Gegen die mili­tä­ri­sche Eska­la­ti­on der NATO und Russ­lands in Osteuropa

(Erklä­rung des Büros der IV. Internationale)


Wir müs­sen gegen die dro­hen­de mili­tä­ri­sche (und nuklea­re) Bedro­hung im Kon­text poli­ti­scher Insta­bi­li­tät, wirt­schaft­li­cher Unru­hen und zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen mobil machen, um die Rech­te des ukrai­ni­schen Vol­kes zu verteidigen.

Ostermarsch am Mannheimer Wasserturm, 20. April 2019 (Foto: Avanti²)

Oster­marsch am Mann­hei­mer Was­ser­turm, 20. April 2019 (Foto: Avanti²)

Seit etwa einem Monat erle­ben wir eine mili­tä­ri­sche Eska­la­ti­on rund um die Ukrai­ne, die eine ernst­haf­te Bedro­hung für Euro­pa und die Welt dar­stellt und uns an die schwers­ten Kri­sen auf dem Höhe­punkt des Kal­ten Krie­ges erin­nert, wie den Korea­krieg (1950‒53), die kuba­ni­sche Rake­ten­kri­se von 1962 oder die Sta­tio­nie­rung der Mit­tel­stre­cken­ra­ke­ten in Euro­pa (und der sowje­ti­schen SS20) Anfang der 1980er Jah­re, als Ronald Rea­gan die Mög­lich­keit eines Ein­sat­zes tak­ti­scher Nukle­ar­waf­fen auf dem euro­päi­schen Schau­platz in Betracht zog.

Die Gefahr der anhal­ten­den ver­ba­len und mili­tä­ri­schen Spi­ra­le und das Risi­ko des Abglei­tens in einen bewaff­ne­ten Kon­flikt, sei es mit gerin­ger Inten­si­tät oder weit­rei­chend, lokal oder all­ge­mein, kon­ven­tio­nell oder auch mit einer Form der nuklea­ren Bedro­hung, ist grö­ßer als bei den bereits erwähn­ten Ereig­nis­sen. Das ukrai­ni­sche Volk ist zwar als ers­tes betrof­fen, aber die Bedro­hun­gen betref­fen alle Akteu­re, die in die ver­ba­le und krie­ge­ri­sche Spi­ra­le der aktu­el­len Kri­se ver­wi­ckelt sind, ins­be­son­de­re alle Völ­ker Europas.

Wir sind also mit einer dop­pel­ten Her­aus­for­de­rung konfrontiert:
1. auf die in der Ukrai­ne geäu­ßer­ten Befürch­tun­gen hin­sicht­lich der rus­si­schen Trup­pen an ihren Gren­zen zu reagie­ren, die angeb­lich die Inte­gra­ti­on der Ukrai­ne in die NATO ver­hin­dern sollen;
2. auf die rea­len Gefah­ren zu reagie­ren, die sich aus der Eska­la­ti­on der kriegs­trei­be­ri­schen Erklä­run­gen und Ver­hal­tens­wei­sen erge­ben, die über die ukrai­ni­sche Fra­ge hinausgehen.

Unse­re all­ge­mei­ne Posi­ti­on zur NATO ist eine dop­pel­te: Nach dem Zwei­ten Welt­krieg lehn­te die Vier­te Inter­na­tio­na­le die NATO von Anfang an ab und for­der­te erst recht, dass die­ses Mili­tär­bünd­nis 1991 zusam­men mit dem War­schau­er Pakt auf­ge­löst wer­den soll­te. Wir ver­ur­tei­len auch die impe­ria­lis­ti­sche Rhe­to­rik und das Ver­hal­ten Russ­lands, das einen wach­sen­den Teil der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung dazu gebracht hat, sich der NATO zuzu­wen­den. Der Rück­zug aus­län­di­scher (atlan­ti­scher und rus­si­scher) Streit­kräf­te und die mili­tä­ri­sche Neu­tra­li­tät der Ukrai­ne sind der ein­zi­ge Schutz ihrer Unab­hän­gig­keit. Aber es ist Sache des ukrai­ni­schen Vol­kes ‒ und nicht der Erpres­sung und den Ver­hand­lun­gen zwi­schen den Groß­mäch­ten ‒, über die Mit­glied­schaft in der NATO zu entscheiden.

