(Erklärung der IV. Internationale)
16.06.2020
Das Ausmaß und die Größenordnung der Massenproteste und Aufstände gegen Rassismus und Polizeigewalt weltweit – im Gefolge des Mordes am schwarzen Arbeiter George Floyd durch die Polizei in Minneapolis, Minnesota, USA ‒ sind ohnegleichen. Die Proteste zeichnen sich durch eine massive Beteiligung junger Menschen verschiedener Hautfarben aus, die sich zu einer generationenübergreifenden Bewegung zusammenfinden. Dabei sind dies in vielen Fällen auch die ersten Demos in Ländern, die gerade erst aus dem Lockdown herauskommen. Die Proteste haben es geschafft, sich auf den Straßen Sichtbarkeit und Geltung zu verschaffen.
In Zukunft werden sich viele von ihnen in Protesten für eine Absicherung bei Arbeitslosigkeit und in weiteren sozialen Kämpfen engagieren.
In den USA dauern die täglichen Proteste in großen und kleinen Städten seit mehr als zwei Wochen an. Der multirassische, schwarz geführte, weitgehend dezentralisierte, spontane Charakter der meisten Proteste ‒ von denen einige in mehreren Stadtteilen gleichzeitig stattfinden ‒ sind die unverkennbaren Zeichen einer authentischen gesellschaftlichen Massenbewegung. Viele der Demonstrant*innen sind erwerbslos. In der kommenden Zeit werden sich viele von ihnen in Protesten für eine Absicherung bei Arbeitslosigkeit und in weiteren sozialen Kämpfen engagieren.
Diese antirassistischen Proteste werden vielfach mit polizeilicher Repression überzogen, einschließlich des Einsatzes gefährlicher Chemikalien in Gas- und Pfeffersprays, grundloser Übergriffe gegen friedliche Demonstrant*innen, Ausgangssperren und Massenverhaftungen.
Die Proteste, die außerhalb der USA von Europa bis Australien, von Japan bis Afrika, von Mexiko bis Brasilien stattfinden, sind gleichzeitig Proteste gegen die Ermordung von Floyd und in Solidarität mit den antirassistischen Protesten in den USA sowie Proteste gegen lokale Polizeibehörden und deren Brutalität gegen die schwarze Mehrheitsbevölkerung wie in Brasilien; und es sind auch Proteste indigener Völker in Australien und ethnischer und religiöser Minderheiten und von Migrant*innen.
Auf der ganzen Welt tragen Protestierende Schilder mit der Aufschrift „Black Lives Matter“ und rufen die Namen von People of Color ‒ etwa Adama Traoré in Frankreich (2016) und mehrere Fälle in Großbritannien – die auf ähnliche Weise, wie dies bei George Floyd der Fall war, in den Händen der Polizei ums Leben kamen. Forderungen, Symbole rassistischer und imperialistischer Unterdrückung zu entfernen ‒ wie die Statue des belgischen Königs Leopold II., der den Kongo als privat-kapitalistischen Raum mörderisch ausbeutete, oder Statuen von Sklavenhändlern in Großbritannien, dem Zentrum des transatlantischen Sklavenhandels ‒ sind der Widerhall auf Forderungen in den USA, die Statuen von Konföderierten zu entfernen und die (Pro-Sklaverei-) Flaggen der Südstatten zu beseitigen.
Krise kapitalistischer Legitimität
Kapitalistische Regierungen ‒ insbesondere in Großbritannien, Brasilien und den USA ‒ haben dramatisch versagt, auf die Covid-19-Krise in angemessener Weise zu reagieren. So kam es zu Wellen von Massenentlassungen, in deren Gefolge Millionen von Menschen in die Arbeitslosigkeit geschickt wurden, worunter insbesondere jene von Rassismus und Migration betroffenen Bevölkerungsgruppen am heftigsten leiden müssen. Dies verbindet sich nun mit Massenprotesten, die selbst nach zwei Wochen täglicher Mobilisierung noch weiter an Fahrt gewinnen. Die kapitalistischen Regierungen wurden damit in ihrem Bemühen, das normale kapitalistische Funktionieren wiederherzustellen, vorübergehend in die Defensive gedrängt.
