Der sozio­öko­no­mi­sche Hin­ter­grund für das Wie­der­auf­le­ben von Faschis­mus und Rassismus

Ernest Man­del


Redak­tio­nel­le Vorbemerkung: 

Den nach­fol­gen­den Exper­ten­bei­trag hat der revo­lu­tio­nä­re Sozia­list, inter­na­tio­na­lis­ti­sche Wider­stands­kämp­fer und mar­xis­ti­sche Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler Ernest Man­del (1923-1995) für den 1985 vom Euro­päi­schen Par­la­ment ein­ge­setz­ten Unter­su­chungs­aus­schuss „Zum Wie­der­auf­le­ben von Faschis­mus und Ras­sis­mus in Euro­pa“ ver­fasst. Die dama­li­ge Schreib­wei­se haben wir beibehalten.*


Kundgebung gegen Rechts in Mannheim, 27. Januar 2024. (helmut-roos@web.de.)

Kund­ge­bung gegen Rechts in Mann­heim, 27. Janu­ar 2024. (helmut-roos@web.de.)

Über die Ursa­chen des Wie­der­auf­le­bens von Faschis­mus und Ras­sis­mus in Deutsch­land in der Zeit vor dem Zwei­ten Welt­krieg liegt eine sehr aus­führ­li­che Lite­ra­tur vor (Deutsch­land wird als typischs­tes Bei­spiel für den Faschis­mus gewählt, typi­scher als der Faschis­mus in Ita­li­en oder Spa­ni­en). Wenn­gleich es zahl­rei­che Mei­nungs­un­ter­schie­de zwi­schen His­to­ri­kern und Politologen/Soziologen über die Gewich­tung der ein­zel­nen Fak­to­ren gibt, die zur Erklä­rung der Ent­ste­hung des Drit­ten Rei­ches her­an­ge­zo­gen wer­den, so herrscht doch brei­ter Kon­sens über die fol­gen­den kau­sa­len Zusammenhänge:

1. Die Kri­se der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie war eng mit einer schwe­ren Wirt­schafts­kri­se ver­bun­den, wie z. B. der in Deutsch­land im Okto­ber 1929 aus­bre­chen­den Kri­se. In einer sol­chen Zeit sehen sich Mil­lio­nen von Men­schen damit kon­fron­tiert, daß es kei­nen Aus­weg in „nor­ma­len“ Ver­hält­nis­sen für ihre mate­ri­el­le und mora­li­sche Not gibt. Sie sind in einer sol­chen Zeit eher als unter den Bedin­gun­gen eines grö­ße­ren Wohl­stan­des bereit ihr Heil in „unnor­ma­len“ Aben­teu­ern zu suchen. Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit, Bank­rott von mit­tel­stän­di­schen Unter­neh­men, star­ker Rück­gang des Lebens­stan­dards der sog. frei­en Beru­fe begüns­ti­gen die poli­ti­sche Radi­ka­li­sie­rung, im All­ge­mei­nen die von rechts stär­ker als die von links. Die Ent­ste­hung von brei­ten Schich­ten von ver­zwei­fel­ten und sozi­al abge­stie­ge­nen Rand­grup­pen in der Gesell­schaft begüns­tigt Auf­kom­men und Stär­kung von Despe­ra- do-Orga­ni­sa­tio­nen und Schlä­ger­trupps wie die der klas­si­schen Faschis­ten. Je län­ger die Kri­se andau­ert, je mehr das Bewußt­sein wächst, daß sie mit einer „nor­ma­len“ Regie­rungs­form nicht über­wun­den wer­den kann, umso stär­ke­ren Wider­hall fin­det der Ruf nach einem „star­ken Mann“, d. h. nach einer Dik­ta­tur oder zumin­dest nach einem auto­ri­tä­ren Regime.

2. In einer Wirt­schafts­kri­se und (oder) in einer schwe­ren Gesell­schafts­kri­se wird inner­halb der herr­schen­den Klas­se der Wunsch stär­ker, den Umfang der Sozi­al­aus­ga­ben zu ver­rin­gern, die Löh­ne ein­zu­frie­ren, sozia­le Kon­flik­te aus­zu­schal­ten, Streiks zu erschwe­ren oder zu ver­bie­ten, die Rech­te der Gewerk­schaf­ten ein­zu­schrän­ken usw. als in einer Zeit eines schnel­len Wirt­schafts­wachs­tums, das bei­den „Sozi­al­part­nern“ die Mög­lich­keit bie­tet, ihre Ein­kom­men zu stei­gern, da sich durch den „grö­ßer wer­den­den Kuchen“ kei­ne Ver­tei­lungs­pro­ble­me erge­ben. Das erklärt, daß in einer Wirt­schafts­kri­se mehr Geld des Groß­ka­pi­tals radi­kal rech­ten und auch faschis­ti­schen Grup­pen zufließt. Das bedeu­tet nicht, daß das Bür­ger­tum aus­schließ- lich die äußers­ten Rech­ten begüns­tigt oder von Anfang an der faschis­ti­schen Rich­tung zuneigt. Es bedeu­tet aber durch­aus, daß das Bür­ger­tum eine sol­che „Lösung“ sei­ner sozio-öko­no­mi­schen und poli­ti­schen Pro­ble­me nicht mehr aus­schließt und die­se Mög­lich­keit als eine unter ande­ren betrach­tet. Das Übri­ge hängt dann von den Macht­ver­hält­nis­sen und der kon­kre­ten poli­ti­schen Ent­wick­lung ab.