Die wich­tigs­ten Fak­to­ren, die zur Gefahr einer insta­bi­len geo­po­li­ti­schen Lage bei­tra­gen, sind:
1. gro­ße Ener­gie­fra­gen (ins­be­son­de­re im Zusam­men­hang mit den Pro­ble­men des Über­gangs zu erneu­er­ba­ren Ener­gien), wobei die rus­si­sche Macht in der Lage ist, die unter­schied­li­chen Ener­gie­si­tua­tio­nen (und Abhän­gig­kei­ten) der EU und der USA aus­zu­nut­zen ‒ vor dem Hin­ter­grund einer enor­men wirt­schaft­li­chen Vola­ti­li­tät und der sehr rea­len Gefahr eines neu­en Finanz­crashs; Lie­fer­schwie­rig­kei­ten und Infla­ti­on, Ener­gie­pro­ble­me und gro­ße Pro­ble­me des Über­gangs zu erneu­er­ba­ren Energien;

2. eine Rei­he von bewaff­ne­ten Kon­flik­ten in der ehe­ma­li­gen Sowjet­uni­on, von der Ukrai­ne seit 2014 bis zu Geor­gi­en, Arme­ni­en und Aser­bai­dschan, über Tsche­tsche­ni­en und einen lan­gen Pro­zess des Wie­der­auf­baus der rus­si­schen Mili­tär­macht und der Wie­der­gut­ma­chung der seit dem Ende des Kal­ten Krie­ges erlit­te­nen Rück­schlä­ge und Demü­ti­gun­gen ‒ und eine rela­ti­ve Kon­so­li­die­rung des rus­si­schen Ein­flus­ses auf Bela­rus und Kasach­stan, was Putins Groß­macht­ge­ha­be fördert;

3. ins­be­son­de­re die Kri­se des poli­ti­schen Sys­tems und die inne­re Insta­bi­li­tät der Ver­ei­nig­ten Staa­ten ‒ kaum ein Jahr nach dem putsch­ar­ti­gen Sturm auf den Hügel des Kapi­tols, der unge­straft von einem Trump ange­sta­chelt wur­de, der sich schon bald ins Wei­ße Haus zurück­keh­ren sieht ‒ der Euro­päi­schen Uni­on und vor allem Russ­lands selbst, nach zwei Jah­ren weit ver­brei­te­ter Pan­de­mie und Revol­ten gegen Auto­ri­ta­ris­mus, Kor­rup­ti­on und Unterdrückung;

4. das Abwür­gen des „Nor­man­die-For­mats“ (Frank­reich, Deutsch­land, Russ­land, Ukrai­ne) der Kon­flikt­be­wäl­ti­gung in der Ukrai­ne nach der Beset­zung der Krim durch Russ­land seit 2014.

Sowohl Putin als auch Biden müs­sen ein star­kes und aggres­si­ves Auf­tre­ten an den Tag legen, um einer­seits innen­po­li­ti­sche Glaub­wür­dig­keit und Legi­ti­mi­tät zurück­zu­ge­win­nen und ande­rer­seits die Berei­che zu dis­zi­pli­nie­ren, die sie als ihre jewei­li­gen Ein­fluss­zo­nen betrach­ten: Putin, um sich von der größ­ten Wel­le von anti­au­to­ri­tä­ren Pro­tes­ten seit der Pere­stroi­ka zu erho­len, die Russ­land seit eini­gen Mona­ten erlebt, und von den Auf­stän­den gegen Kor­rup­ti­on, Ungleich­heit und post­sta­li­nis­ti­sche Bevor­mun­dung in dem, was er für Russ­lands Ein­fluss­zo­ne hält (Bela­rus, Kasach­stan usw.); Biden, der kurz vor den Zwi­schen­wah­len zum Kon­gress steht, nach einem demü­ti­gen­den Rück­zug aus Afgha­ni­stan und belas­tet durch eine ent­täu­schen­de Innen­po­li­tik, die ihm in den letz­ten Mona­ten sei­ner Prä­si­dent­schaft eine ähn­li­che Unbe­liebt­heit beschert hat wie Trump. Putins Posi­ti­on inner­halb von Russ­land hängt auch direkt von sei­ner außen­po­li­ti­schen Lage ab. Sei­ne vier­te Amts­zeit als Prä­si­dent endet 2024, danach muss er die Macht behal­ten (trotz sei­ner sin­ken­den Popu­la­ri­tät) oder sie an sei­nen „Nach­fol­ger“ über­ge­ben. Die­ser Pro­zess des „Macht­über­gangs“ in einer Situa­ti­on des völ­li­gen Ver­falls aller poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen hängt nur von Putins eige­ner Ent­schei­dung und sei­ner Fähig­keit ab, die büro­kra­ti­schen und finan­zi­el­len Eli­ten ange­sichts der inter­nen und exter­nen Bedro­hun­gen um sich zu scharen.