In den USA hat die Rebellion bereits zu Brüchen in der Großbourgeoisie und ihren politischen Vertreter*innen geführt. Es gibt Anzeichen für eine Krise der Führungsriege und der Trump-Regierung selbst, da bereits hochrangige Militäroffiziere und Trumps eigener Verteidigungsminister ‒ sowie alle vier lebenden ehemaligen Präsidenten, einschließlich George W. Bush ‒ von Trumps Drohung öffentlich Abstand nehmen, mit militärischer Gewalt gegen die überwiegend jugendlichen, vielrassigen Demonstrant*innen vorzugehen, die von Trump als „Schläger“ und „Terroristen“ bezeichnet werden.
Die Tatsache, dass diese Brüche zuweilen eine brutale Repression verhindert haben und dass die Forderung der Demonstrierenden, der Polizei Finanzmittel zu streichen und diese zu entmilitarisieren, erste Erfolge zeitigen, bildet einen ersten Etappensieg des Kampfes.
Dieser Augenblick birgt jedoch auch Gefahren. Trumps Law-and-Order-Tweets ermutigten weiße nationalistische Gruppen dazu, sich in die antirassistischen Proteste zu mischen, um ihre verschlüsselten rassistischen Symbole und Waffen zu zeigen. Rechtsextreme und autoritäre Regierungen in Brasilien, auf den Philippinen, in Indien und anderswo nutzen die Situation, um Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung zu verabschieden und die staatliche Repression zu verstärken, die sich unverhältnismäßig scharfgegen schwarze, migrantische und indigene Gemeinschaften richten. Migrantische Teile der Bevölkerung in Europa werden seit langer Zeit schon von rechtsextremen Gruppierungen wie der Goldenen Morgenröte in Griechenland terrorisiert und die Wirtschaftskrise wird rassistische Angriffe und Übergriffe gegen Migrant*innen nur noch verschärfen.
Massenhafte Aufwallung
Die enorme Explosion antirassistischer Mobilisierung im Gefolge von Floyds Ermordung lässt sich als der letzte Tropfen bezeichnen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nicht nur viele Polizeimorde an schwarzen Menschen gehören dazu, sondern auch die Folgen einer Pandemie, die zu einer Sterblichkeit unter Schwarzen geführt hat, die zwei- bis dreimal höher liegt als in der Gesamtbevölkerung, und die Folgen einer Wirtschaftskrise, die ebenso überproportional schwarze Menschen und Arbeiter*innen ethnischer Minderheiten schadet.
Die Massenproteste auf den Straßen und das fortdauernde Gebot des physischen Abstandhaltens ‒ zu einem Zeitpunkt an dem nichtweiße, migrantische und marginalisierte Gruppen durch die Pandemie besonders verletzlich sind – bilden einen der großen Widersprüche der gegenwärtigen Periode. Schwarze Gruppen gehen auf die Straße, unterstützt von jungen Menschen und weißen Arbeiter*innen, weil sie es für dringlicher halten, Rassismus, repressive Gewalt und neofaschistische Regierungen zu stoppen, als Maßnahmen einzuhalten, die sich in ihren eigenen Häusern unmöglich umsetzen lassen ‒ und zwar aufgrund von Arbeitslosigkeit und fehlenden Einkünften.
Die aufgeladene Spannung rassistischer Gewalt, einschließlich polizeilicher Morde an schwarzen Menschen und mörderische antisemitische Angriffe sowie antimuslimischer Terror, der Völkermord an indigenen Völkern, all dies geht nun mit einer massiven Arbeitslosigkeit einher, die durch die Depression und Pandemie verursacht wurde. Es trifft die Gemeinschaften der People of Color und die Arbeiter*innenklasse weitaus härter als die Bevölkerung als Ganzes. Hieraus erklären sich die Kampfbereitschaft und der Mut, den Unterdrückern zu trotzen.
