H.B.
In unserer Veranstaltungsreihe „Spurensuche” beschäftigten wir uns am 21. August mit den Hintergründen eines heimtückischen politischen Auftragsmords, der von dem Diktator und Massenmörder Stalin persönlich angeordnet worden war.
Ihm fiel vor 75 Jahren, am 20. August 1940, in Coyoacan Leo D. Trotzki, zum Opfer. Er war ein unermüdlicher und unerschrockener Kämpfer für eine Welt ohne Ausbeutung, Bürokratie, Krieg und Unterdrückung. Die stalinistischen Häscher zwangen ihn zur Flucht um den halben Erdball. Auch das „demokratische“ Deutschland hatte ihm die Einreise verweigert, so dass er letzlich nur in Mexiko dauerhaftes Asyl finden konnte.
Es gibt kaum eine andere Person der ArbeiterInnenbwegung, die so massiv verleumdet, verfolgt und unterdrückt worden ist. Wer war also dieser Mensch, und was können wir noch 75 Jahre später von seinem Engagement lernen?
Ein Revolutionär
Geboren am 8. November 1879 als Sohn von Bauern in der Ukraine, gründet er bereits mit 18 Jahren in Odessa den „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“ und spürte bald die Repression des zaristischen Rußland. In der Revolution von 1905 wurde er zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjets (Rats) gewählt. Nach der Niederschlagung der Bewegung wurde er verurteilt und in die Verbannung nach Sibirien geschickt. Seit der Flucht ins Exil überwinterterte er bis zum Beginn der russsichen Revolution 1917. Nach seiner Rückkehr spielte er in Petrograd gemeinsam mit Lenin die entscheidende Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung der Oktoberrevolution.
Er war als Organisator der Roten Armee dafür verantwortlich, dass die militärischen Kräfte der brutalen in- und ausländischen Konterrevolution die junge Räterepublik nicht zerschlagen konnte.
Nach dem Scheitern der Revolution in Deutschland und in anderen europäischen Ländern, blieb die Sow- jetrepublik isoliert. Eine immer stärker werdende Bürokratie unter Stalin brachte die Partei, die 1919 gegründete III. Internationale und das ganze Land unter Kontrolle.
Im Rückblick datierte Trotzki den Sieg der politische Konterrevolution Stalins auf das Jahr 1923. Gegen die stalinistische Bürokratisierung des Rätestaates wandten sich ab Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts verschiedene Oppositionsgruppen. Im Herbst 1923 bildete sich die Linke Opposition prominenter Bolschewiki um Leo D. Trotzki und Jewgeni A. Preobraschenski. Sie forderte einen „neuen Kurs“ – insbesondere die Demokratisierung der Kommunistischen Partei und die planmäßige Industrialisierung der sowjetischen Wirt- schaft im Bündnis mit der Bauernschaft.
Die bürokratische Unterdrückung dieser Reformbewegung, die von der Parteibasis mehrheitlich unterstützt wurde, war im Wesentlichen bereits im Januar 1924 abgeschlossen. Die machtpolitische Ausschaltung der Opposition verbrämten die neuen Machthaber ideologisch als Kampf gegen eine „kleinbürgerliche Abweichung vom Leninismus “.
Noch im Herbst 1924 starteten sie zudem eine langanhaltende Diffamierungskampagne gegen den „Trotzkismus“. Sie war einerseits an die Abkehr von der internationalen revolutionären Strategie der Oktoberrevolution gekoppelt. Andererseits erfand sie das Dogma vom „Sozialismus in einem Lande“.
Im Februar 1929 wurde Trotzki auf Befehl Josef W. Stalins aus der Sowjetunion ausgewiesen. Erst seitdem konnte er ernsthaft versuchen, die linksoppositionellen Kräfte auf Weltebene politisch und organisatorisch zu bündeln.
Formell gründete sich die Internationale Linke Opposition (ILO) am 6. April 1930 in Paris. Das war eine Zwischenetappe auf dem weiteren „steinigen Weg“ zur IV. Internationale, um einen Begriff des amerikanischen Revolutionärs George Breitman zu gebrauchen, und für die organisierte Verteidigung des Konzepts der sozialistischen Rätedemokratie.
Die IV. Internationale
Der bedeutendste Text der ILO heißt „Die Internationale Linksopposition, ihre Aufgaben und Methoden“. Er ist im Dezember 1932 von Trotzki verfasst worden. Die darin enthaltenen „Elf Punkte“ („Grundprinzipien der Linken Opposition“) sind eine bemerkenswerte Zusammenfassung des Programms der ILO. Sie verteidigen die revolutionäre Tradition des Marxismus und des Oktobers 1917 gegen den Stalinismus. In ihrem Kern – Unabhängigkeit der proletarischen Partei, internationaler Charakter der Revolution, systematische linke Gewerkschaftsarbeit, Politik der Massenmobilisierung, Übergangsforderungen, Einheitsfronttaktik und Parteidemokratie – sind sie auch heute noch aktuell.