Käthe Kollwitz, Losbruch (Blatt 5 aus dem Zyklus „Bauernkrieg“), 1902/03, Strichätzung. (Bild: Gemeinfrei.)

Käthe Koll­witz, Los­bruch (Blatt 5 aus dem Zyklus „Bau­ern­krieg“), 1902/03, Strich­ät­zung. (Bild: Gemeinfrei.)

Ers­te Gefahr eines Atom­kriegs seit sech­zig Jahren
Die Arro­ganz ihrer jewei­li­gen Erklä­run­gen ist pro­por­tio­nal zu ihrer poli­ti­schen Schwä­che: „Ich hof­fe, Putin ist sich bewusst, dass er nicht weit von einem Atom­krieg ent­fernt ist.“ „Putin will den Wes­ten auf die Pro­be stel­len, und er wird einen Preis dafür zah­len, der ihn sei­ne Taten bereu­en las­sen wird“, sag­te Biden auf einer Pres­se­kon­fe­renz am 20. Janu­ar. Aber krie­ge­ri­sche Erklä­run­gen die­ser Art, auch wenn sie das Ergeb­nis von Droh­ge­bär­den und einem Lügen­po­ker sind, sind nie­mals harm­los und ohne das Risi­ko einer unkon­trol­lier­ten Eskalation.

Aus­schlag­ge­bend für die mas­si­ve Kon­zen­tra­ti­on sei­ner Trup­pen an der Nord- und Ost­gren­ze der Ukrai­ne ist die Angst Russ­lands vor einem hypo­the­ti­schen Bei­tritt der Ukrai­ne zur NATO, der die Sta­tio­nie­rung feind­li­cher Atom­waf­fen in der Nähe sei­nes Lan­des ermög­li­chen würde.

30 Jah­re nach dem Ende der UdSSR und der Auf­lö­sung des War­schau­er Pakts: zwi­schen NATO-Erwei­te­rung und dem Wie­der­auf­bau des rus­si­schen Imperialismus
Als Michail Gor­bat­schow vor 30 Jah­ren beschloss, den War­schau­er Pakt auf­zu­lö­sen, stimm­ten die Staats- und Regie­rungs­chefs der NATO zu, den Atlan­tik­pakt auf­zu­lö­sen, und ver­pflich­te­ten sich, dass das künf­ti­ge wie­der­ver­ei­nig­te Deutsch­land ein neu­tra­les Land sein wür­de, wie es Öster­reich seit dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs war. Wie wir wis­sen, trat nicht nur das wie­der­ver­ei­nig­te Deutsch­land dem Atlan­ti­schen Bünd­nis bei, son­dern das Bünd­nis hat sich seit­her nach Osten aus­ge­dehnt und die meis­ten der Län­der inte­griert, die 45 Jah­re lang zum Sowjet­block gehör­ten: 1999 Polen, die Tsche­chi­sche Repu­blik und Ungarn. Im Jahr 2004 folg­ten Bul­ga­ri­en, Est­land, Lett­land, Litau­en, Rumä­ni­en, die Slo­wa­kei und Slo­we­ni­en. Im Jahr 2009 folg­ten Alba­ni­en und Kroa­ti­en, und im Jahr 2020 war Nord­ma­ze­do­ni­en an der Reihe.

