Der 9. November:
Erinnerung an einen verdrängten Tag*
Der 9. November 1918
Wenn es wahr ist, was der Berliner Politologe Dietmar Schiller sagt, dass politische Gedenktage die anzuerkennenden Grundwerte eines Gesellschaftssystems zur Anschauung bringen sollen, die Identifikation mit dem politischen System, dann stehen wir beim 9. November 1918 vor einem völligen Rätsel.
Wie kommt es, dass der 9. November 1918, der Tag der bürgerlich-demokratischen Revolution, an dem das deutsche Kaiserreich endgültig beerdigt wurde, niemals zu einem „politischen Gedenktag“ wurde? […] Dies, obwohl uns dieser Revolutionstag allgemeine, gleiche und geheime Wahlen zu einem Parlament, zum ersten Mal sogar das Frauenwahlrecht, den Achtstundentag, ein Tarifvertragsgesetz und anderes mehr beschert hat!
Weil eben die bürgerlich-demokratische Revolution vom 9. November 1918 nicht das Werk des Bürgertums war, das seine Revolution schon 1848 verraten hat, sondern weil sie von meuternden Matrosen, von Arbeiter- und Soldatenräten getragen wurde.
Wie sah dieser 9. November in Berlin aus? Sebastian Haffner gewiss kein Revolutionär, aber ein aufrechter Demokrat schildert ihn in Die deutsche Revolution 1918 / 19 so: „Niemand hat die Massen, die am 9. November stadteinwärts zogen, gezählt. Aber alle Augenzeugen sprechen von hundert- tausenden, Sie alle hatten einen ungeheuren Stimmungsumschwung erlebt: Am Vormittag waren sie, jeder einzelne von ihnen, darauf gefasst gewesen, in den Tod zu marschieren. Sie wussten nicht davon, dass die Truppe ‚nicht mehr hielt, sie erwartete Maschinengewehrsalven, wenn sie vor den Kasernen und Regierungsgebäuden ankamen.
In den vordersten Reihen der endlosen, dumpf und langsam aus allen Himmelsrichtungen heranmarschierenden Kolonnen trug man Plakate: ‚Brüder, nicht schießen!’ In den hinteren Reihen trug man vielfach Waffen. Man erwartete tragisch entschlossen einen Todeskampf um die Kasernen … und dann geschah nichts! Die ‚Brüder’ schossen wirklich nicht, sie öffneten selbst die Kasernen, halfen selbst die roten Fahnen zu hissen, sie schlossen sich den Massen an, oder wie die Schutzmannschaften im Polizeipräsidium am Alexanderplatz, schnallten sie ihre Waffen ab und verdrückten sich, so schnell sie konnten. Man war so verblüfft, dass man Gassen bildete, um die Polizisten unbehelligt nach Hause gehen zu lassen; nicht einmal Schmährufe wurden laut.
Die Revolution in Berlin war gutmütig, wie sie es überall gewesen ist. Wenn Blut vergossen wurde, dann von der anderen Seite.“ So Sebastian Haffner.
Am 10. November wurde auch sofort eine neue Regierung aus drei Sozialdemokraten und drei Unabhängigen (Sozialdemokraten, USPD) gebildet, deren Mitglieder sich „Volksbeauftragte“ und nicht Minister nannten.
[…]
Wir wollen hier nicht den Ursachen für das letztendliche Scheitern dieser durch die Räte abgesegneten „Volksbeauftragten“ nachgehen. Wir wollen nur festhalten, dass genau dies – der Geburtsmakel der ersten deutschen Demokratie, ihre Gründung durch Räte – ein wichtiger Grund dafür war, dass in den kurzen Lebensjahren dieser Republik (1918 bis 1933), sie nicht nur im nationalkonservativen Bürgertum auf wenig Gegenliebe gestoßen ist, und das erklärt auch, warum der 9. November 1918 nicht zum politischen Gedenktag oder nationalen Feiertag erhoben worden ist, warum er kein Tag der politischen Identifikation mit dem System ist.
Warum aber erhielt die Weimarer Republik, wie sie später genannt wurde, weil in Weimar ihre Verfassung beschlossen worden ist, von ihren Gegnern den schmückenden Namen „Judenrepublik“? Weil sie die Emanzipation der Juden, ihre Gleichberechtigung, die in allen vorangegangenen bürgerlichen Revolutionen, der holländischen, englischen, amerikanischen, französischen, als sichtbares Zeichen für die Verwirklichung von Menschenrechten galt, ebenfalls in die Praxis umsetzte.
