Teil II: Ursachen des Scheiterns der Oktoberrevolution*
O. T.
Die Revolution in Russland ist nicht erst im Jahr 1991 mit dem Zerfall der Sowjetunion gescheitert, sondern schon viel früher aufgrund der bürokratischen Entartung, die in die brutale Unterdrückung durch den Stalinismus mündete. Das ursprünglich positive Bild des Sozialismus/Kommunismus wurde dadurch bis heute nachhaltig geschädigt.
Nach dem gewonnenen Bürgerkrieg (1918 – 1920) wurden politische Maßnahmen eingeleitet, die den Prozess der bürokratischen Entartung begünstigt haben.
Verbot der Sowjetparteien
Als den schlimmsten Fehler sehen wir in Anlehnung an Ernest Mandel** das Verbot der Sowjetparteien (Menschewiki, Anarchisten …).
Sowohl dieses Verbot als auch die politische Begründung hierfür haben sehr großen Schaden angerichtet. Die Begründung lautete zusammengefasst: Das Proletariat sei in seiner Mehrheit zu wenig bewusst, um ein Land regieren zu können. Deshalb müsse die Partei beziehungsweise ihre Führung anstelle der ArbeiterInnenklasse diese Aufgabe übernehmen.
Rosa Luxemburg hat sich mit dieser Frage kritisch auseinandergesetzt.
Sie schrieb: „Der Grundfehler der Lenin-Trotzkistischen Theorie ist eben der, dass sie die Diktatur, genau wie Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. […] Dieser entscheidet sich natürlich für die Demokratie, und zwar für die bürgerliche Demokratie […] Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur (des Proletariats) im Gegensatz zur Demokratie […].
Sozialistische Demokratie beginnt nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat.“
Trotzki stellte später in Verratene Revolution (1936) fest: „Das Verbot der Oppositionsparteien zog das Verbot der Fraktionen nach sich; das Fraktionsverbot mündete in das Verbot, anders zu denken als der ‚unfehlbare Führer‘. Der polizeiliche Monolithismus der Partei brachte die bürokratische Straflosigkeit mit sich, die zur Quelle aller Spielarten von Zügellosigkeit und Zersetzung wurde.“
Vermeidbarkeit des „Kriegskommunismus“
Mandel zufolge ist es schwierig zu beurteilen, inwieweit die Politik der Beschlagnahme des Getreides durch die belagerte Sowjetmacht in den Jahren des „Kriegskommunismus“ – von 1918 bis 1920 – zumindest in einem gewissen Maße unvermeidlich war. Aber es stehe fest, dass sie das Arbeiter- und Bauernbündnis, also die Grundlage der Sowjetmacht, sprengte.
Als Folge der Beschlagnahmungen gab es einen immer deutlicheren Rückgang der Nahrungsmittelproduktion. Dadurch drohte die gesamte russische Wirtschaft zusammenzubrechen.
Im Austausch für die gleiche Menge Getreide erhielt der Bauer nur noch 5% der Industrieprodukte aus den Jahren 1917/1918.
Daraus wiederum resultierte ein absoluter Rückgang des Anbaus von Getreide. Aufgrund der sinkenden Getreideproduktion gab es immer weniger zu beschlagnahmen, und der Hunger der Bevölkerung wuchs.
Trotzki hatte frühzeitig die Abkehr vom „Kriegskommunismus“ und stattdessen eine „Neue Ökonomische Politik“ (NEP) gefordert, die ein geschmeidigeres Vorgehen ermöglicht hätte.
Dies wurde aber von Lenin und der Mehrheit der Parteiführung zunächst abgelehnt. Das war ein schwerer Fehler, der letztlich teuer zu stehen kam. Die weitere Fortführung des „Kriegskommunismus“ auch noch nach dem Bürgerkrieg löste dann die soziale Krise von 1921 einschließlich des Aufstands von Kronstadt aus.
Geheimpolizei ohne öffentliche Kontrolle
Die Tscheka („Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“) war die politische Geheimpolizei des revolutionären Russland. Sie war im Dezember 1917 maßgeblich aufgrund der Forderungen der Linken Sozial-Revolutionäre gegründet worden.
Lenin hatte sich nach dem Bürgerkrieg für eine Begrenzung des Handlungsspielraums der Tscheka eingesetzt. Sie sollte nur noch für Spionageprobleme, politische Anschläge, den Schutz der Eisenbahn und der Lebensmittellager zuständig sein; jede andere repressive Tätigkeit sollte Aufgabe des Volkskommissariats für Justiz sein.
Jedoch lässt sich eine Geheimpolizei keiner öffentlichen Kontrolle unterziehen. Sie entfaltet dadurch eine eigene gefährliche Dynamik, die sich gegen den Rechtsstaat richtet.
Die Bildung der Tscheka, ihre Nichtkontrollierbarkeit und die dadurch erfolgte Verselbständigung war ein weiterer schwerer Fehler, der die Herausbildung der stalinistischen Bürokratie begünstigt hat.
Parteienverbot, „Kriegskommunismus“ und eine unkontrollierbare Geheimpolizei haben aus Sicht von Mandel und der IV. Internationale insgesamt entscheidend mit zur bürokratische Entartung der Sowjetunion und dem Scheitern der Oktoberrevolution beigetragen.
* Fortsetzung und Schluss des gleichnamigen Artikels aus Avanti² Nr. 38.
** Ernest Mandel, Oktober 1917 – Staatsstreich oder soziale Revolution?, Köln 1992.
aus der Rhein-Neckar Beilage zur Avanti November 2017