Die Auf­recht­erhal­tung und Erwei­te­rung der NATO hat die Bezie­hun­gen auf dem Kon­ti­nent alles ande­re als befrie­det und die Span­nun­gen tat­säch­lich eher ver­stärkt; dies kann nur eine groß­rus­si­sche Expan­si­ons­lo­gik zum Nach­teil der Län­der för­dern, die zwi­schen der EU und der von Mos­kau domi­nier­ten Eura­si­schen Uni­on liegen.

Russ­lands mili­tä­ri­sche Mobi­li­sie­rung ent­lang der ukrai­ni­schen Gren­ze erklärt, war­um Biden ange­kün­digt hat, dass er bereit ist, dar­über zu ver­han­deln, dass kei­ne stra­te­gi­schen Waf­fen in der Ukrai­ne sta­tio­niert wer­den und dass die NATO-Mit­glied­schaft der Ukrai­ne nicht auf der Tages­ord­nung steht. Wir dür­fen jedoch nicht ver­ges­sen, dass die Ukrai­ne laut Berich­ten des FBI ‒ seit dem Sturz der Janu­ko­­wytsch-Regie­rung in der Ukrai­ne, der rus­si­schen Anne­xi­on der Krim und dem Beginn der Sezes­si­on im Don­bass ‒ zu einem Übungs­platz für die inter­na­tio­na­le faschis­ti­sche Bewe­gung gewor­den ist, die anti­rus­si­sche Kämp­fer rekru­tiert hat, um sie in ukrai­ni­sche Mili­zen zu inte­grier­ten; ähn­lich wie der isla­mi­sche Fun­da­men­ta­lis­mus zuerst den Krieg in Afgha­ni­stan (mit der dama­li­gen Grün­dung von Al-Qai­da durch die CIA und den paki­sta­ni­schen Mili­tär­ge­heim­dienst), dann den Krieg in Bos­ni­en und in jüngs­ter Zeit im Irak und in Syri­en (der Ursprung des Daesch-Ter­ro­ris­mus) genutzt hat. Aber auch die so genann­te „Volks­re­pu­blik Donezk“ rekru­tiert faschis­ti­sche und ultra­na­tio­na­lis­ti­sche sla­wi­sche Kräfte.

Folg­lich gibt es trotz der rus­si­schen Eska­la­ti­on und der Mobi­li­sie­rung von NATO-Trup­pen und US-Streit­kräf­ten, die in den bal­ti­schen Repu­bli­ken sta­tio­niert sind, glück­li­cher­wei­se Raum für Ver­hand­lun­gen, aber es wird schwie­rig sein, eine fle­xi­ble Lösung zu fin­den, wenn bei­de Sei­ten die Situa­ti­on sehr zuge­spitzt haben und von einer Posi­ti­on der poli­ti­schen Schwä­che und inter­nen poli­ti­schen Insta­bi­li­tät ausgehen.

Von mili­tä­ri­schen zu wirt­schaft­li­chen Dumm­hei­ten: zu den von Biden ange­droh­ten „Sank­tio­nen“
Trotz der Aggres­si­vi­tät Bidens und der NATO sind die euro­päi­schen Mäch­te uneins über das wei­te­re Vor­ge­hen. Wäh­rend eini­ge Län­der wie Frank­reich und Deutsch­land sehr zurück­hal­tend sind, wenn es um mili­tä­ri­sche Abschre­ckung geht, ist die unter­wür­fi­ge Hal­tung der „pro­gres­si­ven“ spa­ni­schen Regie­rung beson­ders erbärm­lich. Deutsch­land ist logi­scher­wei­se in die­sem Sze­na­rio ein Schlüs­sel­land, denn sei­ne wirt­schaft­li­che Ver­wund­bar­keit und sei­ne Ener­gie­ab­hän­gig­keit von Russ­land sind enorm. Biden droht mit noch nie dage­we­se­nen Sank­tio­nen, wie dem Aus­schluss Russ­lands aus dem glo­ba­len SWIFT-Zah­lungs­sys­tem oder der Kap­pung der Nord-Stream-2-Pipe­line, wor­auf Putin mit der Aus­sa­ge ant­wor­tet, dies wür­de den „voll­stän­di­gen Abbruch der Bezie­hun­gen“ zu den USA bedeuten.

