Mei­ne Erleb­nis­se mit Hartz-IV

Oder: Wie es sich am Ran­de der Gesell­schaft lebt (Teil I)

 

Ange­fan­gen hat­te es im März 2011. Ich wur­de arbeits­los. Ein schwe­res Los. Damals war mir nicht klar, wie es sich anfühlt, nicht mehr zu arbei­ten. Erst dach­te ich, wer Arbeit sucht, der fin­det auch eine. Doch ich wur­de eines Bes­se­ren belehrt.

R.G.

Seit 1970 habe ich ohne Unter­bre­chung gear­bei­tet. Hartz-IV ist ein Wort, das die Betrof­fe­nen ungern aus­spre­chen, weil mensch sich des­we­gen schämt. Zu oft ist die­ser Begriff in die Nega­tiv-Schlag­zei­len geraten.

Mein ers­ter Ein­druck beim Job­cen­ter war nicht nega­tiv. Auf­grund mei­ner Qua­li­fi­ka­ti­on (Fach­ar­bei­ter­brief, meh­re­re Staats­exami­na und diver­se Fort­bil­dun­gen) mein­te der Sach­be­ar­bei­ter zu mir: „Sie fin­den schnell wie­der eine neue Stelle.“
Zwar teil­te ich die­se Hoff­nung, aber ich hat­te auch mei­ne Zwei­fel. Denn das, was ich dort sah, war alles ande­re als auf­bau­end. Die Men­schen, die ich dort traf, mach­ten teil­wei­se einen furcht­bar mit­ge­nom­me­nen Ein­druck. Einer­seits von der Klei­dung her, ande­rer­seits waren ihre Gesichts­audrü­cke ein­fach leer. Jedes Lebens­zei­chen schien erlo­schen zu sein. Ich war schockiert.

Weil ich fast zwan­zig Jah­re eine eige­ne Pra­xis hat­te, in der vier Mit­ar­bei­ter beschäf­tigt waren, dach­te ich den­noch, schnell wie­der einen Job zu fin­den. Ich hat­te damals oft bis 21 Uhr 30 gear­bei­tet. Mei­ne Ehe ging dann in die Brü­che, und um die Schei­dungs­kos­ten finan­zie­ren zu kön­nen, nahm ich einen Kol­le­gen als Teil­ha­ber in die Pra­xis auf. Die­ser dach­te jedoch gar nicht dar­an, sich zu eta­blie­ren, son­dern mach­te sich nach zwei Jah­ren aus dem Staub. Alles das muss­te ich mei­nem Sach­be­ar­bei­ter erzählen.
Beim Ver­las­sen des Job­cen­ters fie­len mir die vie­len Sicher­heits­leu­te auf. Spä­ter erfuhr ich, dass so manch ein Hartz-IV-Emp­fän­ger dort aus­ge­ras­tet ist. Dies ist auch nicht ver­wun­der­lich, denn du bist der Behör­de auf Gedeih und Ver­derb ausgeliefert.

Das wich­tigs­te ist, dass du immer Ja sagst. Ein­mal hat­te mich eine Sach­be­ar­bei­te­rin raus­ge­schmis­sen, als ich ver­such­te ihr zu erklä­ren, dass wir ja alle unse­re Arbeits­kraft ver­kau­fen – bis auf die Kapi­ta­lis­ten. Mit dem Lohn, den wir als Pro­du­zen­ten bekom­men, kau­fen wir den Kapi­ta­lis­ten die Waren ab, die wir selbst pro­du­ziert haben. Sie lief knall­rot an und hol­te die Wach­leu­te. Es sind in der Regel vier von ihnen da.
In die­sen Cen­tern herrscht oft ein Zustand der Über­heb­lich­keit. So eini­ge der dort täti­gen Per­so­nen könn­te ich mir gut als “Gau­lei­ter” vorstellen.
Nach der anfäng­li­chen Hoff­nung, wur­de mein Opti­mis­mus immer gerin­ger. So ver­ging die Zeit von Woche zu Woche: zur Job­bör­se, Bewer­bung abho­len, im Job­cen­ter Bewer­bung schrei­ben las­sen, nach drei Tagen Bewer­bung abschi­cken, warten.

Die­je­ni­gen, die Dir die Bewer­bun­gen schrei­ben, sind die Här­tes­ten. Ich erleb­te ein­mal, wie ich mei­ne Stel­len­aus­schrei­bung abgab, mit der Bit­te es für mich zu tun. Die Sach­be­ar­bei­te­rin schau­te mich an und sag­te, ich sol­le mor­gen wie­der kom­men. Danach dreh­te sie sich um. Auf ihrer Com­pu­ter-Tas­ta­tur lagen noch die Res­te ihres Früh­stücks. Als ich pro­tes­tier­te, kam schon ein Wach­mann auf mich zu. Du hast kei­ne Chan­ce, da Du jeder­zeit mit Sank­tio­nen rech­nen musst.