Kundgebung gegen Rechts in Mannheim, 27. Januar 2024. (helmut-roos@web.de.)

Kund­ge­bung gegen Rechts in Mann­heim, 27. Janu­ar 2024. (helmut-roos@web.de.)

3. Wenn es einer bestimm­ten rechts­extre­men oder ganz offen faschis­ti­schen Grup­pe gelingt, bedingt durch die Wirt­schafts­kri­se und die am Anfang gerin­ge Unter­stüt­zung durch das Groß­ka­pi­tal, ein bestimm­tes Niveau an Glaub­wür­dig­keit, Reprä­sen­ta­ti­vi­tät und poli­ti­schem Ein­fluß (ein­schließ­lich Ver­tre­tung im Par­la­ment) zu errei­chen, so wird viel Geld aus den Krei­sen des Groß­ka­pi­tals in die­se Rich­tung zu flie­ßen begin­nen. Man kann das als eine Art von „Ver­si­che­rungs­prä­mie“ inter­pre­tie­ren. Man kann es mit der Hoff­nung auf Ver­wirk­li­chung bestimm­ter poli­ti­scher Plä­ne in Ver­bin­dung set­zen. Aber wie die­se Ver­hal­tens­wei­se auch aus­ge­legt wer­den mag, sie ist bei­spiels­wei­se in Deutsch­land in den Jah­ren 1931 und ins­be­son­de­re 1932 unzwei­fel­haft fest­zu­stel­len. Wäh­rend ursprüng­lich nur eini­ge Aus­nah­me­erschei­nun­gen unter den Groß­ka­pi- talis­ten (Thys­sen, Kir­dorf, Reemts­ma) die Nazis öffent­lich unter­stütz­ten (auch Ford aus den USA), wuchs sich die­se Unter­stüt­zung zu einer brei­ten Finan­zie­rung aus zahl­rei­chen kapi- talis­ti­schen Krei­sen aus, nach­dem Hit­lers Par­tei sich als die wich­tigs­te Kraft auf der Rech­ten erwie­sen hatte.

4. Eine faschis­ti­sche Dik­ta­tur kann ohne grü­nes „Licht“ maß­geb­li­cher Krei­se des Groß­ka­pi­tals nicht auf­ge­rich­tet und schon gar nicht gefes­tigt wer­den. Das wich­tigs­te Glied in der Ket­te der Ereig­nis­se, die zur Ernen­nung Hit­lers zum Reichs­kanz­ler am 30. Janu­ar 1933 führ­ten, war das berüch­tig­te Tref­fen bei Ban­kier Baron von Schroe­der, auf dem Hit­ler sein Pro­gramm (umge­formt, um den Anwe­sen­den nach dem Mund zu reden – sei­nen Auf­fas­sun­gen blieb er aber treu!) in Anwe­sen­heit der füh­ren­den Ver­tre­ter des deut­schen Groß­ka­pi­tals erläu­ter­te. Die Ver­mitt­ler­rol­le, die der Her­ren­club (Ver­ei­ni­gung der Ban­kiers, Groß­in­dus­tri­el­len, Groß­grund­be­sit­zer, hohen Offi­zie­re der Reichs­wehr) zwi­schen Reichs­prä­si­dent von Hin­den­burg – der durch sei­nen Sohn beein­flußt wur­de, der in den Ost­hil­fe­skan­dal, den Hit­ler tot­zu­schwei­gen zusag­te, ver­wi­ckelt war – und den Nazis gespielt hat, ist eben­falls all­ge­mein bekannt. Nach Besei­ti­gung der demo­kra­ti­schen Frei­hei­ten in Deutsch­land wur­de eine „gelenk­te Wirt­schaft“ ein­ge­rich­tet, in der in jedem Unter­neh­men zuguns­ten des Unter­neh­mers das Füh­rer­prin­zip galt, in der die Unter­neh­men aus­schließ­lich von Indus­tri­el­len geführt wur­den (Par­tei­funk­tio­nä­re der Nazis spiel­ten dabei kei­ne Rol­le), in der es zu „Zwangs­zu­sam­men­schlüs­sen“ zuguns­ten der Groß­un­ter­neh­men kam und in der die kapi­ta­lis­ti­schen Gewin­ne steil in die Höhe gin­gen. Im Jahr 1938 lagen die Gewin­ne bei glei­cher Gesamt­lohn­sum­me wie im Jahr 1928 um das Drei­fa­che (Stei­ge­rung um 300%!) über den Gewin­nen des Vor­jah­res. Es muß nicht wei­ter dar­auf ein­ge­gan­gen wer­den, daß auch ande­re Aspek­te der Nazi-Poli­tik (Wirt­schafts­expan­si­on, dann inter­na­tio­na­le Aggres­si­on) den Wün­schen zumin­dest eines Teils des Groß­bür­ger­tums ent­ge­gen­ka­men und daß die Mehr­zahl der Groß­un­ter­neh­men dar­an stark betei­ligt war und in gewal­ti­gem Maße davon pro­fi­tiert hat.

