Schein und Sein
Ernest Mandel
Infolge des Kampfes der Arbeiterbewegung werden bestimmte Institutionen des bürgerlichen Staates subtiler und auch komplexer. Das allgemeine Wahlrecht hat das Zensuswahlrecht abgelöst, der Militärdienst ist verpflichtend geworden, alle zahlen Steuern. Damit wird der Klassencharakter des Staates etwas weniger offensichtlich.
Die Funktion des Staates als Instrument der herrschenden Klasse ist weniger klar als in der Zeit des klassisch bürgerlichen Regimes, als die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen, die Staatsfunktionen ausübten, noch genauso durchsichtig waren wie in der Feudalzeit. So muss jetzt auch die Analyse etwas komplexer werden.
Hierarchie verschiedener Staatsfunktionen
Nur die Naivsten glauben heute noch, dass das Parlament – gestützt auf das allgemeine Wahlreicht – das Sagen hat und den Staat kontrolliert. (Wir müssen aber festhalten, dass diese Illusion dort noch einigermaßen verbreitet ist, wo das Parlament noch nicht lange existiert).
Die Staatsmacht ist eine permanente Macht. Sie wird von einer gewissen Zahl gesonderter Institutionen ausgeübt, die gegenüber dem wechselnden Einfluss der Stimmabgabe bei den Wahlen autonom sind. Diese Institutionen gilt es zu untersuchen, wenn man herausfinden will, wo die eigentliche Macht liegt. „Regierungen kommen und gehen, aber die Polizei und die Verwaltung bleiben.“
Der Staat besteht in erster Linie aus diesen permanenten Institutionen: der Armee (dem beständigen Teil wie dem Generalstab, den Sondertruppen …), der Polizei, der Gendarmerie (Bereitschaftspolizei), der Verwaltung, den Ministerien, den Staatssicherheitsdiensten, den Richtern usw. – all das ist „frei“ davon, durch das allgemeine Wahlrecht beeinflusst zu werden.
Diese Exekutivgewalt wird ständig ausgebaut. In dem Maß, wie sich das allgemeine Wahlrecht entwickelt und wie bestimmte Institutionen eine relative (im Übrigen nur formelle) Demokratisierung erfahren, lässt sich eine Verschiebung der realen Macht feststellen, weg von diesen Institutionen und hin zu solchen, die mehr und mehr dem Einfluss des Parlaments entzogen sind.
Wenn in der aufstrebenden Phase des Parlamentarismus bestimmte Rechte vom König und seinen Beamten auf das Parlament übergehen, so werden in der Niedergangsphase des Parlamentarismus, die mit der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts einsetzt, immer mehr Rechte dem Parlament entzogen und von den permanenten und nicht absetzbaren Einrichtungen des Staates übernommen. Dieses ist in ganz Westeuropa ein generelles Phänomen. Zurzeit ist Frankreichs V. Republik dafür das auffälligste und das am weitesten entwickelte Beispiel.
Ist in dieser Umkehrung der Entwicklung ein teuflisches Komplott bösartiger Bourgeois gegen das allgemeine Wahlrecht auszumachen? Es handelt sich dabei um viel tiefer liegende objektive Bedingungen und Vorgänge: Die reale Macht wird zunehmend von der Legislative zur Exekutive verschoben, die Exekutive wird ständig und unaufhörlich aufgrund von Veränderungen gestärkt, die sich innerhalb der bürgerlichen Klasse selbst abspielen.
Dieser Prozess hat während des Ersten Weltkriegs in den meisten der kriegführenden Länder begonnen und hat sich seitdem unablässig fortgesetzt. Aber dieses Phänomen gab es stellenweise bereits vorher. So gab es im deutschen Kaiserreich schon bei der Einführung des allgemeinen Wahlrechts diese Vorherrschaft der Exekutive gegenüber der Legislative. Bismarck und die Junker haben das allgemeine Wahlrecht eingeführt, um – in gewissem Umfang – die Arbeiterklasse als Manövriermasse gegen die liberale Bourgeoisie einsetzen zu können und so in dieser im Wesentlichen schon kapitalistischen Gesellschaft die relative Unabhängigkeit der exekutiven Gewalt, die vom preußischen Adel ausgeübt wurde, zu sichern.
