Schon jetzt über 10 Mil­lio­nen Corona-Tote?

Eine Fol­ge des Wütens der Kapitallogik

Win­fried Wolf

Die COVID-19-Pan­de­mie hat bis Ende 2021 rund 10 Mil­lio­nen Men­schen das Leben gekos­tet. Sie ist, wie an ande­rer Stel­le nach­ge­wie­sen wur­de, in erheb­li­chem Maß Ergeb­nis der kapi­ta­lis­ti­schen Glo­ba­li­sie­rung.1 Gleich­zei­tig hat die­se – erwart­ba­re2, dann aber doch für die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung uner­war­te­te – Pan­de­mie die Kri­sen­ten­den­zen des aktu­el­len Kapi­ta­lis­mus ver­stärkt. Sie zeigt wie unter einem Brenn­glas, dass in der bestehen­den Gesell­schafts­ord­nung Pro­fit­ma­xi­mie­rung mit Lei­chen­ber­gen einhergeht.

Kundgebung von #ZeroCovid Rhein-Neckar in Mannheim, 10. April 2021. (Foto:  helmut-roos@web.de..)

Kund­ge­bung von #Zero­Co­vid Rhein-Neckar in Mann­heim, 10. April 2021. (Foto: helmut-roos@web.de..)

Bis Mit­te Novem­ber 2021 hat Coro­na nach offi­zi­el­ler Sta­tis­tik auf Welt­ebe­ne 5,1 Mil­lio­nen Frau­en und Män­nern und in Deutsch­land ziem­lich genau 100.000 Men­schen das Leben gekos­tet. Ande­re Berech­nun­gen, so sol­che des bri­ti­schen Eco­no­mist, gehen – Stand Novem­ber 2021 – von welt­weit 10,7 bis 19,9 Mil­lio­nen Coro­na-Toten aus.3

Damit ist der Todes­zoll, den die COVID-19-Pan­de­mie der Mensch­heit bin­nen 22 Mona­ten trotz moder­ner Medi­zin und trotz in Rekord­zeit ent­wi­ckel­ter und bereits mil­li­ar­den­fach ein­ge­setz­ter Anti-Coro­na-Impf­stof­fe auf­er­leg­te, nicht mehr weit ent­fernt von den Opfern der Spa­ni­schen Grip­pe, die im Drei­jah­res-Zeit­raum 1918 bis 1920 zwi­schen 20 und 40 Mil­lio­nen Men­schen­le­ben forderte.

Als Vere­na Krei­lin­ger, Chris­ti­an Zel­ler und ich im Som­mer 2020 das Buch Coro­na, Kapi­tal und Kri­se im Papy­Ros­sa-Ver­lag ver­öf­fent­lich­ten, da wur­den wir von den­je­ni­gen, die Coro­na rela­ti­vie­ren und leug­nen, noch mit dem Ver­weis trak­tiert, die Coro­na-Opfer sei­en doch „nichts im Ver­gleich zu den Stra­ßen­ver­kehrs­to­ten“. Tat­säch­lich liegt inzwi­schen die Zahl der Coro­na- Toten in Deutsch­land bei gut dem Zwan­zig­fa­chen der Stra­ßen­ver­kehrs­to­ten (im glei­chen 20-Monats-Zeitraum).

Ver­ge­be­ne Chancen
Und wäh­rend in der vier­ten Wel­le erneut alle auf die bun­des­deut­schen Inzi­denz­wer­te star­ren und bes­ten­falls noch einen Blick auf die Lage in den Nach­bar­län­dern wer­fen, ist doch bei einem Ver­gleich auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne erneut deut­lich, wie unter­schied­lich die Pan­de­mie wüte­te. Genau­er: Wel­che Chan­cen es offen­kun­dig gab, Men­schen­le­ben zu ret­ten und wie vie­le unnö­tig durch das Virus Getö­te­te das unge­zü­gel­te Wir­ken des Kapi­tals – und damit auch das viel zu wenig ein­ge­dämm­te COVID-19-Virus – forderte.

