HALT-LOS – der zwei­te Anlauf”

 

Ein Gespräch mit Bernd Köhler

Im Sep­tem­ber 2019 erschien Nach­rich­ten vom Unter­grund – der ers­te Band mit Lie­dern und Tex­ten (1967-1990) des Mann­hei­mer Musi­kers Bernd Köh­ler. Ende Mai 2021 wird der Fol­ge­band HALT-LOS, mit dem Unter­ti­tel „Der zwei­te Anlauf, Lie­der und Tex­te 1990 – 2020“ ver­öf­fent­licht. Wir woll­ten mehr erfah­ren und haben uns mit dem Ver­fas­ser unterhalten.*

Bernd Köhler bei der Soliaktion für die Belegschaft von Bombardier Mannheim, 17. März 2016 (Foto: helmut-roos@web.de)

Bernd Köh­ler bei der Soli­ak­ti­on für die Beleg­schaft von Bom­bar­dier Mann­heim, 17. März 2016 (Foto: helmut-roos@web.de)

War­um „Halt-Los“? Eine Bezug­nah­me auf das ver­ord­ne­te Still­le­gen des rea­len Kul­tur­le­bens in Zei­ten der Pandemie?
Haha, auf die Idee bin ich bis jetzt noch nicht gekom­men. Vor allem, weil mir die Titel-Idee schon lan­ge vor „Coro­na” kam. Ande­rer­seits bie­tet die pan­de­mi­sche Aus­nah­me­si­tua­ti­on 2020/21 tat­säch­lich Par­al­le­len zur welt­po­li­ti­schen Aus­nah­me­si­tua- tion von 1990. Ein­ge­fah­re­ne Struk­tu­ren wer­den unter dem Druck der Ereig­nis­se zer­brö­selt und von per­spek­ti­vi­scher Unge­wiss­heit abge­löst. Eine kla­re Linie ergibt sich damals wie heu­te ersicht­lich nur für das Kapi­tal, das in die neu­en Frei­räu­me inter­ve­niert. Inklu­si­ve der schil­lern­den par­la­men­ta­ri­schen Möch­te­gern-Teil­ha­ber, die vom Kri­sen-Kuchen auch etwas abha­ben wollten.

HALT-LOS, der Kanz­ler in Chi­na und 13 wei­te­re gro­ße Gesän­ge” war der Titel einer radi­ka­len Tex­t/­Mu­sik-Col­la­ge, die ich 1989 zusam­men mit Hans Ref­fert auf­ge­führt habe. Ein Pro­gramm, wel­ches das dama­li­ge neue welt­po­li­ti­sche Zer­reiß­feld auf den Punkt brach­te, aber auch signa­li­sier­te, dass nach einem „HALT” auch immer ein „LOS”, ein Neu­an­fang – wie unge­wiss auch immer – kommt.

Waren die frü­hen 1990er Jah­re mit der Aus­plün­de­rung der ost­deut­schen Staats­wirt­schaft durch die Treu­hand und das West-Kapi­tal, den ras­sis­ti­schen Mor­den in ganz Deutsch­land und dem Zwei­ten Golf­krieg auch eine Zeit, um „den Wahn­sinn zu besin­gen“?
„Den Wahn­sinn zu besin­gen”, dar­auf hat­ten wir uns in die­ser Zeit tat­säch­lich fokus­siert, außer­dem auf die Kraft des Künst- leri­schen. Unse­re Ant­wort auf den Zwei­ten Golf­krieg war zum Bei­spiel die Auf­füh­rung der „Todes­fu­ge” von Celan.

Sinn­bild­lich für die­se Zeit war aber auch, dass plötz­lich kaum mehr Auf­tritts­an­fra­gen aus den gewerk­schaft­li­chen oder den links­po­li­ti­schen Berei­chen kamen. Die­se Ago­nie des Kri­tisch-Künst­le­ri­schen betraf übri­gens nicht nur mich, son­dern war durch­ge­hend. Alles war in Auf­lö­sung bzw. in einer dif­fu­sen Neu­ori­en­tie­rung zwi­schen kapi­ta­lis­ti­scher Heils­bot­schaft und Resi­gna­ti­on. Rück­bli­ckend nen­ne ich es das „blei­er­ne Jahrzehnt”.

1999 – knapp 10 Jah­re spä­ter - for­mier­te sich ewo². Ein Bruch mit der alten musi­ka­li­schen Ver­gan­gen­heit und ein Auf­bruch in eine neue Zukunft?
Unse­re Auf­füh­run­gen in den 90er Jah­ren fan­den in wech­seln­den musi­ka­li­schen Beset­zun­gen statt. Mei­ne Kon­stan­te dabei war die Zusam­men­ar­beit mit Hans Ref­fert. Wir hat­ten eine ähn­li­che Sicht auf die Ereig­nis­se und auf die sich dar­aus erge­ben­den, neu­en künst­le­ri­schen For­men. Hör­ba­rer und sicht­bar bes­ter Aus­druck des­sen war dann 1999 das Pro­gramm „How­do you­do Mr. Maja­kow­ski”, einer Mul­ti­me­dia-Insze­nie­rung zum 70. Todes­tag des rus­si­schen Revo­lu­ti­ons­poe­ten. Aus die­ser Auf­füh­rung hat sich dann mit Hans und Chris­tia­ne Schmied das ers­te ewo²-Ensem­ble her­aus­ge­bil­det. Das ers­te „klei­ne elek­tro­ni­sche weltor­ches­ter” im Quadrat. 