Die Verbindungen, die die Demonstrant*innen zwischen Floyds Ermordung und rassistisch motivierter Polizeigewalt an den jeweiligen Orten in der ganzen Welt herstellen, sind tiefgreifend. Der Umgang mit binnen-kolonialisierten, indigenen People of Color in den USA, Kanada, Australien, Südafrika und Lateinamerika sowie mit migrantischen Gruppen von People of Color in den imperialistischen Metropolen Europas spiegelt die jahrhundertelange koloniale und imperialistische Herrschaft des globalen Nordens über den globalen Süden wider und ist von zentraler Bedeutung für den Kapitalismus. Von der Plünderung der Silberminen von Potosí durch spanische Kolonisten im 16. Jahrhundert ‒ als Teil der Kapitalakkumulation im Rahmen kapitalistischer Entwicklung in Europa ‒ über die Versklavung von Millionen Afrikaner*innen durch Europa bis hin zur Kolonialisierung Afrikas im 19. Jahrhundert und zur heutigen neoimperialistischen Herrschaft über den globalen Süden: People of Color haben die Hauptlast der kapitalistischen Entwicklung und Expansion getragen.
Einige der schlimmsten Gräueltaten an Menschen wurden in den letzten Jahrzehnten an ethnischen und religiösen Minderheiten verübt. Ethnische Minderheiten und gesellschaftlich konstruierte rassifizierte Gruppen sind weltweit Repressionen ausgesetzt, von ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien und Ruanda in den 1990er Jahren bis hin zur gegenwärtigen Unterdrückung muslimischer Minderheiten in China und Indien und der Behandlung von Palästinenser*innen in Israel und in den besetzten Gebieten.
Ihr Antirassismus und unserer
Reformistische kapitalistische Politiker*innen bemühen sich, ihre Stellung zu behaupten und die Energie der Bewegung in die sicheren Kanäle von staatlichen Anhörungen, Kommissionen und kosmetischen Reformen zu lenken, die sich darauf beschränken, Symbole des Sklavenhandels zu beseitigen und oberflächliche Korrekturen in der Polizeiarbeit vorzunehmen.
Ein Schwall multinationaler Konzerne ‒ darunter viele, die zu den 500 größten Konzernen der USA gehören ‒ verkünden nun lautstark ihren Antirassismus, schalten teure Werbespots in den Medien, versprechen Geldspenden und überarbeiten ihre Firmenrichtlinien. Dabei handelt es sich um dieselben Unternehmen, die rassistische und sexistische Einstellungspraktiken pflegten und sich jahrelang gegen Reformen wehrten. Viele haben auf dem Rücken farbiger Arbeiter*innen riesige Gewinne gemacht.
Doch die Sanders-Kampagne wurde von den Konzerninteressen gestoppt, die die Demokratische Partei kontrollieren, noch bevor die Pandemie…
In dieser Situation bieten die traditionellen politischen Parteien weder Führung noch Stimme. Der Mangel an politischer Führung ist in den USA besonders gravierend. Die Vorherrschaft des kapitalistischen Duopols von Demokraten und Republikanern in der US-Politik hat dazu geführt, dass die Energie auf den Straßen keinen nationalen politischen Ausdruck findet. Während der Vorwahlkampagne der US-Demokraten hat US-Senator Bernie Sanders für sein sozialdemokratisches Reformprogramm im Stil des New Deal enorme Begeisterung und breite Unterstützung vor allem bei jungen Menschen ausgelöst. Doch die Sanders-Kampagne wurde von den Konzerninteressen gestoppt, die die Demokratische Partei kontrollieren, noch bevor die Pandemie, die Massenentlassungen und die antirassistischen Proteste auf den Straßen losgingen – so gibt es jetzt eine Lücke auf der Linken.