Soll­te Russ­land, das seit Mona­ten den Preis für sei­ne Gas­ex­por­te nach Euro­pa als geo­po­li­ti­sche Druck­maß­nah­me bewusst erhöht, beschlie­ßen, ent­we­der den Preis wei­ter zu erhö­hen oder die Lie­fe­run­gen direkt ein­zu­stel­len, so wür­de dies zu einem dras­ti­schen Rück­gang der Indus­trie­tä­tig­keit und der Strom- und Wär­me­ver­sor­gung in wei­ten Tei­len Mit­tel­eu­ro­pas füh­ren, mit den ent­spre­chen­den sozio­öko­no­mi­schen Aus­wir­kun­gen, die zwei­fel­los dra­ma­tisch wären. Ande­rer­seits wären die west­li­chen Finanz­an­la­gen in Höhe von 56 Mil­li­ar­den Dol­lar und 310 Mil­li­ar­den Euro, die in rus­si­schen Unter­neh­men ange­legt sind, im Fal­le eines Aus­schlus­ses Russ­lands aus dem SWIFT-Sys­tem höchst­wahr­schein­lich ernst­haft durch eine sofor­ti­ge geziel­te Reak­ti­on der Rus­sen gefähr­det (selbst eini­ge west­li­che Expert*innen erklä­ren, dies sei nicht realistisch).

Es besteht kein Zwei­fel dar­an, dass ein Ener­gie-, Finanz- und Han­dels­krieg die­ses Aus­ma­ßes für eine Welt­wirt­schaft töd­lich wäre, die zwei Jah­re Pan­de­mie und all die akku­mu­lier­ten desta­bi­li­sie­ren­den Aus­wir­kun­gen von vier­zig Jah­ren lan­ger Rezes­si­ons­wel­le, Finan­zia­li­sie­rung und neo­li­be­ra­ler Dere­gu­lie­rung mit sich schleppt, und nicht zuletzt wür­de er eine wei­te­re geo­öko­no­mi­sche und geo­po­li­ti­sche Annä­he­rung zwi­schen Russ­land und Chi­na begüns­ti­gen, den größ­ten Alp­traum, den sich die Strateg*innen in Washing­ton vor­stel­len können.

Die unsi­che­re Lage
Die US-ame­ri­ka­ni­schen und bri­ti­schen Behör­den for­dern ihre Bürger*innen auf, die Ukrai­ne zu ver­las­sen, da die Gefahr einer rus­si­schen Inva­si­on des Lan­des bestehe. Die­se Maß­nah­men tra­gen dazu bei, eine Kriegs­stim­mung zu erzeu­gen und die Lage wei­ter zu ver­schär­fen. Deutsch­land hat jedoch sein Veto gegen die Lie­fe­rung von Waf­fen aus der ehe­ma­li­gen DDR an die Ukrai­ne ein­ge­legt, die eini­ge bal­ti­sche Repu­bli­ken bean­tragt hat­ten. Bri­ti­sche Mili­tär­flü­ge, die Waf­fen in die Ukrai­ne trans­por­tie­ren, über­flie­gen in die­sen Tagen nicht mehr deut­sches Hoheits­ge­biet. Para­do­xer­wei­se kom­men die weni­gen ver­nünf­ti­gen Kom­men­ta­re zur aktu­el­len Situa­ti­on nicht von Politiker*innen oder Journalist*innen, son­dern von eini­gen Mili­tär­an­ge­hö­ri­gen: „Die Medi­en gie­ßen Öl ins Feu­er eines Kon­flikts, ich habe den Ein­druck, dass nie­mand begreift, was ein Krieg wirk­lich bedeu­tet“, sagt Gene­ral Harald Kujat, ehe­ma­li­ger Gene­ral­inspek­teur der Bun­des­wehr. „Es kann nicht sein, dass wir nur über Krieg reden und nicht dar­über, wie man Krieg ver­hin­dern kann.“

