Wil­de“ Streiks in Deutschland

U. D.

Das The­ma unse­res Dis­kus­si­ons­abends am 22. Novem­ber 2019 lau­te­te: „Vor 50 Jah­ren: Wil­de Streiks in Deutsch­land“. Ein kur­zes Refe­rat und eine Film­do­ku­men­ta­ti­on brach­ten uns die dama­li­gen Ereig­nis­se näher.

Wil­de“ Streiks in Deutsch­land? Also Streiks, die nicht einem Tarif­run­den-Ritu­al folg­ten? Die „spon­tan“ von der Basis geführt und nicht vom gewerk­schaft­li­chen Appa­rat kon­trol­liert wurden?

Kaum noch vorstellbar?
Gab es sol­che Streiks in Deutsch­land tat­säch­lich? In einem Land, in dem das Streik­recht gesetz­lich „regu­liert“ und ein­ge­schränkt ist. In einem Land, in dem der „sozi­al­part­ner­schaft­li­che“ Mau­schel­kurs von Gewerk­schafts­spit­zen und vie­len Betriebs­rats­gre­mi­en den gewerk- schafts­po­li­ti­schen All­tag in den meis­ten Betrie­ben bestimmt.

Ja, es gab sie. Aller­dings vor 50 Jah­ren. Für jün­ge­re Men­schen ange­sichts ihrer aktu­el­len Erfah­run­gen kaum noch vorstellbar.

Ende der 1960er Jah­re: Hef­ti­ge Klas­sen­kämp­fe in Europa
Die end­sech­zi­ger Jah­re wer­den meis­tens mit den welt­wei­ten „Stu­den­ten­pro­tes­ten“ und der Bewe­gung gegen den Viet­nam-Krieg in Ver­bin­dung gebracht. Ver­ges­sen sind jedoch oft die Viel­zahl tief­grei­fen­der gesell­schaft­li­cher, öko­no­mi­scher und mili­tä­ri­scher Ver­än­de­run­gen die­ser Zeit. Und die dar­aus resul­tie­ren­den hef­ti­gen Klassenkämpfe.

Zum Bei­spiel: 1968 wur­de in Frank­reich die staat­li­che Ord­nung nicht allein durch die Stu­die­ren­den, son­dern vor allem durch eine mas­si­ve Gene­ral­streik­be­we­gung zum Wan­ken gebracht. Oder: 1968/69 wur­de der Kapi­ta­lis­mus in Ita­li­en durch har­te Streiks herausgefordert.

Und in der BRD?
In West­deutsch­land gab es zwi­schen 1950 und bis Mit­te der 1960er Jah­re eine Pha­se schein­bar „kri­sen­frei­en“ Wirt­schafts­wachs­tums. Die Kri­se 1966/67 zer­stör­te die­sen Irrglauben.
Die Ant­wort von Regie­rung und Kapi­tal war ein­deu­tig: Die arbei­ten­de Klas­se soll­te für die Kri­se zah­len. Dies soll­te nicht zuletzt durch die poli­ti­sche „Ein­bin­dung“ der „Arbeit­neh­mer­schaft“, das heißt durch die Bil­dung einer „Gro­ßen Koali­ti­on“ (CDU/CSU/SPD) und der „kon­zer­tier­ten Akti­on“ gelingen.
Die Fol­ge war, dass die SPD-treue Gewerk­schafts­füh­rung eine Poli­tik der lohn- und tarif­po­li­ti­schen Zurück­hal­tung verfolgte.

"Das Übel an der Wurzel packen - Großkonzerne knacken". Transparent bei einer Demonstration 1969 (Abbildung: Screenshot einer Dokumentation über die „wilden“ Streiks Ende der 1960er Jahre)

Das Übel an der Wur­zel packen - Groß­kon­zer­ne kna­cken”. Trans­pa­rent bei einer Demons­tra­ti­on 1969 (Abbil­dung: Screen­shot einer Doku­men­ta­ti­on über die „wil­den“ Streiks Ende der 1960er Jahre)

Die Ant­wort der Klas­se – „wild“ und spontan.
Die Hoesch-Beleg­schaft in Dort­mund war mit dem 1969er Tarif­er­geb­nis nicht zufrie­den. Sie for­der­te am 02. Sep­tem­ber 1969 eine Erhö­hung der Stun­den­löh­ne um 30 Pfen­ni­ge. Nach­dem die Unter­neh­mens­lei­tung eine Nach­bes­se­rung des Tarifs abge­lehnt hat­te, kam es zu einer spon­ta­nen Arbeitsniederlegung.

Der Fun­ke sprang in den fol­gen­den Wochen auf zahl­rei­che Betrie­be im Berg­bau, der Stahl­in­dus­trie und ande­rer Bran­chen über.

Kapitalverbände,_Gewerkschaftsapparate und die eta­blier­te Poli­tik waren von der Ent­wick­lung die­ses streik­po­li­ti­schen Flä­chen­brands völ­lig überrascht.

Rund 150.000 Beschäf­tig­te waren letzt­end­lich an die­ser Streik­be­we­gung betei­ligt. Erst nach eini­gen Wochen und nach Zuge­ständ­nis­sen der Unter­neh­men ende­ten die Streiks.

Wel­che Fol­gen – wel­che Lehren?
1. Die „wil­den“ Streiks führ­ten zu einer (wenn auch vor­über­ge­hen­den) Stär­kung lin­ker Posi­tio­nen in den Gewerk­schaf­ten und Betrie­ben. Vie­le jun­ge Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen radi­ka­li­sier­ten sich und beein­fluss­ten in den fol­gen­den Jah­ren und Jahr­zehn­ten die betrieb­li­che Gewerkschaftspolitik.

2. Die „wil­den“ Streiks hät­ten sehr wahr­schein­lich ohne exis­tie­ren­de kämp­fe­ri­sche Ker­ne (in der Regel kom­mu­nis­ti­sche und sozia­lis­ti­sche Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen) so nicht statt­ge­fun­den. Die­se Ker­ne tru­gen wesent­lich zur Ent­wick­lung der Streik­be­we­gung bei.

3. Wir kön­nen man­ches aus die­ser Bewe­gung lernen.

Drei Punk­te sol­len beson­ders erwähnt werden:

Ers­tens: Wider­stand ist nötig, mög­lich und kann erfolg­reich sein.

Zwei­tens: Um Wider­stand orga­ni­sie­ren zu kön­nen, bedarf es orga­ni­sier­ter und kampf­be­rei­ter Ker­ne von Akti­ven. Die­se müs­sen sich poli­tisch bewusst für die Inter­es­sen ihrer Klas­se einsetzen.

Drit­tens: Ohne die Per­spek­ti­ve einer soli­da­ri­schen Welt, einer direk­ten Demo­kra­tie und einer anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen, bedürf­nis­ori­en­tier­ten Wirt­schaft wird das dau­er­haft nicht gelingen.

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Febru­ar 2020
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