Glo­ba­ler Kapi­ta­lis­mus ohne Alter­na­ti­ve? (Teil 1)

 

Abdruck des ers­ten Teils eines wei­te­ren Refe­ra­tes, das auf unse­rem Semi­nar zu „Stra­te­gie-und-Tak­tik“ am 23. April 2016 in Mann­heim gehal­ten wor­den ist.


U.D.

The­re ist no alter­na­ti­ve“1
„Kapi­ta­lis­mus ist die legi­ti­me Gau­ne­rei der herr­schen­den Klas­se.“ 2
„Es herrscht Klas­sen­krieg, rich­tig, aber es ist mei­ne Klas­se, die Klas­se der Rei­chen, die Krieg führt, und wir gewin­nen.“ 3

Der glo­ba­li­sier­te und welt­um­span­nen­de Kapi­ta­lis­mus scheint unan­ge­foch­te­ner denn je zu sein.
Die schwe­re Welt­wirt­schafts­kri­se 2008/2009 hat­te die kapi­ta­lis­ti­sche Welt zwar erschüt­tert und die neo­li­be­ra­le Ideo­lo­gie in Fra­ge gestellt, aber weder bei der herr­schen­den Klas­se zu einer grund­sätz­li­chen Abkehr vom Neo­li­be­ra­lis­mus geführt noch bei den beherrsch­ten Klas­sen zu einer brei­ten Debat­te über gesell­schaft­li­che Alter­na­ti­ven zum Kapitalismus.

Im Gegen­teil: Kaum gebremst ver­su­chen die Herr­schen­den und ihre „poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­ge­rIn­nen“ in nahe­zu allen ent­wi­ckel­ten kapi­ta­lis­ti­schen Staa­ten, die welt­wei­te Pro­fit­ma­schi­ne wei­ter auf Kurs zu hal­ten. Zum Bei­spiel durch fort­ge­setz­te Angrif­fe auf Sozi­al­stan­dards oder durch natio­na­le und län­der­über­grei­fen­de Dere­gu­lie­rung – ins­be­son­de­re bezüg­lich der Sozi­al- und Arbeits­ge­set­ze sowie der „Wirt­schafts- und Han­dels­hemm­nis­se“ (wie wir es bei den Hartz-Geset­zen erle­ben muss­ten und aktu­ell bei TTIP/CETA/TISA sehen).

Der welt­wei­te Kapi­ta­lis­mus ver­leibt sich offen­bar unauf­halt­sam die gesam­te Welt ein:
-    In den letz­ten 25 Jah­ren hat er einst „ver­lo­re­ne“ Gebie­te zurück­er­obern kön­nen: Die ehe­ma­li­ge Sowjet­uni­on ist zer­fal­len und ihre Zer­falls­pro­duk­te ein­schließ­lich Russ­land sind Teil des „frei­en“ Welt­mark­tes gewor­den. Chi­na wird zwar wei­ter­hin von einer büro­kra­ti­schen Dik­ta­tur der „Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei“ Chi­nas beherrscht, ist aber eben­falls längst Teil der kapi­ta­lis­ti­schen Welt geworden.

-    Die Euro­päi­sche Uni­on konn­te sich und ihren Ein­fluss auf fast ganz Euro­pa aus­deh­nen, bis weit in das ehe­mals von Russ­land domi­nier­te Gebiet hin­ein. Gera­de auch das deut­sche Kapi­tal ist, in Abwand­lung eines Sat­zes von Clau­se­witz’, mit der Fort­set­zung des Krie­ges mit öko­no­mi­schen Mit­teln sei­nem alten Traum eines ver­ein­ten Euro­pas unter deut­scher Vor­herr­schaft wesent­lich näher gekommen.

Die Fol­gen die­ser Ent­wick­lung sind ver­hee­rend, denn die inne­ren Wider­sprü­che des welt­wei­ten Kapi­ta­lis­mus, die zu ver­schärf­ter Kon­kur­renz, zum Zwang zu unge­brems­ten „Wachs­tum“ und zu Pro­fit­ma­xi­mie­rung sowie zur Aus­plün­de­rung von Mensch und Natur füh­ren, bestehen unver­än­dert fort oder haben sich verstärkt.

Aus­druck davon ist die gro­ße Zahl von Kri­sen und kri­sen­haf­ten Ent­wick­lun­gen, mit denen die Mensch­heit welt­weit in den letz­ten Jah­ren kon­fron­tiert war und ist. Sie berüh­ren nahe­zu alle Lebens­be­rei­che: die öko­no­mi­sche Kri­se des inter­na­tio­na­len Kapi­ta­lis­mus („Finanz­kri­se“), die öko­lo­gi­sche, die sozia­le und die Ernäh­rungs-Kri­se, sowie die Mili­ta­ri­sie­rung und Krie­ge und – nicht zuletzt – die kul­tu­rel­le Krise.