Dieser Prozess zeigt sehr wohl, dass die politische Gleichheit nur vordergründig existiert und dass das Recht der stimmberechtigten Bürger nur darin besteht, alle vier Jahre ein kleines Papier in die Wahlurne zu stecken. Es reicht nicht weiter, und vor allem betrifft es nicht die wirklichen Entscheidungszentren der Macht.
Die Monopole lösen das Parlament ab
Die klassische Epoche des Parlamentarismus ist die der freien Konkurrenz. Zu jener Zeit ist der einzelne Bourgeois, der Industrielle, der Bankier, individuell sehr stark. Er ist sehr unabhängig, sehr frei im Rahmen der bürgerlichen Freiheit und kann nach Belieben sein Kapital dem Risiko des Marktes aussetzen. In dieser atomisierten bürgerlichen Gesellschaft spielt das Parlament eine sehr nützliche objektive Rolle, für das normale Alltagsgeschäft sogar eine unverzichtbare Rolle.
Denn nur im Parlament lässt sich der gemeinsame Nenner der Interessen der Bourgeoisie bestimmen. Es lassen sich Dutzende verschiedener Gruppen des Bürgertums ausmachen, die sich aufgrund einer Vielzahl sektoraler, regionaler oder Brancheninteressen gegenüberstehen. Diese Gruppen begegnen sich nirgendwo auf institutionalisierte Weise, außer im Parlament. (Sie begegnen sich auf dem Markt, aber dort mit Messern!) Nur im Parlament kann sich eine vermittelnde Linie herausschälen, die Ausdruck der Interessen der gesamten bürgerlichen Klasse ist. Denn dies war damals die Funktion des Parlaments: Als Treffpunkt dienen, wo die kollektiven Interessen der Bourgeoisie formuliert werden.
Vergessen wir nicht, dass in der heroischen Phase des Parlamentarismus bei der Herausbildung des kollektiven Interesses nicht nur Worte und Abstimmungen eine Rolle spielten, sondern auch Dolche und Pistolen. Wurden nicht im Konvent, dem klassischen bürgerlichen Parlament in der französischen Revolution, nach bestimmten Abstimmungen, die oft nur mit haudünner Mehrheit gewonnen wurden, politische Gegner auf die Guillotine geschickt?
Aber die kapitalistische Gesellschaft bleibt nicht atomisiert. Nach und nach organisiert sie sich und gibt sich zunehmend konzentrierte und zentralisierte Strukturen. Die freie Konkurrenz tritt zurück und wird durch Monopole, Trusts und andere Kapitalgruppen ersetzt.
Die kapitalistische Macht zentralisiert sich außerhalb des Parlaments. Eine wirkliche Zentralisierung des Finanzkapitals, der großen Banken und Finanzgruppen wird organisiert. Wenn vor einem Jahrhundert die vom (belgischen) Parlament herausgegebene Analytique¹ die Bestrebungen der belgischen Bourgeoisie zum Ausdruck brachte, so ist es heute der Jahresbericht der Société Générale oder der Brufina², mit denen die Jahreshauptversammlungen ihrer Aktionäre vorbereitet werden und die es zu studieren gilt, wenn man die wirklichen Ansichten der Kapitalisten kennenlernen will. Dort kommen die Anschauungen derjenigen Bourgeois zum Ausdruck, die wirklich zählen, nämlich die großen Finanzgruppen, die das Land beherrschen.
Damit ist die kapitalistische Macht außerhalb des Parlaments und der aus den Wahlen hervorgehenden Institutionen konzentriert. Angesichts einer derart fortgeschrittenen Konzentration (vergessen wir nicht, dass in Belgien etwa zehn Finanzgruppen das Wirtschaftsleben der Nation kontrollieren) ist die Beziehung zwischen dem Parlament, den Beamten, den Polizeipräsidenten … und diesen Leuten, die Milliarden einnehmen, eine Beziehung, die sich wenig um theoretische Festlegungen kümmert. Es ist eine unmittelbare und praktische Verbindung: Sie läuft über die Bezahlung.