Tabelle: Corona-Tote nach Ländergruppen im Zeitraum 30. November 2020 bis 12. November 2021.4

Tabel­le: Coro­na-Tote nach Län­der­grup­pen im Zeit­raum 30. Novem­ber 2020 bis 12. Novem­ber 2021.4

Drei inter­es­san­te Aspek­te
Bei die­sem Ver­gleich sind drei Aspek­te interessant:

Ers­tens gibt es in den ver­gleich­ba­ren Län­der­grup­pen enor­me Spann­wei­ten bei der Zahl der Men­schen, die wegen einer COVID-19-Erkran­kung star­ben. Dabei geht es im Fol­gen­den um die Zahl der „an und mit Coro­na Gestor­be­nen“ bezo­gen auf 100.000 Men­schen. Die­se Span­ne liegt bei den grö­ße­ren Län­dern in Euro­pa beim Zwei- bis Zwei­ein­halb­fa­chen im Ver­gleich Nie­der­lan­de und Deutsch­land einer­seits und Polen, Groß­bri­tan­ni­en, Ita­li­en und Rumä­ni­en ande­rer­seits. Sie liegt bei den klei­ne­ren euro­päi­schen Län­dern beim Drei­fa­chen im Ver­gleich der Län­der Irland, Öster­reich und Schweiz einer­seits und Tsche­chi­en, Ungarn und Bul­ga­ri­en ande­rer­seits. In Latein­ame­ri­ka hat Peru mit 597 Coro­na-Toten auf 100.000 Men­schen einen sie­ben Mal grö­ße­ren Blut­zoll zu bekla­gen als Kuba mit 73 Coro­na-Toten auf 100.000 Ein­woh­ner. In Bra­si­li­en sind es vier Mal mehr Coro­na-Tote als auf Kuba – wobei sehr viel dafür­spricht, dass es in Bra­si­li­en wesent­lich mehr COVID-19-Opfer gibt als in der offi­zi­el­len Sta­tis­tik ausgewiesen.

Zwei­tens dürf­te ange­sichts der nack­ten Zah­len das Urteil über die schwe­di­sche Coro­na-Poli­tik deut­lich nega­tiv aus­fal­len. Unter den vier skan­di­na­vi­schen Län­dern – alle vier sind hin­sicht­lich ihrer Rand­la­ge in Euro­pa, ihrer sozia­len Struk­tur, ihrer Grö­ße und ihres hoch­ent­wi­ckel­ten Gesund­heits­sys­tems ver­gleich­bar – muss­te Schwe­den einen acht­mal höhe­ren Opfer­zoll als Nor­we­gen bekla­gen; er ist sie­ben Mal höher als in Finn­land und noch drei Mal höher als in Däne­mark – wobei das letzt­ge­nann­te Land auf­grund sei­ner Gren­zen mit Deutsch­land in die­sem inner­skan­di­na­vi­schen Ver­gleich benach­tei­ligt ist.

Drit­tens gibt es zwar immer noch Län­der, die auch Ende 2021 nahe an Zero-Covid lie­gen; Chi­na, Tai­wan und Neu­see­land sind hier zu nen­nen. Ganz offen­sicht­lich jedoch konn­te die Zero-Covid-Poli­tik in Süd­ko­rea, in Viet­nam, in Japan, in Kuba, in Neu­see­land und in Aus­tra­li­en nur bis Anfang 2021 auf­recht­erhal­ten wer­den. Ab Früh­jahr 2021 wur­de die­se Poli­tik Schritt für Schritt auf­ge­ge­ben – in Aus­tra­li­en und Neu­see­land erfolg­te dies im Herbst 2021. Dabei spiel­ten wirt­schaft­li­che Zwän­ge (Tou­ris­mus in Kuba!), die Glo­ba­li­sie­rung (neue Auto­in­dus­trie in Viet­nam!) und der Kom­merz (Olym­pia­de in Japan!) eine wich­ti­ge Rol­le. Die Lais­sez-Fai­re-Pan­de­mie-Poli­tik in einem gro­ßen Teil der west­li­chen Welt trug sodann dazu bei, dass sich zwei zuneh­mend gefähr­li­che­re Virus-Muta­tio­nen, zuletzt die Del­ta-Vari­an­te, her­aus­bil­de­ten, was die Ein­däm­mung der Pan­de­mie enorm erschwer­te und die Wir­kung der Impf­kam­pa­gnen abschwächt.