Die poli­ti­sche Lage in Russ­land und Putins Absichten
Mit einem Mili­tär­haus­halt, der 3 % der welt­wei­ten Mili­tär­aus­ga­ben ent­spricht (man darf nicht ver­ges­sen, dass es sich um die zweit­größ­te kon­ven­tio­nel­le Armee der Welt han­delt, mit Land­streit­kräf­ten, die denen der USA eben­bür­tig sind, und mit einem Nukle­ar­ar­se­nal, das dem der USA fast gleich­wer­tig ist), spielt Russ­land vor dem Hin­ter­grund der stra­te­gi­schen Spal­tung und der inter­nen Kri­se der NATO ein sehr gefähr­li­ches desta­bi­li­sie­ren­des Spiel, was eine sehr aggres­si­ve Reak­ti­on die­ses Mili­tär­bünd­nis­ses pro­vo­zie­ren könn­te. Es gibt lin­ke Campist*innen, die dem Kal­ten Krieg nach­trau­ern; sie ver­wech­seln Putins neo­za­ris­ti­sche, olig­ar­chi­sche und natio­na­lis­ti­sche Poli­tik ‒ die zur Nie­der­schla­gung von authen­ti­schen Auf­stän­den und Volks­re­vo­lu­tio­nen in Syri­en, Bela­rus und Kasach­stan bei­getra­gen sowie die demo­kra­ti­sche Oppo­si­ti­on und die Volks­kräf­te in der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on mund­tot gemacht, unter­drückt und ein­ge­schüch­tert hat ‒ mit der revo­lu­tio­nä­ren, pro­le­ta­ri­schen und inter­na­tio­na­lis­ti­schen Poli­tik von Lenin; ent­ge­gen sol­chen Behaup­tun­gen ist Russ­lands Außen­po­li­tik zwei­fel­los reaktionär.

Heut­zu­ta­ge lei­det die rus­si­sche Gesell­schaft unter mas­si­ver Armut und Ungleich­heit (die sogar grö­ßer ist als in den USA). die von Russ­land ange­streb­te „neue Welt­ord­nung“ ist der Impe­ria­lis­mus alten Stils des frü­hen 20. Jahr­hun­derts, bei dem die Welt in „Inter­es­sensphä­ren“ von Groß­mäch­ten auf­ge­teilt ist und klei­nen Län­dern jeg­li­ches Recht abge­spro­chen wird, ihr eige­nes Schick­sal zu bestim­men. Russ­land erhebt aus die­ser Per­spek­ti­ve gegen­über Ame­ri­ka vor allem den Vor­wurf, es wol­le eine Welt, in der es „einen ein­zi­gen Her­ren, einen ein­zi­gen Sou­ve­rän“ (so Putins berühm­te For­mu­lie­rung) gibt, und sei nicht bereit, die­se mit den übri­gen glo­ba­len Play­ern zu teilen.

Für die meis­ten west­li­chen Medi­en sind Putin und der „schreck­li­che“ Law­row jedoch die ein­zi­gen Böse­wich­te in die­sem Film. Die Wahr­heit ist jedoch, um es mit den Wor­ten eines Man­nes, der des bol­sche­wis­ti­schen Radi­ka­lis­mus so unver­däch­tig ist wie Oskar Lafon­taine, zu sagen: „Es gibt vie­le Mör­der­ban­den auf der Welt, aber wenn wir die von ihnen ver­ur­sach­ten Todes­fäl­le zäh­len, ist Washing­tons Ver­bre­cher­ban­de die schlimms­te.“ Was das rus­si­sche Volk braucht, sind Ent­span­nung, eine Chan­ce, eine demo­kra­ti­sche und mit der Bevöl­ke­rung ver­bun­de­ne Oppo­si­ti­on zu ent­wi­ckeln, die in der Lage ist, die zer­brech­li­che Alli­anz zwi­schen post­sta­li­nis­ti­scher Büro­kra­tie und mafiö­ser Olig­ar­chie, die die Grund­la­ge des von Putin ver­kör­per­ten auto­ri­tä­ren Regimes bil­det, auf­zu­bre­chen, die natio­na­lis­ti­sche Hys­te­rie, die die­sen reak­tio­nä­ren Block zusam­men­hält, zu ent­schär­fen und die For­de­run­gen der Jugend, der Frau­en und der werk­tä­ti­gen Klas­sen in einer inter­na­tio­na­lis­ti­schen Aus­rich­tung wie­der auf­le­ben zu lassen.