Die sichtbaren Goldketten der Bourgeoisie – die Staatsverschuldung
Das Parlament und mehr noch die Regierung eines kapitalistischen Staates, und sei er dem Anschein nach noch so demokratisch, sind mit Goldketten an die Bourgeoisie gebunden. Diese Goldketten haben einen Namen: die Staatsverschuldung. Keine Regierung kann länger als einen Monat überleben, ohne an die Tür der Banken zu klopfen, um die laufenden Ausgaben tätigen zu können. Wenn die Banken ablehnen, ist die Regierung bankrott. Für dieses Phänomen gibt es zwei Ursachen: Die Steuern fließen nicht jeden Tag in die Staatskasse; die Einkünfte konzentrieren sich auf eine bestimmte Zeit im Jahr, während die Ausgaben kontinuierlich sind.
Daraus ergeben sich die kurzfristigen Staatsschulden. Dieses Problem könnte gelöst werden; vorstellbar ist eine technische Übereinkunft, aber es gibt ein viel schwerwiegenderes Problem: Alle modernen kapitalistischen Staaten geben mehr aus, als sie einnehmen. Für die Staatsschulden können die Banken und andere Finanzinstitute ohne große Bedenken Geld zur Verfügung stellen. Für den Staat ergibt sich daraus nämlich eine direkte und unmittelbare, tägliche Abhängigkeit vom Großkapital.
Die Hierarchie im Staatsapparat …
Weitere – in dem Fall unsichtbare – Goldketten sorgen dafür, dass der Staatsapparat ein Instrument in den Händen der Bourgeoisie ist. Betrachten wir beispielsweise das Einstellungsverfahren für Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes, so stellen wir fest, dass für eine einfache Arbeitsstelle in einem Ministerium eine Aufnahmeprüfung zu absolvieren ist. Die Regel erscheint demokratisch. Auf der anderen Seite kann sich nicht jeder Mensch mit einer Prüfung um eine Tätigkeit egal auf welcher Hierarchiestufe bewerben. Die Prüfung für einen Staatssekretärsposten oder für den Generalstab einer Armee ist nicht die gleiche wie für die Ausbildungsstelle eines einfachen Angestellten in einer kleinen Verwaltung. Auf den ersten Blick mag das noch normal erscheinen.
Aber bei diesen Prüfungen gibt es eine progressive Verschärfung, die selektiv wirkt. Die Bewerberinnen und Bewerber müssen bestimmte Zeugnisse vorweisen, sie müssen bestimmte Lehrgänge besucht haben, um überhaupt als Kandidatinnen und Kandidaten für bestimmte Posten in Frage zu kommen, vor allem wenn es sich um Leitungsfunktionen handelt. Ein solches System schließt von vornherein diejenigen Menschen aus, die keine universitäre oder vergleichbare Ausbildung durchlaufen konnten, denn die Demokratisierung des Bildungssystems muss erst noch realisiert werden. Auch wenn das System der Prüfungen egalitär erscheint, so ist es doch in Wirklichkeit ein Selektionsinstrument.
… Spiegel der Hierarchie in der kapitalistischen Gesellschaft
Diese unsichtbaren Goldketten finden sich auch bei den Gehältern derjenigen, die dem Staatsapparat angehören. Alle Verwaltungen einschließlich der Armee weisen diesen Aspekt der Pyramide auf, der Hierarchie, die die bürgerliche Gesellschaft auszeichnet. Wir sind dermaßen beeinflusst und von der Ideologie der herrschenden Klasse geprägt, dass wir das – im Vergleich zu dem Gehalt eines einfachen Angestellten oder einer Reinigungsfrau – zehnfach höhere Einkommen eines Staatssekretärs billigen. Die Putzkraft muss physisch sehr viel mehr leisten, aber der Staatssekretär „denkt“! Das ist ja bekanntlich viel ermüdender. So ist auch der Sold des Generalstabchefs (noch einer, der „denkt“!) sehr viel höher als der eines einfachen Soldaten.