Kundgebung gegen Rechts in Mannheim, 27. Januar 2024. (Foto: Privat.)

Kund­ge­bung gegen Rechts in Mann­heim, 27. Janu­ar 2024. (Foto: Privat.)

5. Der ideo­lo­gi­sche Hin­ter­grund der Pro­zes­se, die zur Ent­ste­hung eines faschis­ti­schen Regimes füh­ren, wird vor allem durch das Auf­kom­men eines extre­men Natio­na­lis­mus (bis an die Gren­ze der Hys­te­rie), einen zuneh­men­den Ras­sis­mus und ei-nen grö­ße­ren Anteil irra­tio­na­ler, „magi­scher“ und mythi­scher Ele­men­te in der Poli­tik bestimmt. D. h. die gerin­ge­re Sen­si­bi­li­tät des Durch­schnitts­bür­gers gegen­über Gewalt und Unrecht, sei­ne abneh­men­de Bereit­schaft, dage­gen aktiv auf­zu­tre­ten. In Deutsch­land wur­de die Ent­ste­hung einer sol­chen ideo­lo­gi­schen Atmo­sphä­re durch den Krieg, den Ver­trag von Ver­sailles und die extre­mis­ti­schen Reak­tio­nen auf den Ver­trag geför­dert. Die­se Ele­men­te wur­den jedoch nur durch die Kri­se zu einem explo­si­ven Gemisch. Sie führ­ten dann zum Aus­bruch einer wah- ren Hys­te­rie und Gewalt­tä­tig­keit von Sei­ten der Nazis und ihrer Bun­des­ge­nos­sen, zu wach­sen­der Panik, Angst und Pas­si­vi­tät bei der Mehr­heit der Mit­bür­ger (mit der rühm­li­chen Aus­nah­me von Akti­vis­ten aus der Arbei­ter­be­we­gung, von Katho­li­ken und klei­ne­ren Krei­sen huma­nis­tisch gepräg­ter Intel- lek­tu­el­ler und Jugend­li­cher). Das Bür­ger­tum hat das zunächst als „klei­ne­res Übel“ tole­riert (im Ver­gleich zum „mar­xis­ti­schen Klas­sen­kampf“ wäh­rend der Kri­se), spä­ter stär­ker dar­an mit­ge­wirkt. Man darf nicht ver­ges­sen, daß die Ursa­chen für Natio­na­lis­mus und Ras­sis­mus bereits in der Kai­ser­zeit ent­stan­den und u. a. in Äuße­run­gen von Wil­helm II. und sei­nen Wür-den­trä­gern häu­fig anklin­gen. (Bei­spiels­wei­se bei der Abrei­se des deut­schen Expe­di­ti­ons­korps nach Peking: „Par­don wird nicht gege­ben, Gefan­ge­ne nicht gemacht, ver­hal­tet Euch so, daß die Chi­ne­sen noch in tau­send Jah­ren mit Schre­cken von Euch spre­chen, wie wir von den Hunnen.“)

Der zyni­sche Bruch mit allen Regeln des Rechts­staa­tes, die extre­me Ver­herr­li­chung von Macht und Real­po­li­tik kam außer­dem zum ers­ten Mal außer­halb Euro­pas zum Tra­gen, näm­lich gegen­über kolo­nia­len und halb­ko­lo­nia­len Völ­kern. Das typisch Neue des Faschis­mus ist der Ver­such, die­sen extre­men Bruch mit jeder huma­nis­ti­schen Moral aus den Län­dern der „Drit­ten Welt“ (wo er auch von „libe­ra­len“ euro­päi­schen Bür­gern sys­te­ma­tisch unter­nom­men wur­de) nach Euro­pa selbst zu über­tra­gen, um zunächst die deut­sche Arbei­ter­klas­se und in der Fol­ge zahl­rei­che euro­päi­sche Völ­ker zu Unter­ta­nen ohne Rech­te zu machen, die nur noch dafür gut waren, gehor­sa­me oder sogar kolo­nia­le Skla­ven zu sein.

