­lo­gisch: Der (gegen Öffent­lich­keit abge­schirm­te) Schutz­raum der psy­cho­ana­ly­ti­schen „Kur“ ermög­lich­te Pati­ent und The­ra­peut eine Reduk­ti­on der sozi­al­mo­ra­li­schen Zen­sur, das Aus­spre­chen von Ver­pön­tem, das Zulas­sen „frei­er Asso­zia­tio- nen“ (der Send­bo­ten des Ver­drängt-Unbe­wuss­ten) und deren Deutung.

Marx hat­te die öko­no­mi­schen Theo­rien der Smith (1776) und Ricar­do (1817), vor allem deren Deu­tung der Natur des „Mehr­werts“ (oder Pro­fits) kri­ti­siert und ver­sucht, die moder­ne Wirt­schafts­ge­sell­schaft durch Ver­glei­che mit anders­ar­ti­gen his­to­ri­schen Pro­duk­ti­ons­wei­sen (der archai­schen, der alt­chi­ne­si­schen, der grie­chisch-römi­schen, der feu­da­len) zu ver­ste­hen und sie auf die­se Wei­se zu historisieren.

Auch bei ihm fin­den wir also den Rück­gang auf die Ver­gan­gen­heit, auf die Vor­ge­schich­te der Gegen­wart, um über die­se hin­aus­zu­kom­men. Adres­sa­ten sei­ner Kri­tik waren weni­ger die von ihm kri­ti­sier­ten Phi­lo­so­phen und Sozi­al­öko­no­men als die revo­lu­tio­nä­ren Hand­wer­ker­bün­de und Gewerk­schaf­ten, die lesen­den Arbei­ter und die sich mit ihnen soli­da­ri­sie­ren­den Intel­lek­tu­el­len, die er über die sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Pres­se, über Vor­trä­ge, Bro­schü­ren und die Erklä­run­gen der von ihm ins Leben geru­fe­nen I. Inter­na­tio­na­le (1864-72) zu errei­chen such­te. Marx, Freud und Trotz­ki wur­den ver­folgt, ille­ga­li­siert und ver­jagt als Kri­ti­ker der zu ihrer Zeit (und noch heu­te in wei­ten Tei­len der Bevöl­ke­rung der hoch ent­wi­ckel­ten Län­der, der Rus­si- schen Föde­ra­ti­on und der außer­eu­ro­päi­schen Welt) vor­herr­schen­den Ideo­lo­gien: der tra­di­tio­nel­len Men­schen­bil­der, der Reli­gio­nen und Tabu-Sys­te­me, der Unfä­hig­keit, Geschich­te, Wirt­schaft und Poli­tik anders denn als „Schick­sal“ zu begreifen.

II

Im Fol­gen­den möch­te ich das von Max Hork­hei­mer 1937 – in Koope­ra­ti­on mit Her­bert Mar­cu­se ent­wi­ckel­te und in der in Paris erschei­nen­den Zeit­schrift für Sozi­al­for­schung vor­ge­stell­te – Pro­jekt einer „Kri­ti­schen Theo­rie“ kurz erläu­tern: Kri­tik heißt bei Marx wie bei Freud die dia­lo­gi­sche Rekon­struk­ti­on des Zustan­de­kom­mens, also der Geschich­te von Insti­tu­tio­nen, die ein­mal Über­le­bens­hil­fen waren, im Lau­fe der Zeit aber zu Ent­wick­lungs­blo­cka­den (oder Zwangs­ja­cken) gewor­den sind. Zweck der Kri­tik ist es alle­mal, sol­che obso­let gewor­de­nen Insti­tu­tio­nen durch die Auf­de­ckung ihrer Ent­ste­hungs­ge­schich­te, also durch ihre His­to­ri­sie­rung, für eine insti­tu­tio­nen­än- dern­de Pra­xis zu öffnen.