Igno­rier­te Erfahrungen
Die vier Wel­len der Pan­de­mie, die die Welt seit Anfang 2020 und bis Ende 2021 erleb­te, waren von den Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­lern im Bereich der Epi­de­mio­lo­gie pro­gnos­ti­ziert wor­den. Es gibt auch seit mehr als einem Jahr­zehnt genaue Erkennt­nis­se der WHO, wie eine Pan­de­mie wie die gegen­wär­ti­ge ein­ge­dämmt und der Blut­zoll enorm ver­rin­gert wer­den kann5 – was auf Welt­ebe­ne weit­ge­hend igno­riert, in der erwähn­ten Län­der­grup­pe mit einer Zero-Covid-Poli­tik jedoch gut ein Jahr lang erfolg­reich prak­ti­ziert wur­de. Und es gab deut­li­che Mehr­hei­ten für eine Zero-Covid-Poli­tik in Län­dern wie Aus­tra­li­en, Neu­see­land, Japan und Viet­nam. In der VR Chi­na dürf­te die rigi­de Poli­tik der Pan­de­mie-Bekämp­fung von einer gro­ßen Mehr­heit der Bevöl­ke­rung unter­stützt wer­den. Das heißt: Im Fall eines ein­heit­li­chen und auto­ri­ta­ti­ven Auf­tre­tens von WHO und dem größ­ten Teil der Regie­run­gen in die­ser Welt dürf­te es für eine sol­che Poli­tik auch Mehr­hei­ten im Rest der Welt gege­ben haben.

Kundgebung von #ZeroCovid Rhein-Neckar in Mannheim, 10. April 2021. 2 (Foto: helmut-roos@web.de.)

Kund­ge­bung von #Zero­Co­vid Rhein-Neckar in Mann­heim, 10. April 2021. 2 (Foto: helmut-roos@web.de.)

Tat­sa­che ist: Die­se Rat­schlä­ge und die­ser Erfah­rungs­schatz wur­den im größ­ten Teil der Welt – und dabei ins­be­son­de­re in den USA und in West­eu­ro­pa – igno­riert. Bei jeder neu­en Pan­de­mie-Wel­le behaup­te­te die Poli­tik, sie sei „völ­lig über­rascht“ wor­den, wes­we­gen krass wider­sprüch­li­che Maß­nah­men ergrif­fen wer­den. In Deutsch­land wur­den im Okto­ber 2021 die Impf­zen­tren geschlos­sen und zum 30. Novem­ber 2021 das „Ende der pan­de­mi­schen Lage von natio­na­ler Bedeu­tung“ aus­ge­ru­fen. Das erfolg­te just zu dem Zeit­punkt, wo die Inzi­denz-Wer­te auf neue Rekor­de zusteu­er­ten. Zum glei­chen Zeit­punkt wer­den hek­tisch wei­te­re Maß­nah­men ergrif­fen, um eine unkon­trol­liert sich aus­brei­ten­de Pan­de­mie ein­zu­gren­zen, im Inter­es­se der „Wirt­schaft“ die „Win­ter­sai­son“ zu ret­ten und einen Lock­down an Weih­nach­ten oder am Jah­res­be­ginn 2022 zu verhindern.