Im Kaiserreich hatten die Juden zwar bürgerliche Rechte, aber sie konnten keine Positionen einnehmen, in denen sie Vorgesetzte oder Befehlshaber nichtjüdischer Deutscher waren. Sie konnten weder eine Professur an Universitäten erhalten, noch konnten Juden Richter, Offiziere oder gar Minister werden. Zugleich aber ließ z. B. Bismarck als Reichskanzler nicht zu, dass Juden zum Angriffsziel vulgären, populistischen Antisemitismus wurden, der auch im Reichstag seine Vertreter hatte. Um hohe Beamtenstellungen einzunehmen, mussten Juden im Kaiserreich, wie Heinrich Heine es nannte, die Taufe als Entreebillett – als Eintrittskarte – bezahlen.
Die Weimarer Republik hatte nicht nur zum ersten Mal in der deutschen Geschichte sozialdemokratische Minister, sondern sogar einen jüdischen Finanzminister, Rudolf Hilferding, dem es immerhin gelang, die furchtbare Inflation der zwanziger Jahre erfolgreich zu bändigen. Hingegen hat die Weimarer Republik aus einem falschen Demokratieverständnis, der populistischen antisemitischen Bewegung niemals Zügel angelegt, bis diese in Gestalt der rassistischen Nazibewegung mit der Unterstützung sämtlicher bürgerlicher Parteien, Adolf Hitler 1933 durch ein Gesetz „ermächtigte“, die Republik selbst hinwegzufegen.
Der 9. November 1923
Adolf Hitler hatte schon einmal versucht, die Weimarer Republik zu beseitigen, und zwar im Jahre 1923, und durchaus nicht zufällig am 9. November. Hitler drang damals an der Spitze einer bewaffneten SA-Formation in den Münchener Bürgerbräukeller ein, wo der rechtskonservative, monarchisch-christlich gesinnte bayrische Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr eine Rede halten wollte.
Hitler hat „die Regierung der Novemberverbrecher“ – wie er sie damals nannte – in Berlin für abgesetzt erklärt und verkündete die Bildung einer provisorischen deutschen Nationalregierung. Diese bestand aus General Ludendorff, Adolf Hitler, General von Lossow, Oberst von Seissner. Alle für die Revolution von 1918 verantwortlichen Politiker sollten binnen drei Stunden vor ein Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet werden.
[…]
Der 9. November 1938
Hingegen war die als „Kristallnacht“ verharmloste, von den Nazis inszenierte Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 für sie erfolgreich. Längst war die durch die Novemberrevolution 1918 ausgelöste Emanzipation der Juden durch eine neue Verfolgungswelle getilgt worden. Juden waren aus dem gesellschaftlichen Leben in Deutschland völlig ausgeschlossen, sogar auf Parkbänken wurden sie von Nichtjuden getrennt.
Aber am 9. November 1938 kündigte sich bereits wie ein Wetterleuchten der Mord an 6 Millionen Juden, 500.000 Sinti und Roma an, ebenso wie der Zweite imperialistische Weltkrieg, der zum Ziel die Versklavung der slawischen Völker hatte, der ganz Europa, wenn nicht gar die ganze Welt unter die „eiserne Ferse“ der Nazis zwingen wollte.
Als sich zum 50. Male im Jahre 1988 die sogenannte Reichskristallnacht vom 9. zum 10. November jährte, stolperte Bundestagspräsident Philipp Jenninger über seine historische Deutung dieses Ereignisses. Das führte zu seinem Rücktritt. Dabei hatte er z. B. gesagt, was heute von anerkannten rechten Historikern und vielen Politikern propagiert wird: Schuld an allem war schließlich nur Adolf Hitler, und der war ein Psychopath.
Fragt man sich nur, warum 1933 die bürgerlichen Parteien einen solchen seelisch kranken Psychopathen ermächtigt hatten, die Republik abzuschaffen und die Macht zu übernehmen.
Und warum haben deutsche Banken, deutsche Industrielle, ihm nicht einen Psychoanalytiker bezahlt, statt seine Partei zu finanzieren? […]
Gedenktag 9. November
Am 21.10.93 beantragte die PDS/LL [Partei des demokratischen Sozialismus / Linke Liste, d. Red.] im Bundestag, einen Gesetzentwurf auf die Tagesordnung zu setzen, um den 9. November als Gedenktag für das große Pogrom zu bestimmen, der am 9.11.1938 in Deutschland stattfand und als dessen Ergebnis letztendlich 6 Millionen Juden und Jüdinnen ermordet wurden.
