April/Mai 1919

Der kur­ze Früh­ling der Mün­che­ner Räterepublik

Manu­el Kellner

Der ers­te Minis­ter­prä­si­dent von Bay­ern hieß Kurt Eis­ner. Er war Mit­glied der dort sehr schwa­chen USPD. Vor Beginn der deut­schen Revo­lu­ti­on war er eher durch sei­ne Thea­ter­kri­ti­ken als durch eine beson­de­re poli­ti­sche Rol­le aufgefallen.

Eis­ner war auch nicht für die dau­er­haf­te Errich­tung einer Räte­macht, son­dern durch­aus für die Ein­be­ru­fung der Natio­nal­ver­samm­lung. Sei­ner Mei­nung nach soll­ten Par­la­men­te und Räte ein­an­der ergän­zen. Doch woll­te er zuerst die Kon­so­li­die­rung der Arbei­ter-, Bau­ern- und Sol­da­ten­rä­te, um die Errun­gen­schaf­ten der Revo­lu­ti­on zu sichern.

Eis­ner war auch ent­schie­den gegen die Wie­der­auf­rich­tung des Mili­ta­ris­mus durch die Regie­rung Ebert/Scheidemann (MSPD), mit der er sich in einem eska­lie­ren­den Kon­flikt befand. Spä­ter wur­de bekannt, dass die Reichs­re­gie­rung schon im Febru­ar 1919 den baye­ri­schen Oberst von Epp mit Finanz­mit­teln aus­ge­stat­tet hat­te, damit er ein Frei­korps gegen die Räte auf­stel­len konnte.

Eis­ner wider­setz­te sich zunächst ener­gisch der Ein­be­ru­fung des baye­ri­schen Land­tags. Als dann in allen ande­ren Teil­staa­ten Land­ta­ge bestan­den, gab Eis­ner nach und berief das baye­ri­sche Lan­des­par­la­ment für den 21. Febru­ar 1919 ein.

Eis­ner konn­te nicht mehr die Erfah­rung machen, dass eine Dop­pel­herr­schaft von Regie­run­gen – auf der Grund­la­ge von Par­la­ments­wah­len und der Voll­zugs­or­ga­ne von Räten – nur für ver­gleichs­wei­se kur­ze Zeit mög­lich ist.

Telegramm des revolutionären Zentralrates Bayern an das Bezirksamt Fürth, gezeichnet von Ernst Niekisch: „Die Ausrufung der Räterepublik erfolgt am 7. April mittags 12 Uhr …“. Der Arbeiter- und Soldatenrat Fürth sowie der seit 1914 amtierende Bürgermeister bestätigten die Anordnungen (Bild: Gemeinfrei)

Tele­gramm des revo­lu­tio­nä­ren Zen­tral­ra­tes Bay­ern an das Bezirks­amt Fürth, gezeich­net von Ernst Nie­kisch: „Die Aus­ru­fung der Räte­re­pu­blik erfolgt am 7. April mit­tags 12 Uhr …“. Der Arbei­ter- und Sol­da­ten­rat Fürth sowie der seit 1914 amtie­ren­de Bür­ger­meis­ter bestä­tig­ten die Anord­nun­gen (Bild: Gemeinfrei)

Kurz bevor Eis­ner die ers­te Tagung des Lan­des­par­la­ments eröff­nen woll­te, streck­te ihn ein Leut­nant Graf Arco-Val­ley von hin­ten mit zwei Kopf­schüs­sen nie­der. Der Atten­tä­ter war zuvor Mit­glied der mon­ar­chis­ti­schen Thu­le-Gesell­schaft gewe­sen, die ihn wegen sei­ner von ihm ver­leug­ne­ten jüdi­schen Groß­mutter aus­ge­schlos­sen hat­te. Viel­leicht woll­te er mit sei­ner fei­gen „Hel­den­tat“ bewei­sen, dass er doch ein gan­zer Kerl sei.

Kurz dar­auf wur­de der MSPD-Innen­mi­nis­ter Auer von einem Schlach­ter Lind­ner ange­schos­sen, der irr­tüm­lich annahm, Auer habe hin­ter den Kulis­sen das Atten­tat auf Eis­ner eingefädelt.

Kon­fu­si­ons­rä­te“ an der Spitze
Vie­le Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter sahen in der Ein­be­ru­fung des Land­tags das eigent­li­che Atten­tat: ein Atten­tat auf die Revo­lu­ti­on, und das nicht zu Unrecht. Auch mehr­heits­so­zi­al­de­mo­kra­tisch domi­nier­te Ver­samm­lun­gen – wie in Augs­burg am 3. April 1919 – ver­lang­ten nun von der MSPD-Regie­rung Hoff­mann die Aus­ru­fung der baye­ri­schen Räterepublik.

