Staats­rä­son? – Ein Fei­gen­blatt für den feh­len­den Bruch mit dem Faschismus

 

O. T.

Nach dem blu­ti­gen Über­fall der Hamas und ande­rer Grup­pen auf Isra­el am 7. Okto­ber 2023 stell­te Bun­des­kanz­ler Scholz am 17.10.2023 fest: „Die deut­sche Geschich­te und unse­re aus dem Holo­caust erwach­se­ne Ver­ant­wor­tung machen es uns zu unse­rer Auf­ga­be, für die Exis­tenz und die Sicher­heit des Staa­tes Isra­el einzustehen.“

Demo gegen Nahostkrieg in Mannheim, 24. Februar 2024. (Foto: Avanti².)

Demo gegen Nah­ost­krieg in Mann­heim, 24. Febru­ar 2024. (Foto: Avanti².)

Das gilt nach einem Beschluss des Bun­des­ta­ges sogar als Staats­rä­son. Das Über­le­ben und die Sicher­heit des Staa­tes Isra­el wird, unab­hän­gig von sei­ner poli­ti­schen Ver­fasst­heit und sei­nen poli­ti­schen Zie­len, zur nicht antast­ba­ren Leit­li­nie deut­scher Poli­tik gemacht.

Das geht soweit, dass der Krieg zwi­schen Isra­el und den Paläs­ti­nen­sern mit bis­her über 40.000 Toten und noch mehr Ver­letz­ten – vor allem auf paläs­ti­nen­si­scher Sei­te – von der Mehr­heit der deut­schen Par­tei­en als zuläs­si­ge Ver­tei­di­gungs­maß­nah­me gegen den bru­ta­len Angriff von Hamas und ande­ren am 7.10.2023 gerecht­fer­tigt wird.

Die deut­sche Soli­da­ri­tät für Isra­el unter­stützt damit die Poli­tik der rechts­ra­di­ka­len bis faschis­ti­schen Regie­rung in Isra­el, deren erklär­tes Ziel die Zer­stö­rung der Lebens­grund­la­gen und die Ver­trei­bung der paläs­ti­nen­si­schen Bevöl­ke­rung aus ihrer Hei­mat ist. Da darf es nicht wun­dern, dass sich auch die AfD zu den Unter­stüt­zern Isra­els zählt.

Das Argu­ment, es gehe bei die­ser Soli­da­ri­tät mit Isra­el allein um die aus dem Holo­caust erwach­se­ne Ver­ant­wor­tung Deutsch­lands, ist schein­hei­lig, wie der Blick in die Ver­gan­gen­heit zeigt.

Schein­hei­lig­keit statt Verantwortung
Statt im Nach­kriegs­deutsch­land die Ver­ant­wort­li­chen für den bei­spiel­lo­sen Mas­sen­mord an den Jüdin­nen und Juden zu ver­fol­gen und scho­nungs­los zu ver­ur­tei­len, sorg­ten Poli­tik, Jus­tiz, Wirt­schaft und Gesell­schaft dafür, dass die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit der Täter nicht zur Ver­ant­wor­tung gezo­gen wurde.

Die bedeu­tends­ten Pro­zes­se der deut­schen Jus­tiz gegen Nazis fan­den erst 20 Jah­re nach Kriegs­en­de statt. Gegen die meis­ten der rund 250.000 Täter des Holo­caust ist gar nicht erst ermit­telt wor­den. Fast alle der etwa 90.000 Ermitt­lun­gen wur­den ein­ge­stellt. Ein­ge­lei­tet und durch­ge­führt wur­den nur ein paar hun­dert Verfahren.

Um als Mör­der ver­ur­teilt zu wer­den, muss­ten gemäß § 211 Straf­ge­setz­buch (StGB) Mord­lust, Freu­de an Tötun­gen, Heim­tü­cke, Grau­sam­keit oder ande­re nied­ri­ge Beweg­grün­de indi­vi­du­ell nach­ge­wie­sen wer­den. Wenn die­se Merk­ma­le fehl­ten, Mor­de also teil­nahms­los, in Aus­übung von beruf­li­chen Pflich­ten, aus Ver­ant­wor- tung gegen­über Vor­ge­setz­ten ohne indi­vi­du­el­les Zutun aus­ge­übt wur­den, war eine vor­sätz­li­che Tötung kein Mord, son­dern nur Tot­schlag. Bei 80 Pro­zent der Mör­der stell­ten die Rich­ter nur „Pflicht­er­fül­lung beim Töten“ fest.

Der § 211 StGB galt in der Fas­sung vom 4. Sep­tem­ber 1941. Erst Mit­te der 2010er Jah­re wur­de er geän­dert. Das Grund­ge­setz (GG) schloss in § 103 Abs. 2 sogar aus­drück­lich rück­wir­ken­des Recht aus: „Eine Tat kann nur bestraft wer­den, wenn die Straf­bar­keit gesetz­lich bestimmt war, bevor die Tat began­gen wur­de.“ Der Holo­caust konn­te also mit Hil­fe des GG nach dem Krieg nur auf der Basis des im Faschis­mus gel­ten­den, vor dem Holo­caust ver­ab­schie­de­ten § 211 StGB, ver­folgt werden.

Amnes­tie für die Täter
Aber damit nicht genug. Im Okto­ber 1968 beschloss der Bun­des­tag, dass alle Taten unter dem Titel „Bei­hil­fe zum Mord“ nach 15 Jah­ren als ver­jährt gal­ten. Das bedeu­te­te: Am 8. Mai 1960 waren alle Taten ver­jährt, die mit einer Haft­zeit von 15 Jah­ren bedroht waren, also auch der Tot­schlag und die Bei­hil­fe dazu. Dies galt auch für den lan­ge Jah­re vor­be­rei­te­ten Pro­zess gegen die Ange­hö­ri­gen der Gesta­po, der 1968 begin­nen soll­te, dann aber auf­grund der Ver­jäh­rungs­klau­sel platz­te. Die zum dama­li­gen Zeit­punkt noch leben­den 70.000 Gesta­po­leu­te waren dadurch amnestiert.

In den ers­ten Jah­ren der BRD waren also Ver­drän­gen und Ver­tu­schen der Ver­bre­chen des deut­schen Faschis­mus ange­sagt. Das änder­te sich erst durch die „Stu­den­ten­be­we­gung“ Mit­te der 1960er Jah­re. Die durch sie geför­der­te Auf­klä­rung über die brau­ne Ter­ror­dik­ta­tur war zwar real, aber sie reich­te nicht aus, um den faschis­ti­schen Sumpf tro­cken zu legen.

Die als Dog­ma ver­kün­de­te deut­sche Staats­rä­son ist ein dür­res Fei­gen­blatt. Sie tabui­siert und kri­mi­na­li­siert berech­tig­te Kri­tik an der israe­li­schen Regie­rung und deren völ­ker- und men­schen­rechts­wid­ri­ger Kriegs­füh­rung. Sie unter­stützt tat­kräf­tig das Andau­ern des Mor­dens, der Ver­trei­bun­gen und der Zer­stö­run­gen im Nahen Osten mit der anhal­ten­den Lie­fe­rung von Waf­fen und Muni­ti­on an das Regime Netan­ja­hus. Dem gilt es, Ein­halt zu gebieten.

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Novem­ber 2024
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