Die Kri­tik hebt im Reich der Theo­rie – demons­tra­tiv anti­zi­pie­rend – den Zwang der Insti­tu­tio­nen auf, dem die ihnen Unter­wor­fe­nen (und in sie Ein­ge­füg­ten) unter­lie­gen, solan­ge sie sie für „natur­ge­ge­ben“ hal­ten. Sie wirkt damit dem Denk­ver­bot ent­ge­gen, das bestehen­de Insti­tu­tio­nen gegen Alter­na­ti­ven, gegen Ver­än­de­rung immu­ni­siert. Kri­tik ist die Anti­zi­pa­ti­on einer Pra­xis, die dar­auf abzielt, obso­let gewor­de­ne Insti­tu­tio­nen der Lebens- und der Sozi­al­ge­schich­te abzu­schaf­fen.9

Weder der his­to­ri­sche Mate­ria­lis­mus, noch die Psy­cho­ana­ly­se ent­spre­chen also dem Typus der tech­nisch ori­en­tier­ten Natur­wis­sen­schaf­ten oder dem­je­ni­gen der (kul­tu­rel­le Objek­ti­va- tio­nen [Ver­ge­gen­ständ­li­chun­gen] über­lie­fern­den) Geis­tes­wis­sen­schaf­ten. Sie sind viel­mehr Pro­to­ty­pen einer drit­ten, neu­ar­ti­gen Wis­sen­schaft der Kri­tik obso­le­ter Insti­tu­tio­nen der Sozi­al- und der in die­se ein­ge­bet­te­ten Seelengeschichte.

Die Kri­tik gilt sozi­al­his­to­risch ent­stan­de­nen Insti­tu­tio­nen (wie Fami­lie, Pri­vat­ei­gen­tum, Lohn­ar­beit und Staat) oder lebens­ge­schicht­lich ent­stan­de­nen, „pri­va­ten“ Insti­tu­tio­nen (wie Hys­te­rien, Zwangs­neu­ro­sen und Psy­cho­sen). Sol­che Insti­tu­tio­nen impo­nie­ren als „natür­li­che“ oder „unver­ständ­li­che“. Die Kri­tik ram­po­niert ihren Natur­schein, indem sie ihre Genea­lo­gie [Ent­ste­hungs­ge­schich­te] auf­deckt. Sie zielt dar­auf ab, die „Bewusst­lo­sig­keit der Betei­lig­ten“ (Fried­rich Engels) auf­zu­he­ben, auf der die Ohn­macht der Ver­ge­sell­schaf­te­ten gegen­über ihren Insti­tu­tio­nen – bezie­hungs­wei­se die Ohn­macht der Neu­ro­ti­ker gegen­über ihren Sym­pto­men – beruht. Sie soll ihnen den Weg zu einer sozi­al- bezie­hungs­wei­se lebens­ge­schicht­li­chen Revi­si­on über­leb­ter Insti­tu­tio­nen eröffnen.

Die Kri­tik, wie sie Marx und Freud – im Anschluss an den mate­ria­lis­ti­schen Hegel- und Schel­ling-Kri­ti­ker Lud­wig Feuerbach10 – ent­wi­ckelt haben, der eine auf dem Feld der Öko­no- mie, der ande­re auf dem der Psy­cho­lo­gie, ist eine dreifache.

Sie beginnt – sozu­sa­gen „von außen“ her – als poli­ti­sche Kri­tik sowohl am „com­mon sen­se“, d. h. der in der Öffent­lich­keit vor­herr­schen­den Deu­tung der aktu­el­len Situa­ti­on (und der Ver­gan­gen­heit), als auch an den Ideo­lo­gen und Mei­nungs­ma­chern, die die­se Deu­tung for­mu­lie­ren, sys­te­ma­ti­sie­ren und ver­brei­ten. Die nächs­te Stu­fe ist die imma­nen­te Kri­tik von Tex­ten, in denen zutref­fen­de und unzu­tref­fen­de Behaup­tun­gen, akzep­ta­ble und inak­zep­ta­ble Argu­men­ta­tio­nen mit­ein­an­der ver­floch­ten sind. Deren Unter­schei­dung führt wei­ter zu der Fra­ge, was die Vor­aus­set­zung für die Ent­ste­hung (und Ver­brei­tung) sol­cher „ideo­lo­gi­scher“ Tex­te ist (oder war), wel­che gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se dem Ver­fas­ser oder der Ver­fas­se­rin vor Augen stan­den (und seinem/ihrem Ver­ständ­nis Gren­zen setz­ten) und was sein/ihr Inter­es­se bei deren Deu­tung gewe­sen ist.11