Mit der Grün­dung des Als­tom­Chors 2003 hast Du Dich musi­ka­lisch wie­der der arbei­ten­den Klas­se zuge­wen­det. Was hat Dich dazu moti­viert und wel­che Spu­ren hat das hinterlassen?
Na ja, es war ja eher Zufall oder real betrach­tet auch wie­der nicht. Die­se oft schon erzähl­te Geschich­te, wie mich an einem Sams­tag­mor­gen Hart­mut Sie­ben­haar auf der Stra­ße ange­hau­en hat, mit der Fra­ge ob ich den Als­to­mern nicht ein Lied schrei­ben könn­te, die bräuch­ten sowas jetzt, wo es ums Gan­ze geht. Mei­ne ers­te Reak­ti­on war, was soll ich den Leu­ten ein Lied schrei­ben, die ein Jahr­zehnt lang kein Inter­es­se an mei­nen Lie­dern gehabt hat­ten? Über­zeugt hat mich dann die erleb­te Situa­ti­on im Betrieb, der sicht­ba­re und spür­ba­re dama­li­ge Wider­stands­wil­le. Das war so unge­heu­er­lich, dass ich mich dem nicht ent­zie­hen konn­te. Es war das kon­kre­te Erleb­nis mit dem umkämpf­ten Betrieb und den Leu­ten, die sich im Chor zusam­men­fan­den, was mich wie­der für die arbei­ten­de Klas­se reaktivierte.

Gemein­sam mit ewo² und ande­ren Künst­le­rin­nen und Künst­lern hast Du danach zahl­rei­che soli­da­ri­sche Pro­jek­te, Kon­zer­te und Initia­ti­ven unter­stützt. Damit nicht genug: Du hast – wenn ich das rich­tig sehe – seit­dem mehr Plat­ten als zuvor ver­öf­fent­licht. Wie ist die­se sehr pro­duk­ti­ve Rast­lo­sig­keit zu erklä­ren?
Das Erleb­nis von leben­di­ger Bewe­gung kann ja durch­aus auch zu einem pro­duk­ti­ven Out­put füh­ren. Nicht unwich­tig war aber auch unser neu­er musi­ka­li­scher Ansatz, der zu einer ande­ren Wer­tig­keit unse­rer Pro­duk­tio­nen führ­te. Da war ein­fach alles auf dem Punkt, zeit­ge­mäß, aktu­ell. Und es gab ein über­re­gio­na­les Inter­es­se und Feed­back für unse­re Musik. Auch kei­ne unwe­sent­li­che Motivation.

Als letz­tes kam dann im drit­ten Jahr­zehnt auch die Gestal­tung und Orga­ni­sa­ti­on künst­le­ri­scher Groß­ver­an­stal­tun­gen dazu, zum Bei­spiel die Soli­da­ri­täts­kon­zer­te für die Als­to­mer. Immer mit tol­lem Enga­ge­ment des Chors. Oder „Vor­wärts, doch nichts ver­ges­sen”, zur Geschich­te der IG Metall, und als bis­her letz­tes gro­ßes Pro­jekt, „Oh Hei­land, reiß die Him­mel auf”, mein Bei­trag zum Luther­jahr, kon­kret, zum Kon­flikt zwi­schen Luther und Münt­zer. Vie­le der Ver­an­stal­tun­gen wur­den mög­lich, weil die Mann- hei­mer IG Metall damals den Wert und die Sinn­haf­tig­keit die­ser Art Kul­tur erkann­te und unterstützte.

Was steht jetzt an? Eine „halt­lo­se“ Fort­set­zung des zwei­ten Anlaufs?
Ah, ich bin ja schon froh, dass wir mit ewo² am 1. Mai mal wie­der live bei einer Kund­ge­bung auf­tre­ten wer­den. Wie sich die Welt mit oder nach „Coro­na” neu sor­tiert, wird man sehen. Ger­ne wür­de ich wie beim ers­ten Lie­der­buch auch mit dem zwei­ten wie­der auf Tour gehen um unse­re radi­ka­le Sicht­wei­se und Musik unter die Leu­te zu tra­gen. Anlass dafür gibt es ja genug.


*[Die Fra­gen stell­te W. A., Bernd Köh­ler ant­wor­te­te am 25. April 2021. Es lohnt lohnt sich auch heu­te noch, die frü­he­ren Inter­views mit Bernd nach­zu­le­sen: 30.10.2018 und 27.02.2020].

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Mai 2021
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