Oleg Shkoliar
Redaktionelle Vorbemerkung: Oleg Shkoliar ist Eisenbahner und arbeitet in Kiew für die Eisenbahner-Gewerkschaft VPZU, die der Konföderation Freier Gewerkschaften der Ukraine (KWPU) angehört. Mit Hilfe der Spenden von Ukraine-Solidarität (siehe Artikel unten) konnte die VPZU Anfang Februar 2023 einen Generator für umgesiedelte Familien von Gewerkschaftsmitgliedern anschaffen. Oleg hat sich mit dem nachstehenden, von uns redaktionell bearbeiteten Bericht über den Abbau von Arbeitsrechten in der Ukraine bedankt.
Wir Ukrainerinnen und Ukrainer leben in einem Kriegszustand. Neben der russischen Invasion im Februar 2022 sind wir mit einer weiteren Bedrohung konfrontiert. Seit März 2022 erleben wir auch einen umfassenden Angriff auf die Arbeitsrechte aller abhängig beschäftigten Menschen in der Ukraine.
Im März 2022, gleich zu Beginn des Krieges, verabschiedete die Werchowna Rada (das ukrainische Parlament) ein neues Gesetz „Über die Organisation der Arbeitsbeziehungen während des Kriegsrechts“. Es hatte zur Folge, dass bestimmte extreme Formen der Aushebelung von Arbeitsrech- ten gesetzliche Realität wurden.
Dieses Gesetz enthält nur sehr wenige Bestimmungen, die zur Stärkung der Ver- teidigungsfähigkeit des Staates im Kriegsfall beitragen. Es enthält aber mehrere Bestimmungen, die die Arbeitsrechte derer, die seit Beginn der Invasion im Einsatz an der Front sind, grundlegend untergraben.
„Aussetzung“ von Arbeitsverträgen
Dazu gehört insbesondere die „Aussetzung“ des Arbeitsvertrags. Demnach werden Arbeiter zwar nicht formell entlassen, aber sie arbeiten in Wirklichkeit nicht mehr für ihr Unternehmen und erhalten auch kein Arbeitsentgelt mehr von ihm. Den Firmeneigentümern ist es erlaubt, die Bestimmungen von Tarifverträgen einseitig und ohne Begründung aufzuheben. Damit zerstört dieses Gesetz die Grundlagen der Gewerkschaftsarbeit.
Solche Gesetze wurden zur unangenehmen Realität für Tausende von Menschen, die aktiv für einen demokratischen Wandel an ihren Arbeitsplätzen kämpfen. Selbst in Unternehmen, die für die Verteidigung der Ukraine von strategischer Bedeutung sind, wurden Arbeitsverhältnisse ohne jeglichen Grund ausgesetzt.
Eine weitere skandalöse Rechtsvorschrift ist das im Juli 2022 verabschiedete Gesetz „Über die Änderung einiger Gesetze der Ukraine zur Optimierung der Arbeitsverhältnisse“, das die Unternehmer von der Verpflichtung befreit, den für die Verteidigung ihres Landes mobilisierten Beschäftigten ein Durchschnittsgehalt zu zahlen.
Zerstörung kollektiven Arbeitsrechts
Darüber hinaus verabschiedete die Werchowna Rada im Sommer 2022 ein Gesetz, das die Arbeitsrechte der Beschäftigten in kleinen und mittleren Unternehmen (bis zu 250 Mitarbeitenden) erheblich einschränkt. Mit diesem Gesetz wurde ein separates System zur Regelung der Arbeitsbeziehungen in diesen Unternehmen eingeführt.
Nunmehr gilt der individuelle Arbeitsvertrag als das wichtigste Dokument zur Regelung der Arbeitsbeziehungen. Mit anderen Worten: Der Beschäftigte muss alle Einzelheiten seines Arbeitsverhältnisses persönlich mit dem Unternehmen aushandeln.
Das Arbeitsrecht wurde jedoch deshalb für den kollektiven Schutz der Arbeiterinnen und Arbeiter geschaffen, weil es unmöglich ist, alle Beschäftigungsbedingungen mit Unternehmen effektiv auszuhandeln.
„Null-Stunden-Verträge“
Eine weitere Neuerung, die während des Kriegsrechts eingeführt wurde, war die Einführung von „Verträgen ohne feste Arbeitszeiten“, die im Westen als „Null-Stunden-Verträge“ bekannt sind. Durch diese Art von Verträgen werden keine geregelten Arbeitszeiten mehr festgelegt, der Beschäf- tigte wird zu einer „abrufbaren Person“. Angeblich soll das Gesetz die Arbeit von Freiberuflern regeln, tatsächlich gilt es aber für alle Arten von Lohnarbeit.
Der Kampf für die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter begann schon vor dem Krieg. Die genannten Änderungen stehen in eklatantem Widerspruch zu den Bestrebungen einer europäischen Integration der Ukraine.
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Gewerkschaftliche Solidarität verstärken
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Spenden an: Internationale Solidarität e. V. Stichwort „Ukraine Solidarität“, IBAN: DE94 4306 0967 6049 1075 00
Namentliche Unterstützung: Bitte mit Vor- und Nachname, Ort, Gewerkschaft an Christian Haasen. Email: ukraine-solidaritaet et intersoz.org.
Bitte verbreitet den Aufruf zur Solidarität unter Euren Kolleginnen und Kollegen!
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