Die Marx‘sche Sozio­lo­gie und die Freud‘sche Psy­cho­lo­gie haben, wie gesagt, eine gemein­sa­me Wur­zel: die mate­ria­lis­ti­sche Kri­tik Lud­wig Feu­er­bachs an Hegels Geschichts- und an Schel­lings Natur­phi­lo­so­phie. Und es war gera­de die dar­aus resul­tie­ren­de struk­tu­rel­le Ver­wandt­schaft der Kri­tik der poli­ti­schen Öko­no­mie mit Freuds Kri­tik der tra­di­tio­nel­len Bewusst­seins-Psy­cho­lo­gie, die Mar­xis­ten und Freu­dia­ner ein Jahr- hun­dert lang dazu bewo­gen hat, ein­an­der miss­zu­ver­ste­hen und zu bekämpfen.

III

Freud, der Kul­tur­kri­ti­ker und See­len­arzt, und Trotz­ki, der mar­xis­ti­sche Revo­lu­tio­när und His­to­ri­ker, haben in den Jah­ren 1907-14 bei­de in Wien gelebt, sind ein­an­der aber ver­mut­lich nie begeg­net (obwohl Trotz­ki schrieb, er habe dort auch Ver­samm­lun­gen von Psy­cho­ana­ly­ti­kern besucht). Freud hat natür­lich von Trotz­ki als einem Zeit­ge­nos­sen Kennt­nis genom­men (also als Revo­lu­ti­ons- und Armee­füh­rer, Sta­lin-Oppo­nent und von Sta­lin Ver­folg­ter), nicht aber von sei­nen Schriften. 
Was es mit der Marx‘schen Geschichts- und Gesell­schafts­theo­rie auf sich hat, erschloss sich Trotz­ki (1900, wäh­rend sei­ner Haft in Odes­sa) durch die Lek­tü­re der Schrif­ten des ita­lie- nischen Hegel-Mar­xis­ten Anto­nio Labrio­la.12

Mit der „ver­füh­re­ri­schen“ Psy­cho­ana­ly­se wur­de er wäh­rend sei­ner Emi­gra­ti­ons­jah­re in Wien (1907-14) bekannt13, und zwar zum einen durch Gesprä­che mit sei­nen poli­ti­schen Freun­den in der Wie­ner rus­si­schen Emi­gran­ten-Kolo­nie – vor allem mit Adolf Jof­fe (der, selbst Arzt, bei Alfred Adler in The­ra­pie war) und mit Adlers Frau Rais­sa, die bei­de an der von ihm her­aus­ge­ge­be­nen Wie­ner Praw­da mit­ar­bei­te­ten –, zum andern durch sei­ne Lek­tü­re Freud‘scher Schriften.

An der in den Jah­ren 1908-12 unre­gel­mä­ßig erschei­nen­den Praw­da, die nach Russ­land geschmug­gelt wur­de, arbei­te­te u. a. der Marx-Ken­ner David Rjas­anow mit, der spä­ter, in den 1920er Jah­ren, in Koope­ra­ti­on mit dem Frank­fur­ter „Insti­tut für Sozi­al­for­schung“ die ers­te Marx-Engels-Gesamt­aus­ga­be (MEGA) begründete. 
Trotz­ki warb in der Praw­da in ein­fa­cher Spra­che für die Ein­heit der rus­si­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie und für sein Kon­zept einer per­ma­nen­ten Revo­lu­ti­on in Russ­land. Dabei han­del­te es sich um die (1917 bestä­tig­te) Pro­gno­se, dass der Zaris­mus allen­falls von einer revo­lu­tio­nä­ren Arbei­ter­par­tei im Bun­de mit der bäu­er­li­chen Mehr­heit des Lan­des gestürzt wer­den kön­ne. 1912-14 schrieb er als Kriegs­kor­re­spon­dent für die libe­ra­le rus­si­sche Zei­tung Kiews­ka­ja Mysl („Kie­wer Gedan­ke“) über die bei­den Bal­kan­krie­ge, besuch­te Sofia und Bel­grad, bereis­te mit sei­nem Freund Chris­ti­an Rakowski14 die Dobrud­scha und doku­men­tier­te die Kriegs­gräu­el bei­der Sei­ten.15

