Mei­ne Erleb­nis­se mit Hartz IV

Oder: Wie es sich am Ran­de der Gesell­schaft lebt*

 

Die Ampel-Koali­ti­on will Hartz IV nicht abschaf­fen. Das ist kein Wun­der, waren doch SPD und Grü­ne dafür poli­tisch ver­ant­wort­lich und unter ande­rem die FDP damit sehr ein­ver­stan­den. Die ange­kün­dig­te Umfir­mie­rung von Hartz IV in ein „Bür­ger­geld“ ändert nichts Wesent­li­ches an die­sem Instru­ment zur Aus­beu­tung, Ein­schüch­te­rung, Ent­eig­nung und Unter­drü­ckung der arbei­ten­den Klasse.
2015 hat­te unser lei­der im letz­ten Jahr ver­stor­be­ner Genos­se Wol­li (Autoren­kür­zel R. G.) sei­ne per­sön­li­chen Erfah­run­gen mit Hartz IV auf­ge­schrie­ben. Sein Bericht ist eine star­ke Ankla­ge gegen ein zyni­sches Sys­tem, das sei­nen viel zu frü­hen Tod mit zu ver­ant­wor­ten hat.

R. G.

Wolli bei der Marx-200-Demo in Mannheim, 6. Mai 2018. (Foto: Avanti².)

Wol­li bei der Marx-200-Demo in Mann­heim, 6. Mai 2018. (Foto: Avanti².)

Ange­fan­gen hat­te es im März 2011. Ich wur­de arbeits­los. Ein schwe­res Los. Damals war mir nicht klar, wie es sich anfühlt, nicht mehr zu arbei­ten. Erst dach­te ich, wer Arbeit sucht, der fin­det auch eine. Doch ich wur­de eines Bes­se­ren belehrt.

Seit 1970 habe ich ohne Unter­bre­chung gear­bei­tet. Hartz IV ist ein Wort, das die Betrof­fe­nen ungern aus­spre­chen, weil mensch sich des­we­gen schämt. Zu oft ist die­ser Begriff in die Nega­tiv-Schlag­zei­len geraten.

Beim Job­cen­ter
Mein ers­ter Ein­druck beim Job­cen­ter war nicht nega­tiv. Auf­grund mei­ner Qua­li­fi­ka­ti­on (Fach­ar­bei­ter­brief, meh­re­re Staats­exami­na und diver­se Fort­bil­dun­gen) mein­te der Sach­be­ar­bei­ter zu mir: „Sie fin­den schnell wie­der eine neue Stelle.“

Zwar teil­te ich die­se Hoff­nung, aber ich hat­te auch mei­ne Zwei­fel. Denn das, was ich dort sah, war alles ande­re als auf­bau­end. Die Men­schen, die ich dort traf, mach­ten teil­wei­se einen furcht­bar mit­ge­nom­me­nen Ein­druck. Einer­seits von der Klei­dung her, ande­rer­seits waren ihre Gesichts­aus­drü­cke ein­fach leer. Jedes Lebens­zei­chen schien erlo­schen zu sein. Ich war schockiert.

Weil ich fast zwan­zig Jah­re eine eige­ne Pra­xis hat­te, in der vier Mit­ar­bei­ter beschäf­tigt waren, dach­te ich den­noch, schnell wie­der einen Job zu fin­den. Ich hat­te damals oft bis 21 Uhr 30 gear­bei­tet. Mei­ne Ehe ging dann in die Brü­che, und um die Schei­dungs­kos­ten finan­zie­ren zu kön­nen, nahm ich einen Kol­le­gen als Teil­ha­ber in die Pra­xis auf. Die­ser dach­te jedoch gar nicht dar­an, sich zu eta­blie­ren, son­dern mach­te sich nach zwei Jah­ren aus dem Staub. Alles das muss­te ich mei­nem Sach­be­ar­bei­ter erzählen.