Die heu­ti­ge Kri­se ist (noch?) weni­ger stark als die von 1929-1933, und wir ste­hen somit am Anfang von Pro­zes­sen, wie sie in Deutsch­land in der dama­li­gen Zeit ablie­fen. Die Par­al­le­le, die wir zwi­schen dem Wie­der­auf­le­ben von Neo­fa­schis­mus und Ras­sis­mus in der EG [Euro­päi­sche Gemein­schaft, Vor­läu­fer der EU] in den letz­ten Jah­ren und den Ereig­nis­sen in Deutsch­land in den zwan­zi­ger und am Anfang der drei­ßi­ger Jah­re zie­hen kön­nen, bezieht sich ledig­lich auf die in den Zif­fern 1 und 2 (teil­wei­se auch in Zif­fer 5) dar­ge­stell­ten Aspek­te. Das gilt ins­be­son­de­re für Ita­li­en und Frank­reich, in gerin­ge­rem Maße für ande­re EG-Län­der (obwohl Ansät­ze zu sol­chen Pro­zes­sen in allen EG-Län­dern vor­han­den sind). Die Ver­bin­dun­gen zwi­schen der Loge P2 und dem dar­in ver­tre­te­nen Groß­ka­pi­tal einer­seits und extrem rech­ten Grup­pen ande­rer­seits (ein­schließ­lich Tei­len der kon­ser­va­tiv aus­ge­rich­te­ten Par­tei­en, die bereit waren, mit ihnen zusam­men­zu­ar­bei­ten) wur­den in zahl­rei­chen Ana­ly­sen ver­deut­licht. Man muß kein Anhän­ger einer Ver­schwö­rungs­theo­rie sein, um fest­zu­stel­len, daß extrem rech­te Ideo­lo­gien und Absich­ten in einer Zeit star­ker gesell­schaft­li­cher und poli­ti­scher Span­nun­gen, die von einer sich ver­schär­fen­den Wirt­schafts­kri­se beglei­tet wer­den, wie sie in Ita­li­en wäh­rend der 70er Jah­re herrsch­te, zumin­dest bei Tei­len des Groß­bür­ger­tums und füh­ren­den Krei­sen von Armee und Poli­tik stär­ke­ren Anklang fand als zuvor. Auch in Frank­reich ist das seit der Wahl von Mit­te­rand ohne Zwei­fel der Fall.

Die orga­ni­sier­te Arbei­ter­be­we­gung und über­zeug­te Anti­fa­schis­ten – die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit der Bevöl­ke­rung und der Wäh­ler der EG – müs­sen sich der Gefah­ren bewußt wer­den und alles unter­neh­men, um das Wie­der­auf­le­ben von Faschis­mus und Ras­sis­mus im Keim zu ersti­cken. Kom­men wir in eine Pha­se, wie sie in Zif­fer 3 mei­ner Ana­ly­se dar­ge­stellt ist, dann ist die Gefahr bereits rie­sen­groß. Am Ende des Weges ste­hen nicht nur der Ver­lust der demo­kra­ti­schen Frei­hei­ten, des poli­ti­schen und ideo­lo­gi­schen Plu­ra­lis­mus, [danach fol­gen] die Zen­sur, die Ver­bren­nung von Büchern, die Abschaf­fung des Streik­rechts, die Aus­schal­tung der Gewerk­schafts­be­we­gung, am Ende die­ses Weges ste­hen Dach­au, Buchen­wald und Ausch­witz, die voll­stän­di­ge Negie­rung von Men- schen­rech­ten und Men­schen­le­ben, unge­ach­tet, wel­ches die „bevor­zug­ten“ Opfer oder Hen­ker auch immer sein mögen. Das muß mit allen Mit­teln ver­hin­dert wer­den, das darf in Euro­pa nicht zum zwei­ten Mal geschehen.


* [Aus: PE 97.547/endg./Anl.44 (Sit­zungs­do­ku­men­te des Euro­päi­schen Par­la­ments 1985-86); abge­druckt in Inpre­korr, Nr. 254 von Dezem­ber 1992, S. 25 f. und in Theo­rie­bei­la­ge zu Avan­ti² Nr. 50 von Okto­ber 2018 , S. 1 ff.]


Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar März 2024
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