Trotz­ki ver­ehr­te Freud als „Genie“, und Freud‘sche Begrif­fe und Argu­men­ta­tio­nen tau­chen immer wie­der in sei­nen Schrif­ten auf.16 Unter den Revo­lu­tio­nä­ren sei­ner Zeit erkann­te er (fast) als ein­zi­ger, dass Freuds bio­lo­gi­scher Mate­ria­lis­mus zum his­to­ri­schen ten­diert und die Lösung gesell­schaft­li­cher Rät­sel in Geschich­te und Gegen­wart ermög­licht – han­de­le es sich um den Anti­se­mi­tis­mus, um Hit­lers „Macht­er­grei­fung“ in Deutsch­land oder um Sta­lins Mos­kau­er Schauprozesse. 
Trotz­ki war Inter­na­tio­na­list und Ver­fech­ter der Räte­de­mo­kra­tie, und er hat als Sozio­lo­ge das Auf­kom­men sowohl des rus­si­schen als auch des deut­schen tota­li­tä­ren Regimes ana­ly­siert und zu ver­hin­dern gesucht. Vor allem in drei Etap­pen sei­nes poli­ti­schen Lebens griff er auf die Res­sour­ce der Freud‘schen Kri­tik zurück: 
• Zum einen in den Jah­ren des rus­si­schen „Ther­mi­dors“ (1923 - 26), als – nach dem Bür­ger­krieg – die Par­tei- und Staats­bü rokra­tie die allei­ni­ge Kon­trol­le von Wirt­schaft und Gesell schaft über­nahm, die Revo­lu­ti­on rück­läu­fig wur­de und die Oppo­si­tio­nel­len in die Min­der­heit gerieten, 
• sodann in den Jah­ren 1929-1933, als er – wäh­rend sei­nes Exils in der Tür­kei – sei­ne bedeu­tends­ten Bücher schrieb, die Auto­bio­gra­phie und die gro­ße Geschich­te der bei­den Revo lutio­nen des Jah­res 1917, 
• und schließ­lich 1938, als er im mexi­ka­ni­schen Exil ver­such­te, eine neue, anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Inter­na­tio­na­le ins Leben zu rufen und – ange­sichts der staat­lich gelenk­ten Propaganda-„Kunst“ in den Men­schen­fres­ser-Regi­men Sta­lins und Hit­lers – ge mein­sam mit dem Sur­rea­lis­ten André Bre­ton und dem Fres ken-Maler Die­go Rive­ra die Auto­no­mie der Kunst verteidigte.

1923 begrün­de­te er nicht nur eine Lin­ke Oppo­si­ti­on gegen die Büro­kra­ti­sie­rung von Par­tei, Staat und Wirt­schaft, son­dern ver­öf­fent­lich­te auch eine Zwi­schen­bi­lanz der rus­si­schen Lite­ra­tur der Revo­lu­ti­ons­jah­re (Babel, Block, Jes­sen­in, Maja­kow­ski, Piln­jak und ande­re), gefolgt von einer Aus­wahl sei­ner (in Irkutsk, Wien und Paris ver­fass­ten) Lite­ra­tur­kri­ti­ken aus den Jah­ren 1900-1914.

Dem Stalin‘schen (iso­la­tio­nis­tisch-ter­ro­ris­ti­schen) Pro­jekt des „Sozia­lis­mus in einem Lan­de“ ent­sprach die Umbil­dung der mar­xis­ti­schen Kri­tik zu einer „Welt­an­schau­ung“. Die­se soll­te nicht nur der Recht­fer­ti­gung der jewei­li­gen Par­tei­po­li­tik die­nen, son­dern es auch ermög­li­chen, als „anti-mate­ria­lis­tisch“ oder „anti-sozia­lis­tisch“ ver­pön­te Wis­sen­schaf­ten und Küns­te zu unter­drü­cken. Die­sem Ver­bot – das in den 1930er Jah­ren zur Ein­schüch­te­rung bezie­hungs­wei­se Aus­rot­tung einer gan­zen Gene­ra­ti­on von Avant­gar­de-Künst­lern führ­te – ver­fie­len die Psy­cho­ana­ly­se eben­so wie die Rela­ti­vi­täts­theo­rie, die Quan­ten­phy­sik, die Gene­tik und die Semio­tik, Neue­run­gen, von denen Engels, Ple­cha­now und Lenin noch nichts hat­ten ahnen kön­nen. Trotz­ki war es dar­um zu tun, der sich abzeich­nen­den suk­zes­si­ven Ver­en­gung des geis­ti­gen Hori­zonts und der dar­aus resul­tie­ren­den restrik­ti­ven Kunst- und Wis­sen­schafts­po­li­tik der allein­herr­schen­den Par­tei ent­ge­gen­zu­wir­ken. Dar­um ver­tei­dig­te er die Psy­cho­ana­ly­se als eine mate­ria­lis­ti­sche Theo­rie des Men­schen und sei­ner Kulturgeschichte.