Beim Ver­las­sen des Job­cen­ters fie­len mir die vie­len Sicher­heits­leu­te auf. Spä­ter erfuhr ich, dass so manch ein Hartz IV-Emp­fän­ger dort aus­ge­ras­tet ist. Dies ist auch nicht ver­wun­der­lich, denn du bist der Behör­de auf Gedeih und Ver­derb ausgeliefert.

Das wich­tigs­te ist, dass du immer Ja sagst. Ein­mal hat­te mich eine Sach­be­ar­bei­te­rin raus­ge­schmis­sen, als ich ver­such­te, ihr zu erklä­ren, dass wir ja alle unse­re Arbeits­kraft ver­kau­fen – bis auf die Kapi­ta­lis­ten. Mit dem Lohn, den wir als Pro­du­zen­ten bekom­men, kau­fen wir den Kapi­ta­lis­ten die Waren ab, die wir selbst pro­du­ziert haben. Sie lief knall­rot an und hol­te die Wach­leu­te. Es sind in der Regel vier von ihnen da.

In die­sen Cen­tern herrscht oft ein Zustand der Über­heb­lich­keit. So eini­ge der dort täti­gen Per­so­nen könn­te ich mir gut als „Gau­lei­ter” vorstellen.

Schwin­den­der Optimismus
Nach der anfäng­li­chen Hoff­nung, wur­de mein Opti­mis­mus immer gerin­ger. So ver­ging die Zeit von Woche zu Woche: zur Job­bör­se, Bewer­bung abho­len, im Job­cen­ter Bewer­bung schrei­ben las­sen, nach drei Tagen Bewer­bung abschi­cken, warten.

Die­je­ni­gen, die Dir die Bewer­bun­gen schrei­ben, sind die Här­tes­ten. Ich erleb­te ein­mal, wie ich mei­ne Stel­len­aus­schrei­bung abgab mit der Bit­te, es für mich zu tun. Die Sach­be­ar­bei­te­rin schau­te mich an und sag­te, ich sol­le mor­gen wie­der kom­men. Danach dreh­te sie sich um. Auf ihrer Com­pu­ter-Tas­ta­tur lagen noch die Res­te ihres Früh­stücks. Als ich pro­tes­tier­te, kam schon ein Wach­mann auf mich zu. Du hast kei­ne Chan­ce, da Du jeder­zeit mit Sank­tio­nen rech­nen musst.

Nach­dem die Absa­gen sich häuf­ten und über­haupt nichts pas­sier­te, ging es mir immer schlech­ter. Mei­ne Hoff­nungs­lo­sig­keit wur­de immer grö­ßer. Hat­te ich mir doch so vie­le Mög­lich­kei­ten ausgerechnet.

Wenn Du 43 Jah­re unun­ter­bro­chen gear­bei­tet hast und dies gewohnt bist, musst Du erst ler­nen, mit die­ser abrup­ten Ände­rung dei­ner Situa­ti­on umzu­ge­hen. Bevor Du in Ren­te gehst, kannst Du dich dar­auf ein­stel­len. Du weißt, es sind noch so und so vie­le Tage, dann ist es soweit. Bei Arbeits­lo­sig­keit ist das anders.

Wolli bei der Marx-200-Demo in Mannheim, 6. Mai 2018. (Foto: Avanti².)

Wol­li bei der Marx-200-Demo in Mann­heim, 6. Mai 2018. (Foto: Avanti².)

Ein­kau­fen bei der Tafel
Um von dem monat­li­chen Arbeits­lo­sen­geld II von 391 Euro minus 76 Euro für Strom und Tele­fon – also von 315 Euro – leben zu kön­nen, ging ich zur Tafel, um einzukaufen.

Oh Schreck lass nach! Da stan­den die Armen alle in einer Rei­he und war­te­ten, bis die Tür sich öff­ne­te. Auf mei­ne Fra­ge, war­um wir hier war­ten müs­sen, kam die Ant­wort, wir war­ten auf die Lie­fe­rung. Dies kann lan­ge dau­ern, je nach­dem, was sie an Res­ten bekommen.