Die Dyna­mik und Tie­fe die­ser Kri­sen, die sich gegen­sei­tig ver­stär­ken, zeigt sich ganz dra­ma­tisch an der Ver­ar­mung und Ver­elen­dung von hun­der­ten Mil­lio­nen Men­schen. Vor allem in den nicht­in­dus­tria­li­sier­ten Staa­ten und Regio­nen die­ser Erde, aber auch in den rei­chen impe­ria­lis­ti­schen Metro­po­len. Nicht zuletzt sind rund 60 Mil­lio­nen geflüch­te­te Men­schen eine Fol­ge die­ser Entwicklung.

Der „Sie­ges­zug“ des Neoliberalismus
Die heu­ti­ge Situa­ti­on ist nicht zu tren­nen vom „Sie­ges­zug“ des Neo­li­be­ra­lis­mus in den letz­ten Jahr­zehn­ten und des­sen ver­hee­ren­den Fol­gen für das All­tags­le­ben und das Bewusst­sein der gesam­ten Gesell­schaft, ins­be­son­de­re der ArbeiterInnenklasse.

Nach dem II. Welt­krieg gelang es den neo­li­be­ra­len Vor­den­kern, sich sys­te­ma­tisch im Bereich von Poli­tik, Medi­en und Wirt­schaft zu ver­an­kern. Dabei war die 1947 gegrün­de­te Mont-Pele­rin-Socie­ty ein wesent­li­cher Fak­tor bei der Ver­brei­tung die­ser Ideologie.

Dies gelang jedoch nur auf­grund des Zusam­men­wir­kens ver­schie­de­ner Faktoren:
-    Der schwe­ren Nie­der­la­gen der Arbei­te­rIn­nen­klas­se in Deutsch­land und Euro­pa in der ers­ten Hälf­te des letz­ten Jahr­hun­derts. Die­se Nie­der­la­gen führ­ten nicht nur zu einem Nie­der­gang der revo­lu­tio­nä­ren und sozia­lis­ti­schen Ideen, son­dern auch zu einer poli­ti­schen Dege­ne­ra­ti­on und beschleu­nig­ten Inte­gra­ti­on der Orga­ni­sa­tio­nen, Par­tei­en und Gewerk­schaf­ten der arbei­ten­den Klas­se in den bür­ger­li­chen Staat.

-    Die Wirt­schafts­kri­sen der 1970er Jah­re, deren Kos­ten sei­tens des Kapi­tals trotz zahl­rei­cher Abwehr­kämp­fe erfolg­reich auf die inter­na­tio­na­le Arbei­te­rIn­nen­klas­se abge­wälzt wer­den konn­ten. Die in die­ser his­to­ri­schen Pha­se statt­fin­den­den Nie­der­la­gen (Latein­ame­ri­ka, USA, Ita­li­en, Eng­land, Deutsch­land) der ArbeiterInnenbewegung.

-    Mit gro­ßen Geld­sum­men (wahr­schein­lich hun­der­te Mil­lio­nen US-Dol­lar) wur­de die neo­li­be­ra­le Idee ver­brei­tet, publi­ziert und gelehrt.

Neo­li­be­ra­lis­mus ist „Klas­sen­krieg“
In Chi­le konn­ten die soge­nann­ten Chi­ca­go Boys unter Fried­rich Hay­ek und Mil­ton Fried­mann nach dem Mili­tär­putsch 1973 und unter Pino­chets Dik­ta­tur einen ers­ten gesell­schaft­li­chen „Groß­ver­such“ mit ihren neo­li­be­ra­len Ideen durch­füh­ren. Die­ser war ver­bun­den mit einer bru­ta­len Unter­drü­ckung der Arbei­te­rIn­nen­be­we­gung und ihrer Orga­ni­sa­tio­nen durch das Mili­tär und hat­te ver­hee­ren­de Fol­gen für die Lebens­si­tua­ti­on der chi­le­ni­schen Arbei­te­rIn­nen und Bau­ern bzw. Bäuerinnen.