Im Schluss­ka­pi­tel sei­nes Buches Lite­ra­tur und Revo­lu­ti­on skiz­zier­te er 1923 – unter Beru­fung auf Freud – eine tech­no­kra­tisch ori­en­tier­te Uto­pie künf­ti­ger Natur- und Selbst­ver­än­de­run­gen der Mensch­heit. Lief schon Freuds (im sel­ben Jahr for­mu­lier­tes) the­ra­peu­ti­sches Pro­jekt einer „fort­schrei­ten­den Erobe­rung des Es“ durch das bewuss­te Ich auf eine Art Kolo­ni­sie­rung des Unbe­wuss­ten hin­aus, so träum­te Trotz­ki sogar von der „Abschaf­fung der Bewusst­lo­sig­keit“ schlecht­weg. Da aber bei­de Autoren es mit dem his­to­risch varia­blen Ver­hält­nis von Gesell­schaft und Natur zu tun hat­ten, kam bei ihnen dann, kor­rek­tiv, doch auch die ande­re, die Natur-Sei­te, zur Geltung.

Für die Mate­ria­lis­ten Freud und Marx ist die Natur, die „äuße­re“ wie die des Men­schen, stets auch deren Wider­part – Vor­aus­set­zung (oder „Mate­ri­al“) aller Trans­for­ma­tio­nen durch Arbeit, Sozia­li­sa­ti­on und Herr­schaft. Und so hat denn Freud schließ­lich auch nicht auf die Erobe­rung des Unbe­wuss­ten gesetzt, son­dern auf die Locke­rung intra­psy­chi­scher Zen­sur­schran­ken (auf Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen den Sys­te­men oder Instan­zen des Unbe­wuss­ten, des Vor­be­wuss­ten und des Bewusst­seins). Die Deu­tung asso­zia­ti­ver Boten aus dem Unbe­wuss­ten soll­te die Auf­he­bung obso­let gewor­de­ner, zwang­haf­ter „Ver­drän­gun­gen“ ermög­li­chen. Trotz­ki sei­ner­seits setz­te der Epo­che der tech­ni­schen Natur­be­herr­schung eine Frist – sie wer­de eine Ära vor­be­rei­ten, in der „Tiger und Auer­ochs“ in der von Men­schen ver­än­der­ten Natur ihrer eige­nen Natur gemäß leben (und die mensch­li­che Tech­nik nicht ein­mal bemer­ken) würden.

Was Freuds „Erobe­rung des Es“ angeht, han­del­te es sich um eine zwei­fa­che Grenz­re­vi­si­on. Zum einen erkann­te er, dass das – kon­ven­tio­nell mit der Psy­che gleich­ge­setz­te – bewuss­te Ich nur eine für die Rea­li­täts­kon­trol­le zustän­di­ge Rand­zo­ne des see­li­schen Kon­ti­nents ist, eine zwecks Reiz­auf­nah­me modi­fi­zier­te „Rin­den­schicht des Es“. Zum andern aber rekla­mier­te er einen Teil des Es-Kon­ti­nents als ver­lo­re­nes, poten­ti­ell aber rück­ge­winn­ba­res Ter­ri­to­ri­um: die Pro­vinz des Ver­drängt-Unbe­wuss­ten, das der Heim­ho­lung (aus der Pri­vat- und Kör­per­spra­che) in die All­ge­mein­spra­che, also ins Bewusst­sein harrt.