Du stehst also in einer lan­gen Schlan­ge, manch­mal bis zu zwei Stun­den. Du musst die Bli­cke der ande­ren ertra­gen, die nicht auf die Tafel ange­wie­sen sind. Leu­te, die 45 Jah­re bei Benz gear­bei­tet haben, nie eine Fort­bil­dung besucht haben, fah­ren an Dir vor­bei und schau­en von oben her­ab auf Dich her­un­ter. Natür­lich sind die­se Arbei­ter, die ein gan­zes Leben geschuf­tet haben, nicht die Ver­ant­wort­li­chen für das Pro­blem. Die „Agen­da 2010“ hat die­se Armut ver­schärft, um dem EU-Ver­trag von Lis­sa­bon gerecht zu werden.

Beim War­ten spre­che ich vie­le Leu­te an. Die meis­ten spre­chen nur sehr schlecht Deutsch. So kom­me ich kaum in einen enge­ren Kon­takt. In der Schlan­ge ste­hen vie­le Kin­der­wa­gen da – ohne Kin­der. Sie die­nen als Ein­kaufs­wa­gen, um viel mit­neh­men zu kön­nen. Als sich die Tür öff­net, wird der Laden regel­recht gestürmt. Sie kau­fen, was der Laden her­gibt, und ich, der hier neu ist, wer­de zur Sei­te gedrängt, ange­rem­pelt. Waren, die ich in mei­nen Korb lege, sind plötz­lich weg. Ich muss mich erst dar­an gewöh­nen, dass hier das Gesetz des Stär­ke­ren gilt.

Beson­ders Migran­tin­nen ken­nen sich da aus. Sobald der Kin­der­wa­gen voll ist, wer­den sie von ihren Män­nern abge­holt. Ich glau­be nicht, dass sie alles ver­wer­ten kön­nen, denn das Halt­bar­keits­da­tum der Lebens­mit­tel ist zum Teil schon lan­ge über­schrit­ten. Es ist eher wohl anzu­neh­men, dass sie damit Freun­de unter­stüt­zen, denen der Lohn nicht zum Leben reicht.

Auch brauchst Du einen Hartz-IV-Bescheid, um einen Aus­weis zu bekom­men, der dich dort zum Ein­kau­fen befugt.

Oft sind Kin­der im Laden dabei. Wenn ich die letz­te Tafel Scho­ko­la­de in mei­nen Ein­kaufs­korb legen konn­te und Kin­der das sahen, dann beka­men sie von mir die Scho­ko­la­de. Die Müt­ter waren immer dafür dank­bar, und ich hat­te ein Zei­chen gegen Frem­den­feind­lich­keit gesetzt.

Wir wol­len kei­ne Tafeln, wir wol­len eine Arbeit, von deren Geld wir leben kön­nen. Wir schä­men uns alle bei den Tafeln, beson­ders die Älte­ren, die von ihrer Ren­te nicht leben kön­nen. Oft habe ich eine älte­re Frau an die Hand genom­men und bin mit ihr in den Laden gegan­gen. Hier unten sol­che Zustän­de, und bei denen da oben, den Rei­chen, Schot­ter und Gier ohne Ende.

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Die blei­er­ne Zeit nen­ne ich das, es ist die Zeit der Wert­lo­sig­keit. Dei­ne erschaf­fe­nen Wer­te gel­ten nichts mehr. Du hast das Gefühl, in die­ser Gesell­schaft ein Nie­mand zu sein. Weder kannst Du an Kul­tur – Thea­ter oder Kino – teil­neh­men. All’ das, was das Leben aus­macht, bleibt Dir verschlossen.