Diese hierarchische Struktur des Staatsapparats lässt uns folgendes unterstreichen: Es finden sich dort Staatssekretäre, Generäle usw., die über vergleichbare Einkommen verfügen, also über einen vergleichbaren Lebensstandard, der sie dem gleichen gesellschaftlichen und ideologischen Milieu angehören lässt wie die Großbourgeoisie. Dann folgen die mittleren Beamten, die mittleren Offiziere, die unter ähnlichen gesellschaftlichen Bedingungen leben und ähnliche Einkommen haben wie die mittlere und Kleinbourgeoisie. Und dann gibt es noch die Masse der einfachen Staatsangestellten, der Ungelernten, der Reinigungskräfte, der kommunalen Arbeiter, die oft weniger verdienen als Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter. Ihr Lebensstandard entspricht dem des Proletariats.
Der Staatsapparat ist kein homogenes Instrument. Er weist eine Struktur auf, die ganz deutlich der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft entspricht, mit einer Klassenhierarchie und den entsprechenden Unterschieden. Diese Pyramidenstruktur entspricht einem realen Bedürfnis der Bourgeoisie. Sie will über ein Instrument verfügen, das sie nach eigenem Gutdünken nutzen kann. So lässt sich deshalb auch gut verstehen, wieso die Bourgeoisie lange und hartnäckig versucht hat, den Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes das Streikrecht zu verwehren.
Der Staat? – Ein Überwacher!
Dieses Argument ist wichtig. Schon in der Konzeption des bürgerlichen Staates – ganz gleich übrigens, wie „demokratisch“ er im jeweiligen Fall ist – gibt es einen fundamentalen Punkt, der übrigens mit seiner Entstehung zusammenhängt: Von seinem Wesen her ist und bleibt der Staat gegenüber den Bedürfnissen der Gemeinschaft feindlich oder wenig zugänglich. Der Staat ist per Definition eine Gruppe von Menschen, die bestimmte Funktionen ausüben, die ursprünglich von allen Mitgliedern des Gemeinwesens ausgeübt wurden. Diese Staatsbeamten üben keine produktive Tätigkeit aus, sondern werden von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft ausgehalten.
Zu normalen Zeiten haben wir keinen Bedarf an Überwachern. So gibt es in Bussen der Moskauer Verkehrsbetriebe niemand, der die Funktion des Geldeinsammelns übernimmt; die Nutzer legen ihre Kopeken hin, ohne dass sie jemand dabei kontrolliert.³ In Gesellschaften, in denen die Produktivkräfte noch wenig entwickelt sind und es einen intensiven Kampf jeder gegen jeden gibt, um sich von dem insgesamt unzureichenden Sozialprodukt ein gewisses Stück anzueignen, braucht es einen Apparat an Aufsehern. So wurden in der Zeit der Besatzung während des Zweiten Weltkriegs Unmengen an speziellen Überwachungsdiensten eingerichtet (Bahnhofspolizei, Überwachung der Druckereien, Überwachung der Rationierung von Lebensmitteln …).
In solchen Zeiten gibt es so viel Konfliktstoff, dass ein gewaltiger Überwachungsapparat erforderlich ist. Bei genauerer Überlegung stellt sich heraus, dass alle, die Staatsfunktionen ausüben, die also zum Staatsapparat gehören, auf die eine oder andere Weise Aufseher sind. Die Angehörigen der unterschiedlichen Polizeistrukturen sind Aufseher, aber auch die Beamten der Finanzämter, der Justiz, der Ministerialverwaltungen, der Fahrkartenkontrollen in Bussen usw. Letztendlich lassen sich alle Funktionen des Staatsapparates auf Folgendes zurückführen: überwachen und das gesellschaftliche Leben im Interesse der herrschenden Klasse kontrollieren.
Es heißt oft, der heutige Staat sei so etwas wie ein Schiedsrichter; diese Feststellung könnte in enger Verbindung mit der Erklärung gesehen werden, die wir hier dargelegt haben: Denn sind nicht „überwachen“ und „den Schiedsrichter geben“ letztlich das Gleiche?