Was ist zu erwarten?
Dass Russ­land „in die Ukrai­ne ein­mar­schie­ren“ und das gan­ze Land beset­zen wird, ist völ­lig aus­ge­schlos­sen. In den Stra­ßen von Buda­pest sind noch heu­te die Spu­ren der sowje­ti­schen Beset­zung von 1956 zu sehen. Was damals in Ungarn geschah, wäre ein Kin­der­spiel im Ver­gleich zu dem, was heu­te in der Ukrai­ne pas­sie­ren würde.Viel wahr­schein­li­cher ist, dass Putin „tak­ti­sche“ Atom­ra­ke­ten in Bela­rus, Kali­nin­grad und ande­ren nahe gele­ge­nen Gebie­ten instal­lie­ren wird. Auch die Mög­lich­keit einer Anne­xi­on des Don­bass kann nicht aus­ge­schlos­sen wer­den. Die der­zeit stei­gen­den Öl- und Gas­prei­se und die Erwar­tung, dass sie wei­ter stei­gen wer­den, könn­ten es dem Kreml ermög­li­chen, die wirt­schaft­li­chen Kos­ten sol­cher Ope­ra­tio­nen zu decken. Und, obwohl weni­ger wahr­schein­lich und viel ris­kan­ter ‒ und sicher­lich viel blu­ti­ger ‒, auch eine rus­si­sche Mili­tär­ope­ra­ti­on zur Ein­nah­me des Gebiets süd­lich des Don­bass (Mariu­pol) ist nicht aus­zu­schlie­ßen, um einen Sicher­heits­gür­tel in süd­west­li­cher Rich­tung zu orga­ni­sie­ren und eine Ver­bin­dung der zwei Rebel­len­ge­bie­te mit der Halb­in­sel Krim herzustellen.

Die Auf­ga­ben der revo­lu­tio­nä­ren, pazi­fis­ti­schen und demo­kra­ti­schen Kräf­te in Euro­pa und in der Welt
Die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen sind ernst und äußerst gefähr­lich für den Frie­den in Euro­pa. Wie wir wis­sen, hat in Situa­tio­nen höchs­ter Span­nung kein Akteur die abso­lu­te Kon­trol­le über die Ereig­nis­se, und jeder Zwi­schen­fall kann unkon­trol­lier­ba­re Situa­tio­nen aus­lö­sen. Eine inter­na­tio­na­le Mobi­li­sie­rung ist drin­gend erfor­der­lich, um die Grund­la­gen für eine glo­ba­le anti­mi­li­ta­ris­ti­sche und anti­nu­klea­re Offen­si­ve zu schaf­fen. Die Span­nun­gen im asia­tisch-pazi­fi­schen Raum hän­gen auch mit der anhal­ten­den Eska­la­ti­on in der Ukrai­ne zusam­men, und die impe­ria­lis­ti­schen Ver­su­chun­gen in Zei­ten der wirt­schaft­li­chen, sozia­len und insti­tu­tio­nel­len Kri­se der Groß­mäch­te sind beson­ders gefähr­lich. Aus all die­sen Grün­den rufen wir poli­ti­sche, sozia­le, gewerk­schaft­li­che, natio­na­le, regio­na­le und inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen dazu auf, nach gro­ßen inter­na­tio­na­len Mobi­li­sie­rungs­an­läs­sen zu suchen, so dass wie­der Ver­bin­dung mit dem inter­na­tio­na­lis­ti­schen und soli­da­ri­schen Impuls der Lin­ken zustan­de kommt.

Orga­ni­sie­ren wir die Mobi­li­sie­rung für Dees­ka­la­ti­on, Frie­den, die Auf­lö­sung der Blö­cke und die Selbst­be­stim­mung der Völker!

Büro der Vier­ten Inter­na­tio­na­le, 30. Janu­ar 2022


[Aus dem Eng­li­schen über­setzt von Wil­fried Han­ser für Inpre­korr
Quel­le: fourth.international]

https://fourth.international/de/566/europa/418

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