Der SPD-Abgeordnete Peter Struck sah für seine Fraktion „keinen Grund“ den Antrag abzulehnen. Er wurde jedoch einstimmig von den bürgerlichen Parteien CDU/CSU und F.D.P. ohne Enthaltungen abgelehnt.
Hingegen verständigten sich danach die Regierungskoalition und die SPD am 9.11.93 anlässlich des 55. Jahrestages der Pogromnacht und des 4. Jahrestages der Öffnung der Mauer eine Sitzung des Bundestages abzuhalten, in der die Bundestagspräsidentin Süßmuth eine Rede halten sollte.
Gregor Gysi hat in einem Schreiben davor gewarnt, diese völlig unvergleichlichen Ereignisse miteinander zu vermischen: Den in der Geschichte einmaligen Mord an 6 Millionen durch Nazideutschland mit einem Ereignis wie der Öffnung der Mauer zu verbinden, müssten alle Menschen, die über diesen Massenmord erschüttert sind, geradezu als Missachtung empfinden. Gegen solch eine „Relativierung“ protestierte er … vergebens.
Und der 9. November 1989?
Aber gibt es nicht dennoch einen 9. November, den wir Grund haben freudig zu begehen? Den 9. November 1989, als die DDR ihre Grenzen zur Bundesrepublik öffnete und damit ein Prozeß eingeleitet wurde, der bereits ein knappes Jahr danach zur politischen Vereinigung beider deutschen Staaten führte?
Das Aufbäumen gegen Bevormundung, gegen bürokratische Gängelung und selbstherrliche Macht, das in der DDR mit der Losung begonnen hatte „Wir sind das Volk“ – wir hier unten sind das Volk, nicht ihr da oben –, was an den runden Tischen einer Demokratie von unten auch erprobt wurde, das wich bald einer anderen Losung. Diese hieß: „Wir sind ein Volk“, egal ob unten oder oben. Das leitete die Vereinnahmung des Ostens durch den Westen ein, durch einen unerhörten Raubzug von oben durch westliche Kapitalbesitzer. […]
Antifaschismus wird heute von manchen Gerichten als niedriges Handlungsmotiv qualifiziert, während Brandanschläge und Morde an Ausländern verständnisinnig auf alkoholische Getränke zurückgeführt werden. Die Versäumnisse der Bundesrepublik bei der Entnazifizierung sollen wieder gut gemacht werden durch harte Bestrafung von DDR-Bürgern, denen „Staatsnähe“ nachgesagt wird! Aber liegt darin nicht auch eine gewisse Logik? Schließlich wurden doch für den Wiederaufbau der durch die Niederlage im Zweiten Weltkrieg erschütterten Grundlagen der herrschenden Klasse hier, die Richter, Geheimdienstler, Generäle, Ministerialbürokraten, Professoren und Wehrwirtschaftler dringend gebraucht, die sich schon im Dritten Reich als treue Staatsdiener erwiesen hatten! Aber diejenigen, die nach vierzigjähriger nicht-kapitalistischer Herrschaft in der DDR in vorauseilendem Gehorsam, ihre Dienste den Raubrittern aus dem Westen anboten, waren ihnen höchstens für eine kurze Übergangsperiode von Nutzen. […]
Eine siegreiche deutsche Revolution hätte den Faschismus verhindert!
Dass ein Sieg der deutschen Revolution vom 9. November 1918 uns vor dem Dritten Reich, vor der Wiederholung des Weltkrieges, vor dessen Niederlage, aber auch vor der Restauration, wie wir sie jetzt erleben, hätte bewahren können, hat der liberale Demokrat Sebastian Haffner in seinem jetzt wieder erschienenen Buch über den Verrat 1918 / 19 nachgewiesen. Die deutsche Geschichte hat damals eine Wende genommen, unter der wir heute noch leiden.
Genau darum aber sollten wir am 9. November 1918 als „Gedenktag“ festhalten. Denn damals sind die Grundwerte einer Rätedemokratie als politischer Kern einer anderen Gesellschaftsordnung zum Vorschein gekommen.
Zum Feiertag wird der 9. November wohl erst werden können, wenn das Ziel der damals gewaltsam unterbrochenen Revolution erreicht sein wird: eine sozialistische Demokratie! Mit sinnvollen Aktionen und sehr viel revolutionärer Geduld werden wir dieses Ziel ein zweites Mal nicht verfehlen!