Gut, Du kannst Fern­se­hen gucken. Doch was wird Dir da gebo­ten. Die Pro­ble­me der Rei­chen, bei denen die Putz­frau einen Por­sche fährt. Eine Welt, die aus einem end­lo­sen Lie­bes­rei­gen besteht.

Bumms, aus – irgend­wo reich­te es mir. Mei­ne Bewer­bun­gen lie­fen ins Lee­re. Wenn es Ange­bo­te gab, dann nur Mini-Jobs. Ich ging zum Arzt, um mir etwas gegen mei­ne Depres­sio­nen geben zu las­sen. Er check­te mich durch. Nach einer Woche bekam ich einen Anruf, ich möch­te noch ein­mal vorbeikommen.

Fazit: Ich hat­te Krebs. Toll dach­te ich, jetzt wird mir alles egal. Ich fing an zu trin­ken. Das ging so eine Wei­le. Dann hör­te ich wie­der auf, weil die gan­zen Unter­su­chun­gen anfin­gen. Noch hat­te ich mei­nen Stolz nicht ver­lo­ren. Dabei ver­such­te ich, wie­der mei­ne Selbst­ach­tung zu gewinnen.

Die Grup­pe
Bei einer 1. Mai-Ver­an­stal­tung traf ich alte Freun­de wie­der. Vor vie­len Jah­ren hat­te ich mit ihnen poli­tisch zusam­men­ge­ar­bei­tet. Ich nahm Kon­takt auf, besuch­te die Tref­fen und fühl­te mich nicht mehr so allein mit mei­nen Problemen.

Die Ope­ra­ti­on ver­lief gut. Heu­te den­ke ich, dass mein see­li­scher Zustand, mei­ne see­li­sche Ver­fas­sung, die­sen Krank­heits­zu­stand aus­ge­löst hat. Auf­grund mei­ner beruf­li­chen Vor­bil­dung weiß ich: In einem kran­ken Kör­per wohnt kei­ne gesun­de See­le. Ich bekam eine Reha und hat­te viel Zeit zum Nachdenken.

Nach mei­ner Gene­sung wur­de mir eine Stel­le in mei­nem alten Beruf auf Mini-Job-Basis ange­bo­ten. Wenn Du mehr als 160 Euro ver­dienst, wird Dir der Rest abge­zo­gen. Es blei­ben Dir eigent­lich nur 110 Euro übrig. Trotz­dem hat­te ich jetzt ein ande­res Gefühl, ich fühl­te mich durch mei­ne klei­ne Tätig­keit wie­der etwas wertvoller.

Neun Mona­te dau­er­te die­ses Arbeits­ver­hält­nis, dann ging die Che­fin in den Ruhe­stand. Jetzt fing die Schei­ße wie­der von vor­ne an. Nach unzäh­li­gen Bewer­bun­gen schick­te mich das Job­cen­ter in ein soge­nann­tes Inte­gra­ti­ons-Pro­gramm für Arbeits­lo­se ab Fünfzig.

Wolli bei der Marx-200-Demo in Mannheim, 6. Mai 2018. (Foto: Avanti².)

Wol­li bei der Marx-200-Demo in Mann­heim, 6. Mai 2018. (Foto: Avanti².)

Das Pro­gramm
Die­ses Pro­gramm wird von einer Pri­vat­fir­ma ange­bo­ten und besteht aus nichts ande­rem als dem Zwang, zwei Mal die Woche dort auf­zu­tau­chen und am PC dei­ne Stel­len­an­ge­bo­te aus­zu­dru­cken. Die­se musst du dem Sach­be­ar­bei­ter vor­le­gen. Er hef­tet sie in eine Map­pe und legt sie dann in einen Umschlag, Brief­mar­ke drauf und ab die Post. Die­ser gan­ze Quatsch dau­er­te vier Monate.

