Illusionen in der Öffnungseuphorie
N.B.
Die Infektionszahlen sinken seit Wochen, 35 Land- und Stadtkreise verzeichneten in den letzten sieben Tagen keine einzige Neuinfektion (Stand 08.07.). Ist #ZeroCovid damit am Ziel und als Kampagne überflüssig?
Die Initiative #ZeroCovid Rhein-Neckar diskutiert weiterhin zweiwöchentlich online über die aktuelle Lage und mögliche Aktivitäten. Laut dem IHME-Institut der Universität Washington sind bisher mehr als 100.000 Menschen allein in Deutschland und weltweit mehr als 7 Millionen an dem Virus gestorben.
10-15 Prozent der COVID-19-Erkrankten leiden an Spätfolgen (Post Covid) wie extremer Erschöpfung, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche, Atemnot, dem Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns sowie psychischen Folgen. Ob und wann diese geheilt werden, ist derzeit noch völlig ungewiss. Viel Tod und Leid hätte verhindert werden können, wäre früh eine ZeroCovid-Strategie gefahren worden.
Doch weder die Pandemie noch die soziale und wirtschaftliche Krise sind überwunden. Im Sommer letzten Jahres lagen die Inzidenzen auf einem niedrigeren Niveau als heute. Danach entfaltete sich die noch viel größere Katastrophe der zweiten und dritten Welle.
Impfung gut, alles gut?
Was sich heute von der Situation vor einem Jahr unterscheidet, ist die Möglichkeit der Impfung für Erwachsene und Jugendliche, zumindest in den reichsten Ländern der Welt. Indes mutiert das Virus weiter. Für das Zurückdrängen der wesentlich aggressiveren Delta-Variante, die sich auch in Deutschland ausbreitet, ist eine Impfquote von mehr als 80 Prozent nötig. Dank der chaotischen und unsolidarischen Impfkampagne sind aber immer noch viele Menschen der Prioritätsgruppen 1-3 nicht geimpft. Eine vierte Welle gilt als sehr wahrscheinlich.
Auch wenn die Infektionen momentan insgesamt abnehmen, sind die Intensivstationen immer noch stark ausgelastet. Die mittlerweile jüngeren Patient*innen bleiben länger, weil sie nicht so schnell sterben, aber auch nicht genesen. Für das Personal, das nun schon seit fast anderthalb Jahren weit über seiner Belastungsgrenze arbeitet, ist keine Entspannung in Sicht, wenn nun aufgeschobene Behandlungen nachgeholt werden. Hinzu kommen weiterhin Entlassungen von Krankenhauspersonal.
Öffnungseuphorie
Alle bisherigen Erfolge in der Pandemiebekämpfung drohen von der politisch und medial enorm gepushten Öffnungseuphorie wieder gedämpft oder gar zerstört zu werden. Wie schon nach der ersten und zweiten Welle bedrohen die verfrühten Öffnungs- und Lockerungsschritte die Gesundheit und das Leben tausender Menschen.
Gerade die sozialen Kontakte, nach denen wir uns nach fast anderthalb Jahren in der Pandemie so sehr sehnen, werden durch die herrschende Öffnungspolitik gefährdet: Durch die schrittweise Aufhebung der Maskenpflicht als elementare, einfache Maßnahme der Pandemie-Eindämmung. Oder durch internationale Riesenveranstaltungen wie die Spiele der Herren-Fußball-EM, zu der ab dem Halbfinale in London 60.000 Zuschauer*innen aus ganz Europa im Stadion ihre Tröpfchen und Aerosole austauschen durften.
Globale Ungleichheit auch im Gesundheitsschutz
Eine zentrale Forderung der #ZeroCovid-Kampagne ist jetzt die Freigabe der Impfstoffpatente und die schnelle, kostengünstige Produktion von Impfstoff für alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft und Klassenzugehörigkeit. Die Patent-Regelung sorgt weiterhin dafür, dass nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung in absehbarer Zeit Zugang zur Impfung haben wird, in den meisten Ländern also nur die Reichsten. Die globale Ungleichheit wird damit weiter verschärft.
Diejenigen, die ohnehin schon am schwersten unter dem Spätkapitalismus leiden, bleiben Corona als zusätzlicher Gefahr für Gesundheit und Leben weiterhin schutzlos ausgeliefert. Dabei ist der Einsatz für die Freigabe der Patente nur ein erster kleiner Schritt zu einer humanen und gerechten Gesundheitsversorgung. Wir müssen weiterhin dafür eintreten, dass die Gesundheitsversorgung aus der auf Profit ausgerichteten „Marktwirtschaft“ gelöst und unter die demokratische Kontrolle derjenigen gebracht wird, die sie betrifft: Beschäftigte ebenso wie Patient*innen.