Marx hat­te ver­sucht, sei­nen Zeit­ge­nos­sen den bewusst­los ver­lau­fen­den geschicht­li­chen Pro­zess zu Bewusst­sein zu brin­gen. Dem­nach hat sich die mensch­li­che Geschich­te im Rah­men von unter­schied­li­chen Gesell­schafts­for­ma­tio­nen abge­spielt, und ihr Ziel ist die Reduk­ti­on der gesell­schaft­lich not­wen­di­gen Arbeits­zeit. Ana­log ver­such­te Freud, zu Bewusst­sein zu brin­gen, dass es sich bei die­sem Pro­zess der Stei­ge­rung der Arbeits- pro­duk­ti­vi­tät um den einer risi­ko­rei­chen Selbst­do­mes­ti­ka­ti­on [Selbst­zähn­mung] unse­rer Gat­tung han­delt und dass der Aus­gang die­ses Selbst­do­mes­ti­ka­ti­ons-Pro­zes­ses wie der der Klas­sen­kämp­fe unge­wiss ist.

Im Rück­blick auf sein eige­nes Leben und im Zuge der Rekon­struk­ti­on der Ereig­nis­se des Revo­lu­ti­ons­jah­res 1917, die er 1906 (mit sei­ner Theo­rie der „per­ma­nen­ten Revo­lu­ti­on“) anti­zi­piert und in denen er dann eine aus­schlag­ge­ben­de Rol­le gespielt hat­te, kam Trotz­ki in den Jah­ren 1929-33 auf die von Freud 1905 ver­öf­fent­lich­te Ana­ly­se des Wit­zes zurück.

Im Hin­blick auf die­se klei­ne lite­ra­ri­sche und Gesprächs-Form hat­te Freud sei­ne Theo­rie des Zustan­de­kom­mens und der Rezep­ti­on von künst­le­ri­schen Gebil­den ent­wi­ckelt. Der zufol­ge ist der (nicht inten­dier­ba­re [beab­sich­tig­ba­re]) Witz – wie das ori­gi­nel­le Kunst­werk – ein Atten­tat auf die Kon­ven­ti­on. Der Witz stellt sich ein, wenn die Angst (des Erzäh­lers oder Künst­lers) vor Devi­anz [Abwei­chung von der Norm] für einen Augen­blick nach­lässt und der „inne­re Zen­sor“ durch das Gau­kel­spiel frei­ge­las­se­ner Wort-Asso­zia­tio­nen abge­lenkt und geblen­det wird.17

Dann nutzt das Tabu­ier­te, vom Wort Abge­schnit­te­ne, sei­ne Chan­ce, fin­det einen neu­ar­ti­gen Aus­druck (im Wort, im Bild oder in Tönen) und bahnt sich auf die­se Wei­se den Weg zum Bewusst­sein und zur Kom­mu­ni­ka­ti­on. Dar­um ist schon der Witz (und nicht nur der poli­ti­sche) eine Revo­lu­ti­on en minia­tu­re. „Die schöp­fe­ri­sche Ver­ei­ni­gung des Bewuss­ten mit dem Unbe­wuss­ten ist das, was man gewöhn­lich Inspi­ra­ti­on nennt“, schrieb Trotzki18, und Freud hat­te das Zustan­de­kom­men einer sol­chen „Ver­ei­ni­gung“ meta­psy­cho­lo­gisch wie folgt beschrie­ben: „Ein vor­be­wuss­ter Gedan­ke wird für einen Moment der unbe­wuss­ten Bear­bei­tung über­las­sen, und deren Ergeb­nis als­bald von der bewuss­ten Wahr­neh­mung erfasst.“19

Einer Inspi­ra­ti­on ver­dankt sich der glück­li­che Ein­fall der Red­ne­rin, des Künst­lers, der Schrift­stel­le­rin; einer Inspi­ra­ti­on kommt auch die mög­li­che Ent­de­ckung der Mas­sen gleich, dass sie Ver­hält­nis­se, unter denen sie lei­den, durch revo­lu­tio­nä­re Aktio­nen ver­än­dern kön­nen. In die­sem Fall kommt es zu einer Inter­ak­ti­on von Sozio- und Psy­cho­his­to­rie: „Revo­lu­ti­on ist rasen­de Inspi­ra­ti­on der Geschich­te.“20