Eine knap­pe Bilanz
In der Bilanz kos­te­te die­se Zick­zack-Poli­tik mit Jo-Jo-Lock­downs Mil­lio­nen Men­schen das Leben. Sie gab auch frei­en Raum für ein flä­chen­de­cken­des Coro­na-Leug­nen, das einer Ent­so­li­da­ri­sie­rung und einer Ver­stär­kung der Ell­bo­gen-Men­ta­li­tät in den west­li­chen Gesell­schaf­ten gleich­kommt. Auch wenn es eini­ge Lin­ke unter den Coro­na-Rela­ti­vie­rern gibt, so ist auf Welt­ebe­ne doch ein­deu­tig, dass es in ers­ter Linie Neo­li­be­ra­le wie FDP-Lind­ner und Rech­te bzw. Rechts­extre­me wie Trump und Bol­so­n­a­ro oder wie Gau­land und Ban­non sind, die die Pan­de­mie in Fra­ge stel­len oder rela­ti­vie­ren und die „Frei­heit“ ins Zen­trum der Coro­na-Debat­te rück­ten. Wobei es natür­lich auch eine inne­re Logik gibt, wenn Sahra Wagen­knecht sich in jün­ge­ren Publi­ka­tio­nen als Anhän­ge­rin von Lud­wig Erhard, dem pro­mi­nen­tes­ten Ver­fech­ter der frei­en, als „sozi­al“ kaschier­ten Markt­wirt­schaft gibt, und sich kurz dar­auf als Impf­geg­ne­rin bekennt.

Die Par­tei­nah­me von Libe­ra­len und Rech­ten für das Rela­ti­vie­ren von Coro­na wie­der­um weist auf die ent­schei­den­de Trieb­kraft hin, die hin­ter der fata­len Pan­de­mie-Nicht­be­kämp­fung steckt. Das glo­ba­le Sys­tem kapi­ta­lis­ti­scher Welt­wirt­schaft muss am Lau­fen gehal­ten wer­den; das Akku­mu- lati­ons­re­gime for­dert sei­nen Tri­but. Kurz­fris­ti­ger Pro­fit geht vor Gesund­heit. Kos­te es, was es wolle!


1 Ein gro­ßes Ver­dienst kommt hier den Wis­sen­schaft­lern Rob und Rode­rick Wal­lace zu. Sie­he Rob Wal­lace, Big Farms Make Big Flue, New York 2016, deutsch: Was COVID-19 mit der öko­lo­gi­schen Kri­se, dem Raub­bau an der Natur und dem Agro­busi­ness zu tun hat, Köln 2020.
2 2012 gab die Bun­des­re­gie­rung eine „Risi­ko­stu­die“ in Auf­trag, die am 3. Janu­ar 2013 unter dem Titel „Pan­de­mie durch Virus Modi-SARS“ ver­öf­fent­licht wur­de. Feder­füh­rend betei­ligt war das Robert-Koch-Insti­tut. In die­ser wird eine Pan­de­mie beschrie­ben, die vie­le Par­al­le­len mit der COVID -19-Pan­de­mie der Jah­re 2020 ff. hat und deren Auf­tre­ten als „ein natür­li­ches Ereig­nis, das immer wie­der vor­kom­men wird“ beschrie­ben wird (Bun­des­tags­druck­sa­che 17/12051). Auch zusam­men­ge­fasst wie­der­ge­ge­ben in: Vere­na Krei­lin­ger, Win­fried Wolf, Chris­ti­an Zel­ler, Coro­na, Kri­se, Kapi­tal – Plä­doy­er für eine soli­da­ri­sche Alter­na­ti­ve in den Zei­ten der Pan­de­mie, Köln August 2020, S. 56 ff.
3 Sie­he „The pandemic´s true death toll“, Eco­no­mist vom 13. Novem­ber 2021; www.economist.com/graphic-detail/coronavirus-excess-deaths-estimates.
4 Anga­ben nach Johns Hop­kins Uni­ver­si­ty (https://coronavirus.jhu.edu/map.html) und worl­do­me­ter Coro­na, www.worldometers.info/coronavirus/.
5 World Health Orga­ni­sa­ti­on – Wes­tern Paci­fic Regi­on, SARS, How a Glo­bal Epi­de­mic was Stop­ped, Washing­ton 2006. Sie­he Kreilinger/Wolf/Zeller, a. a. O., S. 46 ff.

Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Dezem­ber 2021
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