Eine Folge des Wütens der Kapitallogik
Winfried Wolf
Die COVID-19-Pandemie hat bis Ende 2021 rund 10 Millionen Menschen das Leben gekostet. Sie ist, wie an anderer Stelle nachgewiesen wurde, in erheblichem Maß Ergebnis der kapitalistischen Globalisierung.1 Gleichzeitig hat diese – erwartbare2, dann aber doch für die Mehrheit der Bevölkerung unerwartete – Pandemie die Krisentendenzen des aktuellen Kapitalismus verstärkt. Sie zeigt wie unter einem Brennglas, dass in der bestehenden Gesellschaftsordnung Profitmaximierung mit Leichenbergen einhergeht.
Bis Mitte November 2021 hat Corona nach offizieller Statistik auf Weltebene 5,1 Millionen Frauen und Männern und in Deutschland ziemlich genau 100.000 Menschen das Leben gekostet. Andere Berechnungen, so solche des britischen Economist, gehen – Stand November 2021 – von weltweit 10,7 bis 19,9 Millionen Corona-Toten aus.3
Damit ist der Todeszoll, den die COVID-19-Pandemie der Menschheit binnen 22 Monaten trotz moderner Medizin und trotz in Rekordzeit entwickelter und bereits milliardenfach eingesetzter Anti-Corona-Impfstoffe auferlegte, nicht mehr weit entfernt von den Opfern der Spanischen Grippe, die im Dreijahres-Zeitraum 1918 bis 1920 zwischen 20 und 40 Millionen Menschenleben forderte.
Als Verena Kreilinger, Christian Zeller und ich im Sommer 2020 das Buch Corona, Kapital und Krise im PapyRossa-Verlag veröffentlichten, da wurden wir von denjenigen, die Corona relativieren und leugnen, noch mit dem Verweis traktiert, die Corona-Opfer seien doch „nichts im Vergleich zu den Straßenverkehrstoten“. Tatsächlich liegt inzwischen die Zahl der Corona- Toten in Deutschland bei gut dem Zwanzigfachen der Straßenverkehrstoten (im gleichen 20-Monats-Zeitraum).
Vergebene Chancen
Und während in der vierten Welle erneut alle auf die bundesdeutschen Inzidenzwerte starren und bestenfalls noch einen Blick auf die Lage in den Nachbarländern werfen, ist doch bei einem Vergleich auf internationaler Ebene erneut deutlich, wie unterschiedlich die Pandemie wütete. Genauer: Welche Chancen es offenkundig gab, Menschenleben zu retten und wie viele unnötig durch das Virus Getötete das ungezügelte Wirken des Kapitals – und damit auch das viel zu wenig eingedämmte COVID-19-Virus – forderte.
Drei interessante Aspekte
Bei diesem Vergleich sind drei Aspekte interessant:
Erstens gibt es in den vergleichbaren Ländergruppen enorme Spannweiten bei der Zahl der Menschen, die wegen einer COVID-19-Erkrankung starben. Dabei geht es im Folgenden um die Zahl der „an und mit Corona Gestorbenen“ bezogen auf 100.000 Menschen. Diese Spanne liegt bei den größeren Ländern in Europa beim Zwei- bis Zweieinhalbfachen im Vergleich Niederlande und Deutschland einerseits und Polen, Großbritannien, Italien und Rumänien andererseits. Sie liegt bei den kleineren europäischen Ländern beim Dreifachen im Vergleich der Länder Irland, Österreich und Schweiz einerseits und Tschechien, Ungarn und Bulgarien andererseits. In Lateinamerika hat Peru mit 597 Corona-Toten auf 100.000 Menschen einen sieben Mal größeren Blutzoll zu beklagen als Kuba mit 73 Corona-Toten auf 100.000 Einwohner. In Brasilien sind es vier Mal mehr Corona-Tote als auf Kuba – wobei sehr viel dafürspricht, dass es in Brasilien wesentlich mehr COVID-19-Opfer gibt als in der offiziellen Statistik ausgewiesen.
Zweitens dürfte angesichts der nackten Zahlen das Urteil über die schwedische Corona-Politik deutlich negativ ausfallen. Unter den vier skandinavischen Ländern – alle vier sind hinsichtlich ihrer Randlage in Europa, ihrer sozialen Struktur, ihrer Größe und ihres hochentwickelten Gesundheitssystems vergleichbar – musste Schweden einen achtmal höheren Opferzoll als Norwegen beklagen; er ist sieben Mal höher als in Finnland und noch drei Mal höher als in Dänemark – wobei das letztgenannte Land aufgrund seiner Grenzen mit Deutschland in diesem innerskandinavischen Vergleich benachteiligt ist.