Das Kon­zept der Inspi­ra­ti­on (bei Freud ist es das des „frei­en Ein­falls“) lag auch der Ver­tei­di­gung der auto­no­men (also „unab­hän­gi­gen“) Kunst durch Trotz­ki, Bre­ton und Rive­ra und ihrer Grün­dung einer Inter­na­tio­na­len Föde­ra­ti­on für Unab­hän­gi­ge Revo­lu­tio­nä­re Kunst (FIARI) im Som­mer 1938, ein Jahr vor Beginn des II. Welt­kriegs, zugrun­de: Ein­zig die größt­mög­li­che Unab­hän­gig­keit (von Tabus, Dok­tri­nen und Auf­trag­ge­bern) bei der Wahl ihrer Sujets und ihrer For­men befä­hi­ge Künst­ler, die Wider­sprü­che ihrer Zeit und ihrer Zeit­ge­nos­sen zum Aus­druck zu brin­gen und Alter­na­ti­ven zum Sta­tus quo zu gestal­ten. „Die wah­re Kunst anti­zi­piert“, hat­te schon Saint-Pol Roux, ein Vor­läu­fer der Sur­rea­lis­ten, pos­tu­liert, und Trotz­ki schrieb (gut „freu­dia­nisch“) an Bre­ton: Gegen die Propaganda-„Kunst“ müs­se „der Kampf um die künst­le­ri­sche Wahr­heit“ wie­der eröff­net wer­den – „im Sin­ne der uner­schüt­ter­li­chen Treue des Künst­lers zu sei­nem inne­ren Ich, ohne die es kei­ne Kunst gibt.“21