Nach­dem die Absa­gen sich häuf­ten und über­haupt nichts pas­sier­te, ging es mir immer schlech­ter. Mei­ne Hoff­nungs­lo­sig­keit wur­de immer grö­ßer. Hat­te ich mir doch so vie­le Mög­lich­kei­ten ausgerechnet. 
Wenn Du 43 Jah­re unun­ter­bro­chen gear­bei­tet hast und dies gewohnt bist, musst Du erst ler­nen, mit die­ser abrup­ten Ände­rung dei­ner Situa­ti­on umzu­ge­hen. Bevor Du in Ren­te gehst, kannst Du dich dar­auf ein­stel­len. Du weißt, es sind noch so und so vie­le Tage, dann ist es soweit. Bei Arbeits­lo­sig­keit ist das anders.

Um von dem monat­li­chen Arbeits­lo­sen­geld II von 391 € minus 76 € für Strom und Tele­fon – also von 315 € – leben zu kön­nen, ging ich zur Tafel, um einzukaufen. 
Oh Schreck lass nach! Da stan­den die Armen alle in einer Rei­he und war­te­ten, bis die Tür sich öff­ne­te. Auf mei­ne Fra­ge, war­um wir hier war­ten müs­sen, kam die Ant­wort, wir war­ten auf die Lie­fe­rung. Dies kann lan­ge dau­ern, je nach­dem, was sie an Res­ten bekommen.
Du stehst also in einer lan­gen Schlan­ge, manch­mal bis zu zwei Stun­den. Du musst die Bli­cke der ande­ren ertra­gen, die nicht auf die Tafel ange­wie­sen sind. Leu­te, die 45 Jah­re bei Benz gear­bei­tet haben, nie eine Fort­bil­dung besucht haben, fah­ren an Dir vor­bei und schau­en von oben her­ab auf Dich her­un­ter. Natür­lich sind die­se Arbei­ter, die ein gan­zes Leben geschuf­tet haben, nicht die Ver­ant­wort­li­chen für das Pro­blem. Die „Agen­da 2010“ hat die­se Armut ver­schärft, um dem EU-Ver­trag von Lis­sa­bon gerecht zu werden.

Beim War­ten spre­che ich vie­le Leu­te an. Die meis­ten spre­chen nur sehr schlecht Deutsch. So kom­me ich kaum in einen enge­ren Kon­takt. In der Schlan­ge ste­hen vie­le Kin­der­wa­gen da – ohne Kin­der. Sie die­nen als Ein­kaufs­wa­gen, um viel mit­neh­men zu kön­nen. Als sich die Tür öff­net, wird der Laden regel­recht gestürmt. Sie kau­fen, was der Laden her­gibt, und ich, der hier neu ist, wer­de zur Sei­te gedrängt, angerempelt.
Waren, die ich in mei­nen Korb lege, sind plötz­lich weg. Ich muss mich erst dar­an gewöh­nen, dass hier das Gesetz des Stär­ke­ren gilt.

Beson­ders Migran­tin­nen ken­nen sich da aus. Sobald der Kin­der­wa­gen voll ist, wer­den sie von ihren Män­nern abge­holt. Ich glau­be nicht, das sie alles ver­wer­ten kön­nen, denn das Halt­bar­keits­da­tum der Lebens­mit­tel ist zum Teil schon lan­ge über­schrit­ten. Es ist eher wohl anzu­neh­men, dass sie damit Freun­de unter­stüt­zen, denen der Lohn nicht zum Leben reicht. 
Auch brauchst Du einen Hartz-IV Bescheid, um einen Aus­weis zu bekom­men, der dich dort zum Ein­kau­fen befugt.

Oft sind Kin­der im Laden dabei. Wenn ich die letz­te Tafel Scho­ko­la­de in mei­nen Ein­kaufs­korb legen konn­te und Kin­der das sahen, dann beka­men sie von mir die Scho­ko­la­de. Die Müt­ter waren immer dafür dank­bar, und ich hat­te ein Zei­chen gegen Frem­den­feind­lich­keit gesetzt.
Wir wol­len kei­ne Tafeln, wir wol­len eine Arbeit, von deren Geld wir leben kön­nen. Wir schä­men uns alle bei den Tafeln, beson­ders die Älte­ren, die von ihrer Ren­te nicht leben kön­nen. Oft habe ich eine älte­re Frau an die Hand genom­men und bin mit ihr in den Laden gegan­gen. Hier unten sol­che Zustän­de, und bei denen da oben, den Rei­chen, Schot­ter und Gier ohne Ende.

Fort­set­zung folgt.

aus der Rhein-Neckar Bei­la­ge zur Avan­ti 233, Mai 2015
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