Drittens gibt es zwar immer noch Länder, die auch Ende 2021 nahe an Zero-Covid liegen; China, Taiwan und Neuseeland sind hier zu nennen. Ganz offensichtlich jedoch konnte die Zero-Covid-Politik in Südkorea, in Vietnam, in Japan, in Kuba, in Neuseeland und in Australien nur bis Anfang 2021 aufrechterhalten werden. Ab Frühjahr 2021 wurde diese Politik Schritt für Schritt aufgegeben – in Australien und Neuseeland erfolgte dies im Herbst 2021. Dabei spielten wirtschaftliche Zwänge (Tourismus in Kuba!), die Globalisierung (neue Autoindustrie in Vietnam!) und der Kommerz (Olympiade in Japan!) eine wichtige Rolle. Die Laissez-Faire-Pandemie-Politik in einem großen Teil der westlichen Welt trug sodann dazu bei, dass sich zwei zunehmend gefährlichere Virus-Mutationen, zuletzt die Delta-Variante, herausbildeten, was die Eindämmung der Pandemie enorm erschwerte und die Wirkung der Impfkampagnen abschwächt.
Ignorierte Erfahrungen
Die vier Wellen der Pandemie, die die Welt seit Anfang 2020 und bis Ende 2021 erlebte, waren von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Bereich der Epidemiologie prognostiziert worden. Es gibt auch seit mehr als einem Jahrzehnt genaue Erkenntnisse der WHO, wie eine Pandemie wie die gegenwärtige eingedämmt und der Blutzoll enorm verringert werden kann5 – was auf Weltebene weitgehend ignoriert, in der erwähnten Ländergruppe mit einer Zero-Covid-Politik jedoch gut ein Jahr lang erfolgreich praktiziert wurde. Und es gab deutliche Mehrheiten für eine Zero-Covid-Politik in Ländern wie Australien, Neuseeland, Japan und Vietnam. In der VR China dürfte die rigide Politik der Pandemie-Bekämpfung von einer großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden. Das heißt: Im Fall eines einheitlichen und autoritativen Auftretens von WHO und dem größten Teil der Regierungen in dieser Welt dürfte es für eine solche Politik auch Mehrheiten im Rest der Welt gegeben haben.
Tatsache ist: Diese Ratschläge und dieser Erfahrungsschatz wurden im größten Teil der Welt – und dabei insbesondere in den USA und in Westeuropa – ignoriert. Bei jeder neuen Pandemie-Welle behauptete die Politik, sie sei „völlig überrascht“ worden, weswegen krass widersprüchliche Maßnahmen ergriffen werden. In Deutschland wurden im Oktober 2021 die Impfzentren geschlossen und zum 30. November 2021 das „Ende der pandemischen Lage von nationaler Bedeutung“ ausgerufen. Das erfolgte just zu dem Zeitpunkt, wo die Inzidenz-Werte auf neue Rekorde zusteuerten. Zum gleichen Zeitpunkt werden hektisch weitere Maßnahmen ergriffen, um eine unkontrolliert sich ausbreitende Pandemie einzugrenzen, im Interesse der „Wirtschaft“ die „Wintersaison“ zu retten und einen Lockdown an Weihnachten oder am Jahresbeginn 2022 zu verhindern.
Eine knappe Bilanz
In der Bilanz kostete diese Zickzack-Politik mit Jo-Jo-Lockdowns Millionen Menschen das Leben. Sie gab auch freien Raum für ein flächendeckendes Corona-Leugnen, das einer Entsolidarisierung und einer Verstärkung der Ellbogen-Mentalität in den westlichen Gesellschaften gleichkommt. Auch wenn es einige Linke unter den Corona-Relativierern gibt, so ist auf Weltebene doch eindeutig, dass es in erster Linie Neoliberale wie FDP-Lindner und Rechte bzw. Rechtsextreme wie Trump und Bolsonaro oder wie Gauland und Bannon sind, die die Pandemie in Frage stellen oder relativieren und die „Freiheit“ ins Zentrum der Corona-Debatte rückten. Wobei es natürlich auch eine innere Logik gibt, wenn Sahra Wagenknecht sich in jüngeren Publikationen als Anhängerin von Ludwig Erhard, dem prominentesten Verfechter der freien, als „sozial“ kaschierten Marktwirtschaft gibt, und sich kurz darauf als Impfgegnerin bekennt.
Die Parteinahme von Liberalen und Rechten für das Relativieren von Corona wiederum weist auf die entscheidende Triebkraft hin, die hinter der fatalen Pandemie-Nichtbekämpfung steckt. Das globale System kapitalistischer Weltwirtschaft muss am Laufen gehalten werden; das Akkumu- lationsregime fordert seinen Tribut. Kurzfristiger Profit geht vor Gesundheit. Koste es, was es wolle!