Dazu müssen wir zwei Anmerkungen machen: Erstens ist dieser Schiedsrichter nicht neutral. Wie wir oben dargelegt haben, sind die Spitzen des Staatsapparats sehr eng mit der Großbourgeoise verbunden. Sodann erfolgt die Ausübung des Schiedsrichteramtes nicht im luftleeren Raum; sie erfolgt im Rahmen der Aufrechterhaltung der existierenden Klassengesellschaft. Sicherlich können die „Schiedsrichter“ den Ausgebeuteten Zugeständnisse machen; dies hängt im Wesentlichen von den Kräfteverhältnissen ab. Aber das wesentliche Ziel der Schiedsrichterrolle ist die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ausbeutung als solcher, notfalls indem zweitrangige Zugeständnisse gemacht werden.
Der Überwachungsstaat – Beleg für die Armut in der Gesellschaft
Der Staat ist eine von der Gesellschaft abgesonderte Körperschaft, um das tägliche Funktionieren des gesellschaftlichen Lebens zu überwachen – im Dienst der herrschenden Klasse und zur Absicherung ihrer Herrschaft. Dieses Überwachungsinstrument ist objektiv notwendig, denn es ergibt sich unmittelbar aus dem Ausmaß der Armut und der Vielzahl der sozialen Konflikte, die in dieser Gesellschaft existieren.
In einer allgemeineren geschichtlichen Betrachtung ist die Ausübung der Staatsfunktionen eng mit der Existenz gesellschaftlicher Konflikte verbunden, und diese wiederum sind eng mit dem Vorhandensein eines gewissen Mangels an materiellen Gütern, an Wohlstand und an Ressourcen verknüpft, also Mitteln, die der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen. Wir betonen: Solange es einen Staat geben wird, wird er ein Beleg dafür sein, dass es noch gesellschaftliche Konflikte gibt (also auch einen relativen Mangel an Gütern und Dienstleistungen). Mit dem Verschwinden gesellschaftlicher Konflikte werden auch die Aufseher verschwinden, die dann parasitär und überflüssig geworden sind, aber nicht vorher! Die Gesellschaft bezahlt diese Menschen für ihre Überwachungsaufgabe, und zwar solange, wie ein Teil der Gesellschaft daran ein Interesse hat. Aber es ist offensichtlich, dass dann, wenn kein Teil der Gesellschaft mehr ein Interesse an dem Ausüben der Überwachung hat, mit ihrer Bedeutungslosigkeit auch die Funktion selbst verschwinden wird.
Die Tatsache, dass der Staat überlebt, beweist, dass diese gesellschaftlichen Konflikte weiterhin existieren. Er belegt, dass dieser relative Mangel an Gütern nicht überwunden ist, der eine sehr lange Periode der Menschheitsgeschichte kennzeichnet. Sie hat mit dem Stadium absoluter Armut (im Klan- oder Stammeskommunismus) begonnen und kann erst mit einer Situation des Überflusses enden, nämlich dem Sozialismus. Solange wir in dieser Übergangsphase sind, die etwa zehntausend Jahre der Menschheitsgeschichte umfasst und auch die Phase des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus einschließt, wird der Staat weiter existieren, wird es weiter gesellschaftliche Konflikte geben, und es wird Leute brauchen, die in diesen Konflikten im Interesse der herrschenden Klasse die Schiedsrichterrolle übernehmen.
Wenn der bürgerliche Staat im Wesentlichen ein Instrument im Dienst der herrschenden Klasse ist, heißt das, dass es der arbeitenden Klasse egal sein sollte, welche spezifische Form dieser Staat annimmt – parlamentarische Demokratie, Militärdiktatur, faschistische Diktatur? Natürlich nicht! Je mehr Freiheiten die Arbeiterinnen und Arbeiter für ihre Organisierung und die Verbreitung ihrer Vorstellungen nutzen können, umso mehr können im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft Keime der künftigen sozialistischen Gesellschaft entstehen und umso mehr wird die Durchsetzung des Sozialismus historisch erleichtert. Deshalb müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre demokratischen Rechte gegen alle Bestrebungen verteidigen, die sie zu beschneiden (Anti-Streikgesetze, Starker Staat …) oder gar auszulöschen (Faschismus) versuchen.