Die Wandlung der europäischen Sozialdemokratie in neoliberale Werkzeuge des Kapitals wie auch die Wahlschlappen der KPen haben in der europäischen Linken eine Lücke hinterlassen, die sowohl Chancen als auch Herausforderungen bietet, um antirassistische und antikapitalistische Forderungen miteinander zu verbinden.
Eine Zeit der Möglichkeiten
Der globale Aufstand gegen Rassismus und Polizeirepression birgt ein riesiges Potenzial für die Zukunft der neuen Generationen, die ihre Kämpfe am Arbeitsplatz und in Gewerkschaften weiterführen, sich im Kampf gegen den Klimawandel und im feministischen Widerstand erheben und sich im direkten Kampf gegen die Polizei als der bewaffneten Macht der bürgerlichen Demokratie bewähren. All dies unterstreicht nur umso dringlicher die Notwendigkeit, die Selbstverteidigung der Bewegung bei Demonstrationen und anderen öffentlichen Veranstaltungen zu organisieren, und das Erfordernis, die Bewegung dauerhaft zu organisieren, basierend auf demokratischer Selbstorganisation.
Gegenwärtig bringt die Protestbewegung Wut und oft radikale, aber unscharfe Forderungen nach Veränderungen zum Ausdruck. Es spiegelt sich darin die Neuartigkeit der Bewegung, die Unerfahrenheit der Protestierenden, aber auch der Bankrott vieler etablierter reformistischer Führungen. In den USA finden die Forderungen nach „Entzug der Gelder/Entmilitarisierung der Polizei“ und sogar nach „Auflösung der Polizei“ ein breites Gehör in der Bevölkerung, als antikapitalistische Übergangsforderungen bergen sie beträchtliches Potenzial. Hinzukommt eine weit verbreitete Ablehnung der AFL-CIO, weil sie noch immer rassistische und ultrarechte Polizeigewerkschaften in ihren Reihen hat. Im Zuge der weiteren Entwicklung der Bewegungen kommen weitere Forderungen hinzu, die sich aus den jeweiligen länderspezifischen Verhältnissen ergeben: gegen Polizeigewalt insbesondere gegen Schwarze sowie gegen indigene und ethnische Minderheiten, gegen die Kriminalisierung von Protesten, gegen institutionellen Rassismus und den Erhalt kolonialer und die Sklaverei verherrlichender Symbole sowie für positive Maßnahmen und Schritte zur sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit, um historisch entstandene Ungleichheit zu beseitigen.
Heute lässt sich das Banner der internationalen Solidarität der Arbeiter*innenklasse auf eine Art und Weise und vor einem Publikum hochhalten, wie es seit Jahrzehnten nicht mehr möglich war. Um es mit Malcolm X zu sagen: „You can’t have capitalism without racism“ (Es gibt keinen Kapitalismus ohne Rassismus). Der Kampf gegen den Rassismus ist unauflöslicher Bestandteil des Kampfes gegen den Kapitalismus. Diese Bewegung birgt ein beträchtliches Potential, um gemeinsam mit Arbeiter*innen-, Frauen- und antikapitalistischen Bewegungen in der ganzen Welt einer neuen, gerechten Gesellschaft Bahn zu brechen.
Aus all diesen Gründen engagiert sich die Vierte Internationale an der Seite der Frauen und Männer, die heute in diesem antirassistischen und anti-neofaschistischen Aufstand aufbegehren. Die Kämpfe gegen staatliche Gewalt und institutionellen Rassismus können im Kapitalismus nur dann kohärente Formen annehmen, wenn wir uns ihrer Tragweite und ihrer Konsequenzen bewusst sind. Wir alle befinden uns im Krieg gegen ein System, das den Planeten zerstört, Menschen nach Geschlecht, Rasse, sexueller Orientierung und Identität diskriminiert, das uns im Interesse des Überlebens von Konzernen ausbeutet, um deren einziges Ziel zu verfolgen: die permanente Steigerung des Profits auf Kosten unseres Lebens und unserer körperlichen Unversehrtheit.
Büro der Vierten Internationale
9. Juni 2020
Übers. aus dem Englischen: K.S.