Ein Gespräch mit Bernd Köhler
Im September 2019 erschien Nachrichten vom Untergrund – der erste Band mit Liedern und Texten (1967-1990) des Mannheimer Musikers Bernd Köhler. Ende Mai 2021 wird der Folgeband HALT-LOS, mit dem Untertitel „Der zweite Anlauf, Lieder und Texte 1990 – 2020“ veröffentlicht. Wir wollten mehr erfahren und haben uns mit dem Verfasser unterhalten.*
Warum „Halt-Los“? Eine Bezugnahme auf das verordnete Stilllegen des realen Kulturlebens in Zeiten der Pandemie?
Haha, auf die Idee bin ich bis jetzt noch nicht gekommen. Vor allem, weil mir die Titel-Idee schon lange vor „Corona” kam. Andererseits bietet die pandemische Ausnahmesituation 2020/21 tatsächlich Parallelen zur weltpolitischen Ausnahmesitua- tion von 1990. Eingefahrene Strukturen werden unter dem Druck der Ereignisse zerbröselt und von perspektivischer Ungewissheit abgelöst. Eine klare Linie ergibt sich damals wie heute ersichtlich nur für das Kapital, das in die neuen Freiräume interveniert. Inklusive der schillernden parlamentarischen Möchtegern-Teilhaber, die vom Krisen-Kuchen auch etwas abhaben wollten.
„HALT-LOS, der Kanzler in China und 13 weitere große Gesänge” war der Titel einer radikalen Text/Musik-Collage, die ich 1989 zusammen mit Hans Reffert aufgeführt habe. Ein Programm, welches das damalige neue weltpolitische Zerreißfeld auf den Punkt brachte, aber auch signalisierte, dass nach einem „HALT” auch immer ein „LOS”, ein Neuanfang – wie ungewiss auch immer – kommt.
Waren die frühen 1990er Jahre mit der Ausplünderung der ostdeutschen Staatswirtschaft durch die Treuhand und das West-Kapital, den rassistischen Morden in ganz Deutschland und dem Zweiten Golfkrieg auch eine Zeit, um „den Wahnsinn zu besingen“?
„Den Wahnsinn zu besingen”, darauf hatten wir uns in dieser Zeit tatsächlich fokussiert, außerdem auf die Kraft des Künst- lerischen. Unsere Antwort auf den Zweiten Golfkrieg war zum Beispiel die Aufführung der „Todesfuge” von Celan.
Sinnbildlich für diese Zeit war aber auch, dass plötzlich kaum mehr Auftrittsanfragen aus den gewerkschaftlichen oder den linkspolitischen Bereichen kamen. Diese Agonie des Kritisch-Künstlerischen betraf übrigens nicht nur mich, sondern war durchgehend. Alles war in Auflösung bzw. in einer diffusen Neuorientierung zwischen kapitalistischer Heilsbotschaft und Resignation. Rückblickend nenne ich es das „bleierne Jahrzehnt”.
1999 – knapp 10 Jahre später - formierte sich ewo². Ein Bruch mit der alten musikalischen Vergangenheit und ein Aufbruch in eine neue Zukunft?
Unsere Aufführungen in den 90er Jahren fanden in wechselnden musikalischen Besetzungen statt. Meine Konstante dabei war die Zusammenarbeit mit Hans Reffert. Wir hatten eine ähnliche Sicht auf die Ereignisse und auf die sich daraus ergebenden, neuen künstlerischen Formen. Hörbarer und sichtbar bester Ausdruck dessen war dann 1999 das Programm „Howdo youdo Mr. Majakowski”, einer Multimedia-Inszenierung zum 70. Todestag des russischen Revolutionspoeten. Aus dieser Aufführung hat sich dann mit Hans und Christiane Schmied das erste ewo²-Ensemble herausgebildet. Das erste „kleine elektronische weltorchester” im Quadrat.
Mit der Gründung des AlstomChors 2003 hast Du Dich musikalisch wieder der arbeitenden Klasse zugewendet. Was hat Dich dazu motiviert und welche Spuren hat das hinterlassen?
Na ja, es war ja eher Zufall oder real betrachtet auch wieder nicht. Diese oft schon erzählte Geschichte, wie mich an einem Samstagmorgen Hartmut Siebenhaar auf der Straße angehauen hat, mit der Frage ob ich den Alstomern nicht ein Lied schreiben könnte, die bräuchten sowas jetzt, wo es ums Ganze geht. Meine erste Reaktion war, was soll ich den Leuten ein Lied schreiben, die ein Jahrzehnt lang kein Interesse an meinen Liedern gehabt hatten? Überzeugt hat mich dann die erlebte Situation im Betrieb, der sichtbare und spürbare damalige Widerstandswille. Das war so ungeheuerlich, dass ich mich dem nicht entziehen konnte. Es war das konkrete Erlebnis mit dem umkämpften Betrieb und den Leuten, die sich im Chor zusammenfanden, was mich wieder für die arbeitende Klasse reaktivierte.
Gemeinsam mit ewo² und anderen Künstlerinnen und Künstlern hast Du danach zahlreiche solidarische Projekte, Konzerte und Initiativen unterstützt. Damit nicht genug: Du hast – wenn ich das richtig sehe – seitdem mehr Platten als zuvor veröffentlicht. Wie ist diese sehr produktive Rastlosigkeit zu erklären?
Das Erlebnis von lebendiger Bewegung kann ja durchaus auch zu einem produktiven Output führen. Nicht unwichtig war aber auch unser neuer musikalischer Ansatz, der zu einer anderen Wertigkeit unserer Produktionen führte. Da war einfach alles auf dem Punkt, zeitgemäß, aktuell. Und es gab ein überregionales Interesse und Feedback für unsere Musik. Auch keine unwesentliche Motivation.
Als letztes kam dann im dritten Jahrzehnt auch die Gestaltung und Organisation künstlerischer Großveranstaltungen dazu, zum Beispiel die Solidaritätskonzerte für die Alstomer. Immer mit tollem Engagement des Chors. Oder „Vorwärts, doch nichts vergessen”, zur Geschichte der IG Metall, und als bisher letztes großes Projekt, „Oh Heiland, reiß die Himmel auf”, mein Beitrag zum Lutherjahr, konkret, zum Konflikt zwischen Luther und Müntzer. Viele der Veranstaltungen wurden möglich, weil die Mann- heimer IG Metall damals den Wert und die Sinnhaftigkeit dieser Art Kultur erkannte und unterstützte.
Was steht jetzt an? Eine „haltlose“ Fortsetzung des zweiten Anlaufs?
Ah, ich bin ja schon froh, dass wir mit ewo² am 1. Mai mal wieder live bei einer Kundgebung auftreten werden. Wie sich die Welt mit oder nach „Corona” neu sortiert, wird man sehen. Gerne würde ich wie beim ersten Liederbuch auch mit dem zweiten wieder auf Tour gehen um unsere radikale Sichtweise und Musik unter die Leute zu tragen. Anlass dafür gibt es ja genug.