Gehe ich davon aus, dass ein Monat 500 Euro kos­tet, so sind es in vier Mona­ten 2.000 Euro. Da wir zwan­zig Leu­te in dem Pro­gramm waren, dürf­ten wohl locker 40.000 Euro an Kos­ten ange­fal­len sein. Bei zwei Ange­stell­ten macht die­se Fir­ma mit den Arbeits­lo­sen einen Hau­fen Schotter.

Auch bei dem gemein­sa­men Vor­stel­lungs­tref­fen war es das glei­che Bild. Men­schen, die wie der leben­di­ge Tod aus­sa­hen. Sie schie­nen mir sowohl phy­sisch als auch psy­chisch total gestört zu sein.

Die Lei­te­rin der Ein­rich­tung schwa­dro­nier­te her­um. Sie erzähl­te uns, dass sie mal einem 70-jäh­ri­gen Mann eine Stel­le ver­mit­telt hät­te. Die­ser wäre jetzt ganz glück­lich. Wir guck­ten uns ganz blö­de an, und ein jeder dach­te jetzt wohl das Glei­che wie ich –, die tickt wohl nicht mehr rich­tig. Des Wei­te­ren soll­ten wir jetzt die Fra­ge­bö­gen aus­fül­len und unse­ren Traum­be­ruf bezie­hungs­wei­se Berufs­wunsch ein­tra­gen. Wenn ihre zwei Söh­ne mit dem Abitur fer­tig sei­en, so die Lei­te­rin, dann wür­de sie natür­lich auch etwas anders machen.

Mich kotz­te die­ses blö­de Geschwätz an. Ich sag­te ihr, dass es wohl sehr zynisch sei, was sie hier ver­an­stal­te, und dass wir eine Arbeit wol­len, von der wir auch leben kön­nen. Dar­auf­hin lief sie rot an und stutz­te mich mit der Bemer­kung zurecht, ich sol­le nicht unver­schämt werden.

Ich ließ nicht locker und ver­wies auf die vie­len Zeit­ar­beits­fir­men, auf die schlech­te Bezah­lung und auf die pre­kä­ren Beschäftigungsverhältnisse.

Damals gab es noch nicht den Min­dest­lohn, und heu­te bekommt ein Lang­zeit­ar­beits­lo­ser auch kei­nen Min­dest­lohn. Wobei 8,50 Euro mal 40 Stun­den gera­de mal 1.360 Euro brut­to sind. Davon kann kein Mensch leben. Heu­te sind in Deutsch­land fast 50 Pro­zent in Mini-Jobs, Zeit­ver­trä­gen, Leih­ar­beit oder Teil­zeit­ar­beit – Ten­denz steigend.

Sie block­te ab mit der Bemer­kung, dass gehö­re hier nicht zur Sache. Ich habe mir durch die Dis­kus­si­on etwas Sym­pa­thie bei den Ande­ren erwor­ben. Nach­dem wir die Fra­ge­bö­gen aus­ge­füllt hat­ten, muss­ten wir unse­re Unter­la­gen abge­ben. Der Sach­be­ar­bei­ter war ganz erstaunt über mei­ne beruf­li­che Qualifikation.

Ein Kon­takt
Als ich wie­der drau­ßen auf der Stra­ße stand, sprach mich ein Mann an. Er erzähl­te mir, er sei IT-Tech­ni­ker und 52 Jah­re alt. Er habe sein gan­zes Leben gear­bei­tet und in die Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung ein­ge­zahlt. Es kön­ne doch nicht sein, dass er nach einem Jahr Arbeits­lo­sen­geld nun Hartz IV bekom­me. Ich stimm­te ihm zu, aber er war am Boden zer­stört. Man hat­te ihn ent­las­sen und einen Jün­ge­ren genom­men. Ich ver­such­te noch, ihn für die Grup­pe zu gewin­nen, doch er hat­te mit sei­nem Leben abgeschlossen.

Ich traf ihn noch ein paar Mal, aber er war dann immer alko­ho­li­siert. Er wur­de dann immer aggres­si­ver mir gegen­über. Mir blieb nichts anders übrig, als die Bezie­hung zu ihm abzubrechen.