Nicht viel spä­ter folg­ten die USA unter Rea­gan und Groß­bri­tan­ni­en unter That­cher. Es gab jeweils hef­ti­ge Klas­sen­kämp­fe, die mit Nie­der­la­gen der Arbei­te­rIn­nen­be­we­gung ende­ten: in den USA der PATCO-Flug­lot­sen­streik von 1981 und in Groß­bri­tan­ni­en 1984/85 der Berg­ar­bei­ter­streik. Bei­de wur­den mit äußers­ter Här­te geführt. Es kam zum Ein­satz mas­si­ver Poli­zei­ge­walt. Trotz gro­ßer inter­na­tio­na­ler Soli­da­ri­tät gin­gen die­se Kämp­fe ver­lo­ren. Die jewei­li­gen Regie­run­gen sieg­ten und mit ihnen das neo­li­be­ra­le Pro­jekt der herr­schen­den Klasse.

Mit­te der 1970er Jah­re erfass­te eine öko­no­mi­sche Kri­se die BRD. Es folg­te der „Spar­kurs“ der SPD/FDP unter Kanz­ler Schmidt (Poli­tik „sozia­ler Grau­sam­kei­ten“). 1982 kam es in Deutsch­land zum Regie­rungs­wech­sel. Unter Kanz­ler Kohl regier­te nun eine Koali­ti­on aus CDU/CSU/FDP. Hel­mut Kohl for­der­te eine „geis­tig mora­li­sche Wen­de“. Graf Lamb­s­dorff (FDP) ver­öf­fent­lich­te ein Papier, in dem vie­le sozia­le und poli­ti­sche Grau­sam­kei­ten gegen die Arbei­te­rIn­nen­klas­se und zu Guns­ten des Kapi­tals gefor­dert wur­den, die (zum Teil erst) in fol­gen­den Jahr­zehn­ten umge­setzt wur­den – Dere­gu­lie­rung des Arbeits­mark­tes, Ver­rin­ge­rung staat­li­cher Sozi­al­leis­tun­gen und so wei­ter. Für den Erfolg des Neo­li­be­ra­lis­mus in Deutsch­land war dies eine sehr wich­ti­ge Zeit.

Aller­dings war damals die Wider­stands­kraft der poli­ti­schen und sozia­len Orga­ni­sa­tio­nen und Initia­ti­ven, der Gewerk­schaf­ten und Betriebs­rä­te grö­ßer als erwar­tet. Mit gro­ßen Mobi­li­sie­run­gen wur­den Arbeits­zeit­ver­kür­zun­gen erstreikt, gegen Anti­streik­pa­ra­gra­fen und Sozi­al­ab­bau sowie die wei­te­re Auf­rüs­tung der BRD mobilisiert.

Die eigent­li­che neo­li­be­ra­le Wen­de in Deutsch­land konn­te erst von der Par­tei umge­setzt wer­den, die in enger Bin­dung zum gewerk­schaft­li­chen Appa­rat und des­sen Spit­ze stand – der Sozi­al­de­mo­kra­tie. Es war die SPD unter Schrö­der, die in Koali­ti­on mit den Grü­nen und mit Unter­stüt­zung der Gewerk­schafts­füh­run­gen ab Ende der 1990er Jah­re die „Agen­da-2010-Poli­tik“ betrieb. Sie führ­te unter ande­rem zu wei­te­rer Fle­xi­bi­li­sie­rung des Arbeits­mark­tes, zu den Hartz-Geset­zen und zur beschleu­nig­ten Aus­höh­lung der sozia­len Siche­rungs­sys­te­me. Ihre Fol­gen müs­sen wir bis heu­te in viel­fäl­ti­ger Wei­se spü­ren und erleiden.

1 Das TINA-Prin­zip (Abkür­zung von „The­re is no alter­na­ti­ve“, deutsch: „Es gibt kei­ne Alter­na­ti­ve“) stammt von der „eiser­nen Lady“ Mar­ga­ret That­cher. Sie ver­folg­te im Eng­land der 1980er Jah­re einen har­ten neo­li­be­ra­len und anti­ge­werk­schaft­li­chen Kurs. 1984/84 „besieg­te“ sie die strei­ken­den Berg­ar­bei­ter und füg­te damit der gesam­ten eng­li­schen Arbei­te­rIn­nen­klas­se eine schwe­re Nie­der­la­ge bei.
2 Al Capo­ne war ein - nicht zuletzt durch Gangs­ter-Fil­me auch heu­te immer noch bekann­ter - Ver­bre­cher in den USA der 1920er Jahre.
3 War­ren Buf­fet ist laut der aktu­el­len „For­bes-Lis­te“ mit ca. 60 Mrd. USD der dritt­reichs­te Mensch der Welt.
aus der Rhein-Neckar Bei­la­ge zur Avan­ti 245, Juni 2016
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