In der Nacht vom 6. auf den 7. April wur­de die­se vom Zen­tral­rat der Räte, dem füh­ren­de Mit­glie­der der MSPD (dar­un­ter die Minis­ter Schnep­pen­horst und Segitz), der USPD, des Bau­ern­bunds und der Anar­chis­tIn­nen ange­hör­ten, auch tat­säch­lich proklamiert.

Nur die KPD wei­ger­te sich mit­zu­ma­chen. Sie ver­wies auf die wirk­li­chen Kräf­te­ver­hält­nis­se im Reich und in Bay­ern sowie auf die feh­len­den orga­ni­sa­to­ri­schen und bewusst­seins­mä­ßi­gen Vor­aus­set­zun­gen, um gegen die Kon­ter­re­vo­lu­ti­on bestehen zu können.

Die ras­seln­de Pro­kla­ma­ti­on kün­dig­te unge­ach­tet die­ser Ein­wän­de die eisen­har­te Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats an.

Das Urteil von Richard Mül­ler, der Schlüs­sel­fi­gur der Ber­li­ner Revo­lu­tio­nä­ren Obleu­te, über die­se Mün­che­ner Räte­re­pu­blik, die auch die KPD als „Schein­rä­te­re­pu­blik“ brand­mark­te, lässt an Klar­heit und Här­te nichts zu wün­schen übrig: „Das Aus­ru­fen der Räte­re­pu­blik war nichts ande­res als elen­de gewis­sen­lo­se Revo­lu­ti­ons­spie­le­rei poli­ti­scher Stre­ber und Café­haus­li­te­ra­ten, die sich an ihren eige­nen Wor­ten berausch­ten und sich im Wir­bel der revo­lu­tio­nä­ren Ereig­nis­se nicht zurecht­fan­den, die von Ehr­geiz, Eitel­keit und Grö­ßen­wahn geblen­det das eige­ne Emp­fin­den, Seh­nen und Stre­ben für das der Volks­mas­se hiel­ten, die eine neue Welt schaf­fen woll­ten, von der sie sich selbst noch kein Bild zu geben ver­moch­ten und die doch nur unbe­wusst die Geschäf­te der Gegen­re­vo­lu­ti­on besorg­ten. Die Regie­rung die­ser Räte­re­pu­blik: Land­au­er, Tol­ler, Dr. Lipp, Müh­sam, Sil­vio Gsell, Küb­ler, Wur­zel­ho­fer, Nie­kisch, Dr. Wad­ler usw. war die Ver­kör­pe­rung der voll­endets­ten Konfusion.“

Eugen Leviné, erschossen 06.06.1919 (Privatarchiv, CDV)

(Bild: Pri­vat­ar­chiv, CDV)

Regie­rungs­über­nah­me durch die KPD
Jeden­falls war die­se neue Regie­rung den immensen Schwie­rig­kei­ten in kei­ner Wei­se gewach­sen. Die Reichs­re­gie­rung und die Lan­des­re­gie­rung Hoff­mann in Bam­berg dreh­ten ihr den Geld­hahn ab, die Bau­ern ver­wei­ger­ten die Ver­sor­gung der Stadt mit Lebens­mit­teln. Die Lan­des­re­gie­rung schick­te sich an, Trup­pen unter genau dem Minis­ter Schnep­pen­horst, der kurz zuvor mit zur „Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats“ auf­ge­ru­fen hat­te, gegen Mün­chen mar­schie­ren zu lassen.

Gestützt auf ein Man­dat von revo­lu­tio­nä­ren Betriebs- und Sol­da­ten­rä­ten beschließt die KPD nun­mehr, der bedräng­ten Räte­re­pu­blik zu Hil­fe zu kom­men und sich selbst mit Eugen Levi­né an ihre Spit­ze zu set­zen. Wie reprä­sen­ta­tiv die­se Man­da­tie­rung war, kann ich nicht beur­tei­len, hal­te aber Richard Mül­lers Wort von „eini­gen hun­dert Zusam­men­ge­trom­mel­ten“ für eine pole­mi­sche Übertreibung.