Wien, 20. Mai 2024


Fuß­no­ten
1 Müns­ter (West­fä­li­sches Dampfboot).
2 Freud, Sig­mund (1900), Die Traum­deu­tung, in: Gesam­mel­te Wer­ke (GW), Band II/III, Frank­furt (Fischer) 1968, S. V-642. 
3 Trotz­ki, Leo D. (1931), Geschich­te der rus­si­schen Revo­lu­ti­on, Febru­ar­re­vo­lu­ti­on; Ber­lin (S. Fischer). Ders. (1933), Geschich­te der rus­si­schen Revo­lu­ti­on, Okto­ber­re­vo­lu­ti­on, a. a. O. 
4 Einen Über­blick fin­det der Leser in mei­nem Buch Die unna­tür­li­che Wis­sen­schaft, Sozio­lo­gi­sche Freud-Lek­tü­ren, Müns­ter (West­fä­li­sches Dampf­boot) 2019.
5 Deut­scher, Isaac (1954-63), Trotz­ki, Bd. I-III, Stutt­gart (Kohl­ham­mer) 1962/63.
6 Apel, Karl-Otto (1968), „Szi­en­tis­tik, Her­me­neu­tik, Ideo­lo­gie­kri­tik, Ent­wurf einer Wis­sen­schafts­leh­re in erkennt­nis­an­thro­po­lo­gi­scher Sicht“, in: Ders. (1973), Trans­for­ma­ti­on der Phi­lo­so­phie, Bd. II („Das Aprio­ri der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­mein­schaft“), Frank­furt (Suhr­kamp) 1973, S. 96-127. 
7 Hae­ckel, E. (1866), Gene­rel­le Mor­pho­lo­gie, Bd. II, All­ge­mei­ne Ent­wi­cke­lungs­ge­schich­te der Orga­nis­men, [Ber­lin (Georg Rei­mer), 1866], (Reprint) Ber­lin (de Gruy­ter) 2019. 
8 Vgl. dazu Freud, S. (1937/39), Der Mann Moses und die mono­the­is­ti­sche Reli­gi­on, in: GW, Band XVI, Frank­furt (Fischer) 1961, S. 101-246, vor allem S. 186-190.
9 Dem set­zen Neu­ro­se-Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten in der The­ra­pie, von der sie Hei­lung erhof­fen, „Wider­stand“ ent­ge­gen; ähn­lich set­zen Nutz­nie­ßer und Ver­tei­di­ger des poli­tisch-gesell­schaft­li­chen Sta­tus quo alles dar­an, Kri­tik zu unter­bin­den und Kri­ti­ker zum Schwei­gen zu bringen.
10 Feu­er­bach, Lud­wig (1970), Klei­ne­re Schrif­ten II (1839-1846), in: Gesam­mel­te Wer­ke (hg. Von W. Schuf­fen­hau­er), Ber­lin (Aka­de­mie-Ver­lag) 1970. 
11 Vgl. dazu Marx‘ Dis­kus­si­on des „Schei­terns“ des Aris­to­te­les beim Ver­such zu ver­ste­hen, was den Tausch qua­li­ta­tiv ver­schie­de­ner Waren (wie Haus und Pols­ter) ermög­licht. Marx, Karl (1867), Das Kapi­tal, Kri­tik der poli­ti­schen Öko­no­mie, I. Band, in: Marx-Engels-Wer­ke, Ber­lin (Dietz) 1962, Band 23, S. 73 f.
12 Labrio­la, Anto­nio (1895-99), Über den his­to­ri­schen Mate­ria­lis­mus, (hg. von A. Asche­ri-Oster­low und C. Poz­zo­li), Frank­furt (Suhr­kamp) 1974. 
13 „Durch Jof­fe wur­de ich mit den Pro­ble­men der Psy­cho­ana­ly­se bekannt, die mir sehr ver­füh­re­risch erschie­nen, obwohl auf die­sem Gebie­te vie­les sehr schwan­kend und unbe­stän­dig ist und den Boden für Phan­tas­tik und Will­kür öff­net.“ Trotz­ki, Leo (1930), Mein Leben, Ver­such einer Auto­bio­gra­phie., Ber­lin (S. Fischer), S. 211. 
14 Rakow­ski (1873-1941) lei­te­te 1919-23 die Regie­rung der Sowjet-Ukrai­ne, war spä­ter als Diplo­mat in Paris tätig und führ­te – 1928 als Links­op­po­si­tio­nel­ler von Sta­lin nach Astra­chan ver­bannt – als einer der ers­ten die Dege­ne­ra­ti­on der bol­sche­wis­ti­schen Par­tei und des Staats­ap­pa­rats auf deren Büro­kra­ti­sie­rung zurück. Vgl. „Die Ursa­chen der Ent­ar­tung von Par­tei und Staats­ap­pa­rat. Brief an Walen­ti­now“, in: Trotz­ki (1988), Schrif­ten, Band 1.2, Ham­burg (Rasch und Röh­ring), Anhang (S. 1344-1369). 
15 Vgl. dazu Trotz­ki, Leo (1926), Die Bal­kan­krie­ge 1912-13, Essen (Arbei­ter­pres­se Ver­lag) 1996. 
16 Vgl. dazu etwa sei­nen Essay „Etwas über Umfra­gen“ (vom Mai 1912), in: Schrif­ten, Band 4.1, Köln/Karlsruhe 2023 (Neu­er ISP-Ver­lag), Text 54. 
17 „Der Witz hat in ganz her­vor­ra­gen­der Wei­se den Cha­rak­ter eines unge­woll­ten ‚Ein­falls‘. Man weiß nicht etwa einen Moment vor­her, wel­chen Witz man machen wird, den man dann nur in Wor­te zu klei­den braucht. Man ver­spürt viel­mehr etwas Unde­fi­nier­ba­res, das ich am ehes­ten einer Absenz, einem plötz­li­chen Aus­las­sen der intel­lek­tu­el­len Span­nung ver­glei­chen möch­te, und dann ist der Witz mit einem Schla­ge da, meist gleich­zei­tig mit sei­ner Ein­klei­dung.“ Freud, Sig­mund (1905), Der Witz und sei­ne Bezie­hung zum Unbe­wuss­ten, in: GW, Band VI, Frank­furt (Fischer) 1969, S. 191.
18 Mein Leben, a. a. O. (Anm. 13), S. 320. 
19 Freud, a. a. O. (Anm. 17), S. 189. 
20 Trotz­ki, a. a. O. 
21 Trotz­ki, Brief an Bre­ton vom 22.12.1938 („Die Auf­ga­be der FIARI“), in: Œuvres, Band 19, Paris 1985, S. 279-281: „In unse­rer Epo­che der Umwäl­zun­gen und der Reak­ti­on, des kul­tu­rel­len Ver­falls und der mora­li­schen Ver­wil­de­rung ist die unab­hän­gi­ge [künst­le­ri­sche] Schöp­fung per se revo­lu­tio­när, denn sie ent­springt der Suche nach einem Aus­weg aus der uner­träg­lich [ver­fah­re­nen] gesell­schaft­li­chen Situa­ti­on. […] Die Künst­ler soll­ten jedes Kom­man­do ableh­nen und all’ jene ver­ach­ten, die sich [poli­ti­schen] Vor­schrif­ten unterwerfen.“

Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Juli/August 2022
Tagged , , , . Bookmark the permalink.