✳ ✳ ✳

Das „Integrations“-Projekt (Bewer­bungs­trai­ning für über 50-jäh­ri­ge Erwerbs­lo­se) blieb für alle fol­gen­los. Ich kann­te jeden­falls kei­nen, der dadurch einen Job bekom­men hätte.

Danach ging die Mise­re mit den Zeit­ar­beits­fir­men los. Ange­bo­te wie Drei-Schicht als Ver­pa­cker / Kom­mis­sio­nie­rer mit einem Ver­dienst von 1.200 Euro brut­to brach­ten mich in Rage.

Als ich den Sach­be­ar­bei­ter frag­te, wie mensch davon leben sol­le, und ihn dabei ungläu­big anguck­te, zuck­te er nur mit den Schul­tern und ver­ließ den Raum. Ich koch­te vor Wut.

Ein ande­res Mal wur­de ich bei einer Bewer­bung gefragt, ob ich in der Gewerk­schaft sei. „Natür­lich!“, sag­te ich dar­auf­hin, und durf­te anschlie­ßend den Raum verlassen.

In einem Land, wie dem unse­rem, das ein Brut­to­in­lands­pro­dukt von 2,1 Bil­lio­nen Euro im Jah­re 2012 erwirt­schaf­tet hat, ist es aso­zi­al, mit Arbeits­su­chen­den so umzugehen.

Ein Bei­spiel, um einen Begriff von den Dimen­sio­nen zu bekom­men: Die Erben des ver­stor­be­nen Aldi-Grün­ders Karl Albrecht kom­men mit 21,3 Mil­li­ar­den Dol­lar auf Platz 37 der „For­bes-Lis­te“ der Mul­ti­mil­li­ar­dä­re. Selbst, wenn sie jeden Tag eine Mil­li­on Euro aus­ge­ben wür­den, hät­ten sie erst in 58,4 Jah­ren die­ses Ver­mö­gen ver­prasst. Aber es kommt ja jeden Tag neu­er Pro­fit hinzu.

Wolli beim ISO-Sommerfest am Altrhein, 19. August 2017. (Foto: Avanti².)

Wol­li beim ISO-Som­mer­fest am Alt­rhein, 19. August 2017. (Foto: Avanti².)

Geht zur Basis!“
Alle mei­ne Erleb­nis­se und The­men konn­te ich mit der Grup­pe dis­ku­tie­ren. Hier zeich­net sich beson­ders aus, dass in die­ser Grup­pe viel Pra­xis gemacht wird. Mei­ne Genos­sIn­nen ken­nen aus lang­jäh­ri­ger Erfah­rung die Rea­li­tät. Sie labern nicht abs­trak­te, radi­ka­le Phra­sen. Genau dies hat mir unheim­lich viel gehol­fen. Ich ken­ne vie­le Grup­pen − auch aus dem­sel­ben Ver­ein −, denen kann ich nur die hie­si­ge Orga­ni­sa­ti­on empfehlen.

Ihr Lin­ken, geht mal weg von Euren Com­pu­tern. Geht zur Basis! Geht mal zu den Erwerbs­lo­sen, zu den pre­kär Beschäf- tig­ten. Denn die Basis ist immer noch die Arbei­te­rIn­nen­klas­se in all’ ihren Facetten.

Es hilft nicht, ellen­lan­ge Arti­kel in Euren lin­ken Zei­tun­gen zu schrei­ben. Die liest sowie­so kaum ein Mensch. Setzt Euch lie­ber mit der sozia­len Rea­li­tät aus­ein­an­der und enga­giert Euch im hart­nä­cki­gen sozia­len Widerstand.

Ich wer­de jeden­falls wei­ter­hin ver­su­chen, mit den Erwerbs­lo­sen in Kon­takt zu blei­ben, die Sup­pen­kü­chen auf­zu­su­chen, die Tafeln und so weiter.