Die­se zwei­te Räte­re­gie­rung trifft auf allen Gebie­ten ener­gi­sche Maß­nah­men, ver­bie­tet die bür­ger­li­che Pres­se, beschlag­nahmt Lebens­mit­tel der Wohl­ha­ben­den, orga­ni­siert einen zehn­tä­gi­gen Gene­ral­streik (zur Mobi­li­sie­rung der Mas­sen nötig, doch zugleich Gift für die ohne­hin zer­rüt­te­te Ver­sor­gungs­la­ge), bewaff­net die Beleg­schaf­ten der Betrie­be und impro­vi­siert eine Rote Armee, die an die 10.000 Köp­fe gezählt haben dürfte.

Tat­säch­lich gelingt es, zwei bewaff­ne­te Angrif­fe der inner­baye­ri­schen Kon­ter­re­vo­lu­ti­on zurück­zu­schla­gen. Doch als die Reichs­wehr und Frei­korps auf Befehl des zustän­di­gen Minis­ters Noske (MSPD) schließ­lich gemein­sam mit über 100.000 Mann her­an­rü­cken, sind die Tage der Mün­che­ner Räte­re­pu­blik gezählt.

In die­sen letz­ten Tagen und unter dem immensen Druck waren die Akteu­re in den Räten zer­strit­ten und ope­rier­ten teils gegen­ein­an­der. Levi­né zum Bei­spiel wur­de wie­der abge­setzt. War­um hat­te er eigent­lich die Kom­man­do­brü­cke des sin­ken­den Schiffs betre­ten? Weder Richard Mül­ler noch der fran­zö­si­sche His­to­ri­ker Pierre Broué schei­nen das zu verstehen.

Vor Gericht erwähn­te Levi­né die Hoff­nung auf Ent­las­tung durch neue revo­lu­tio­nä­re Bewe­gun­gen anders­wo in Deutsch­land. Wich­ti­ger scheint aber sein ande­res Motiv gewe­sen zu sein. Offen­bar woll­te er die Bewe­gung auch im Unter­gang nicht im Stich las­sen, ana­log zu sei­nem Vor­bild Karl Marx, der, die Nie­der­schla­gung der Pari­ser Kom­mu­ne von 1871 erklär­ter­ma­ßen vor Augen, den­noch die Teil­nah­me der Mit­glie­der der Inter­na­tio­na­len Arbei­ter­as­so­zia­ti­on (IAA) an die­ser Kom­mu­ne befürwortete.

Die Kon­ter­re­vo­lu­ti­on
Das Rasen der Kon­ter­re­vo­lu­ti­on nach der Unter­drü­ckung der Mün­che­ner Räte­re­pu­blik war furcht­bar. Ein Bei­spiel unter vie­len ist die blind­wü­ti­ge Erschla­gung der Mit­glie­der eines katho­li­schen Gesel­len­ver­eins. Sie hat­ten sich ver­sam­melt, weil die „bol­sche­wis­ti­sche Gefahr“ ja vor­bei war. Die ent­fes­sel­te Sol­da­tes­ka ver­stand kein bay­risch, mein­te ein „Spar­ta­kis­ten­nest“ aus­zu­he­ben und mach­te die­se wehr­lo­sen Men­schen nieder.

An Eugen Levi­né selbst wur­de die ers­te poli­tisch moti­vier­te Hin­rich­tung in Deutsch­land seit der Nie­der­schla­gung der Revo­lu­ti­on von 1848 ver­übt. In sei­ner Rede vor Gericht ver­tei­dig­te er tap­fer die Ehre der Mün­che­ner Arbei­ter­schaft, der KPD und sei­ne eige­ne Ehre als Revo­lu­tio­när gegen die nie­der­träch­ti­gen Ver­leum­dun­gen des Staatsanwalts.

Revolutionäre Soldaten auf einer Patrouillenfahrt in Münchne (Bild: Bundesarchiv, Bild 146-1992-092-04 / CC-BY-SA 3.0)

Revo­lu­tio­nä­re Sol­da­ten auf einer Patrouil­len­fahrt in Münch­ne (Bild: Bun­des­ar­chiv, Bild 146-1992-092-04 / CC-BY-SA 3.0)

Berühmt gewor­den ist sein Aus­spruch, die Kom­mu­nis­ten sei­en alle „Tote auf Urlaub“. Doch ver­dient die­se Rede ins­ge­samt ein auf­merk­sa­mes Stu­di­um, weil sie revo­lu­tio­nä­re Grund­über­zeu­gun­gen hell­sich­tig erläu­tert. Das gilt unge­ach­tet des poli­tisch unkor­rek­ten Ver­wei­ses auf „Neger“ unter den kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Sol­da­ten, mit dem Levi­né sei­ne reak­tio­nä­ren Geg­ner im Gerichts­saal in Ver­le­gen­heit brachte.

Das Kains­mal der SPD
Der Autor Sebas­ti­an Haff­ner zieht eine ver­nich­ten­de Bilanz der kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Poli­tik der SPD: „Mit­te 1919 war der deut­schen Revo­lu­ti­on das Genick gebro­chen. Die SPD regier­te jetzt einen bür­ger­li­chen Staat, hin­ter dem als wirk­li­cher Macht­trä­ger die von ihr her­bei­ge­ru­fe­ne Gegen­re­vo­lu­ti­on stand. Äußer­lich war die Stel­lung der SPD glän­zend wie nie zuvor – und wie nie nach­her. Im Reich, in Preu­ßen, in Bay­ern besetz­te sie alle Spit­zen­po­si­tio­nen. Aber ihre Macht war hohl. In dem bür­ger­li­chen Staat, den sie wie­der­her­ge­stellt hat­te, blieb sie ein Fremd­kör­per. Für die gegen­re­vo­lu­tio­nä­ren Frei­korps, mit deren Hil­fe sie ihn wie­der­her­ge­stellt hat­te, blieb sie ein Feind. Und ihre eige­ne Macht­grund­la­ge hat­te die­se Arbei­ter­par­tei zer­stört, als sie die Revo­lu­ti­on der Arbei­ter­mas­sen nie­der­ge­schla­gen hatte.“

Die SPD war schon mit der Zustim­mung zu den Kriegs­kre­di­ten 1914 für den sozia­lis­ti­schen Eman­zi­pa­ti­ons­kampf ver­lo­ren gewe­sen. Ihr Ver­hal­ten in der deut­schen Revo­lu­ti­on 1918/19 war ein ent­schei­den­des Glied in der Ket­te von Ereig­nis­sen, die 1933 zur Macht­er­grei­fung der Nazis führ­ten. Die SPD hat das nie auf­ge­ar­bei­tet, bis heu­te nicht.

In einer Hin­sicht über­treibt Haff­ner aber. Der deut­schen Revo­lu­ti­on war trotz aller bit­te­ren Nie­der­la­gen Mit­te 1919 noch nicht das Genick gebro­chen wor­den. Mit dem am 14. März 1920 begin­nen­den Gene­ral­streik gegen den Kapp-Putsch soll­te sie ihr Haupt ein wei­te­res Mal erheben.

Gegenrevolutionäre Truppen rücken in München ein (Bild: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0049 / CC-BY-SA 3.0).

Gegen­re­vo­lu­tio­nä­re Trup­pen rücken in Mün­chen ein (Bild: Bun­des­ar­chiv, Bild 146-2006-0049 / CC-BY-SA 3.0).

Ver­ste­hen heißt auch, die rein deut­schen Scheu­klap­pen ein­mal abzu­le­gen. Am 21. März 1919 hat­te Béla Kun die Räte­re­pu­blik in Ungarn aus­ge­ru­fen. In die­ser Zeit waren in ganz Öster­reich Arbei­ter­rä­te aktiv. Die sozia­lis­ti­sche Welt­re­vo­lu­ti­on schien sich unauf­halt­sam aus­zu­brei­ten, die rus­si­sche Räte­re­pu­blik nicht mehr allein zu ste­hen. Die „austro­mar­xis­ti­schen“ Füh­rer wie Otto Bau­er und Fried­rich Adler woll­ten jedoch die Macht der Räte so wenig wie die deut­schen Ebert, Schei­de­mann und Noske. Sie hin­ter­trie­ben den Auf­stand. Die Nie­der­la­ge der Räte­be­we­gung in Wien Mit­te Juni 1919 besie­gel­te das Schick­sal der unga­ri­schen Räte­re­pu­blik und das vor­läu­fi­ge Zurück­flu­ten der revo­lu­tio­nä­ren Wel­le nach dem Novem­ber 1918.

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Ver­wen­de­te Literatur:
Pierre Broué, Révo­lu­ti­on en Alle­ma­gne, Paris 1971.
Sebas­ti­an Haff­ner, Der Ver­rat, 1918/1919 – als Deutsch­land wur­de, wie es ist, Ber­lin 1993.
Eugen Levi­né, Rede vor Gericht; in: ders., Skiz­zen, Rede vor Gericht und ande­res, Ber­lin 1925, S. 36–46.
Richard Mül­ler, Der Bür­ger­krieg in Deutsch­land, Ber­lin 1925.

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[Redak­tio­nell über­ar­bei­te­te Ver­si­on des Arti­kels aus SoZ 4/2019.]

Theo­rie­bei­la­ge zur Avan­ti² Rhein-Neckar Mai 2019
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