Ein sati­ri­sches „Glück­wusch-Schrei­ben“
Zum Schluss noch etwas Sati­ri­sches von Wer­ner Lutz aus der Zei­tung Stra­ßen-Gazet­te vom März 2015, ein Glück­wunsch-Schrei­ben zu „Zehn Jah­re Hartz IV“:

Sehr geehr­te Frau Loose,
wir beglück­wün­schen Sie hier­mit zu Ihrem per­sön­li­chen Erfolg, die ers­ten zehn Jah­re Hartz IV über­lebt zu haben. Vie­le, die mit Ihnen vor zehn Jah­ren Leis­tungs­emp­fän­ger wur­den, haben es lei­der nicht über­lebt. Was wir Ihnen damals bei Inkraft­tre­ten übri­gens ver­heim­licht haben, ist die Tat­sa­che, dass Hartz IV als gro­ßes Test­pro­gramm für das künf­ti­ge ‚sozia­le End­la­ger‘ Deutsch­land kon­zi­piert wor­den ist. 

Zusam­men­fas­send freu­en wir uns jetzt, Ihnen mit­tei­len zu kön­nen, dass sich Hartz IV dafür her­vor­ra­gend eignet. 

Soge­nann­te Sozi­al­schma­rot­zer wie auch Sie wur­den näm­lich gezwun­gen, mit Hartz IV zwar nicht leben zu ler­nen, aber die Zeit irgend­wie her­um­zu­brin­gen. Dass dabei ein Leben mit mensch­li­cher Wür­de und aus­rei­chen­der exis­ten­zi­el­ler Siche­rung auf der Stre­cke bleibt, war den Initia­to­ren selbst­ver­ständ­lich klar und ist auch erklär­te Zielsetzung.

Aber modern den­ken­de und anpas­sungs­fä­hi­ge Men­schen wie Sie haben es mit sport­li­chem Ehr­geiz geschafft, in den letz­ten Jah­ren einen erfolg­rei­chen Über­le­bens­kampf zu gestal­ten. Dazu gehö­ren, wie Sie wis­sen, heu­te nicht nur der Auf­ent­halt in Wär­me­stu­ben oder das Wüh­len in Müll­ei­mern, son­dern auch das aben­teu­er­li­che und freie Leben auf der Straße. 

In ihrer gro­ßen sozia­len Ver­ant­wor­tung haben SPD und Grü­ne als Weg­be­rei­ter von Hartz IV übri­gens auch das Fla­schen­pfand erfun­den, das nicht nur einen Sinn im Leben gibt, son­dern neben­bei die Städ­te sau­ber hält.

Wir hat­ten ursprüng­lich geplant, Sie und alle wei­te­ren Hartz IV-Emp­fän­ger zu einem Gesund­heits­check ein­zu­la­den, erspa­ren uns dies aber nach gründ­li­cher Über­le­gung zu unse­rer eige­nen Sicherheit. 

In die­sem Sinn wün­schen wir Ihnen wei­ter­hin einen ange­neh­men Leistungsverlauf. 
Ihr Fall­ma­na­ger.“


* [Ursprüng­lich ist die­ser Text in drei Tei­len in Avan­ti² Nr. 9 von Mai 2015, Nr. 10 von Juni 2015 und Nr. 11 / 12 von Juli / August 2015 erschie­nen. Wir ver­öf­fent-lichen ihn in die­ser Bei­la­ge unver­än­dert mit einer redak­tio­nel­len Vor­be­mer­kung, offen­sicht­li­che Schreib­feh­ler wur­den kor­ri­giert und eini­ge wei­te­re Zwi­schen-über­schrif­ten ein­ge­fügt. Spä­ter hat auch ein ande­rer Autor von Avan­ti² das Kür­zel R. G. benutzt.]

Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Janu­ar 2021
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