Anfang 1933, nur 15 Jahre nach der Novemberrevolution, konnten die Nazis die deutsche ArbeiterInnenbewegung vernichtend schlagen. Das politische Versagen der sozialdemokratischen II. und der stalinistischen III. Internationale (Komintern) war offenkundig geworden. Die bedeutendsten sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien der damaligen kapitalistischen Welt wollten keine Einheitsfront gegen den Faschismus schaffen. Auch die deutschen Gewerkschaften hatten kampflos kapituliert.
Trotzki analysierte in zahlreichen Broschüren, Artikel und Briefen den Aufstieg und den Siegs des Faschismus in Deutschland. Die bis heute unerreichte Klarsichtigkeit seiner Texte ist umso mehr zu würdigen, als er sie in seinem türkischen Exil Prinkipo und damit weitab von Deutschland verfasst hat.
1933 war eine historische Niederlage, die bis heute nachwirkt. Auch für die Internationale Linke Opposition (ILO), die sich ab Herbst 1933 Liga der Kommunisten-Internationalisten (LKI) nannte, sollte das Konsequenzen haben. Das bisherige - maßgeblich unter dem Einfluß Trotzkis beschlossene - Ziel einer „Reform“ der Komintern wurde aufgegeben.
Stattdessesn wurde nun - ebenfalls auf energisches Betreiben Trotzkis - der Aufbau einer neuen, keineswegs als „trotzkistisch“ verstandenen Internationale auf die Tagesordnung der ILO bzw. LKI gesetzt.
Er wollte unter allen Umständen verhindern, dass die revolutionäre Linke wie schon im Ersten Weltkrieg sich auch in einem erwarteten Zweiten Weltkrieg völlig zersplittert zeigte. Unter widrigsten Umständen war er die treibende Kraft bei diesem Unterfangen. Der Stalinismus in Rußland, der Faschismus in Italien und Deutschland, die konterrevolutionären Erfolge in Belgien, Frankreich und Spanien vertieften jedoch die Krise der ArbeiterInnenbewegung im Allgemeinen und der sozialistischen / kommunistsichen Linken im Besonderen.
Katastrophale Auswirkungen hatten auch die sogenannten Säuberungen in der Sowjetunion. Sie begannen auf Befehl Stalins nach dem ersten Moskauer Prozess von August 1936 gegen 16 führende Bolschewiki darunter Leo B. Kamenjew und Grigori J. Sinowjew. Zehntausende russische KommunistInnen, fast die gesamte alte Garde der Oktoberrevolution, die Mehrheit der Führung der Roten Armee und die meisten ausländischen KP-FunktionärInnen, die als EmigrantInnen in Moskau waren, fielen dem stalinistischen Terror zum Opfer. Es gelang Stalin und seiner Clique, die große Mehrheit der revolutionären Strömungen physisch zu liquidieren oder wenigstens zu demoralisieren.
Was den Stalinisten aber zunächst nicht gelang, war die Stimme Ihres schärfsten Kritikers, Leo D. Trotzki, zum Schweigen zu bringen. Unter widrigsten Umständen schrieb er nicht nur eine brilliante Analyse des Stalinismus (Verratene Revolution, 1936), sondern widerlegte mit Hilfe der Dewey-Kommission die unglaublichen Lügen der Moskauer Prozesse.
Stalinistischer Vernichtungskrieg
Die Hetze gegen den „Trotzkismus“, der im Mittelpunkt der Anklagen aller drei Moskauer Prozesse stand, wurde noch einmal in grotesker Form gesteigert. Stalin ebnete damit konkret auch den Weg für den Vernichtungskrieg seiner kriminellen Geheimpolizei GPU gegen die Bewegung für die IV. Internationale sowie für die Ermordung Trotzkis und seiner meisten Familienangehörigen.
Zudem waren tausende andere seiner UnterstützerInnen in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts politisch verfolgt. Vor allem in stalinistischen und faschistischen Gefängnissen und Lagern kamen viele von ihnen oft qualvoll zu Tode.
Angesichts dieser bedrohlichen Umstände grenzt die formelle Konstituierung der IV. Internationale am 3. September 1938 fast an ein Wunder. Fünf Jahre hartnäckiger Vorbereitungsarbeit hatten ihr trotz vieler Rückschläge den Weg geebnet. Dies ist vor allem das Verdienst Leo D. Trotzkis.
Gegen den Strom
Die neu gegründete Internationale beanspruchte nichts weniger, als einen neuen Aufschwung der Weltrevolution vorbereiten und anführen zu können. Das war ihre Perspektive für die Zeit nach dem Ende des damals erst bevorstehenden Zweiten Weltkriegs.
Das „Übergangsprogramm“, ein im wesentlichen von Trotzki verfasster Text, leistete den bedeutendsten inhaltlichen Beitrag für die Gründungskonferenz. Unter der Überschrift „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale“ knüpft es an das strategische Erbe der Oktoberrevolution an. Es will „den Massen in ihren Tageskämpfen helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution.
Diese Brücke sollte aus einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den heutigen Bedingungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unweigerlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.“
Auch heute hat dieser klassische Text der IV. Internationale trotz aller grundlegenden Veränderungen seitdem seine methodische Bedeutung nicht verloren.
Dennoch ist festzuhalten: Ohne die Existenz der schwachen internationalen Organisation wäre die revolutionäre Kontinuität völlig unterbrochen worden. Ihr bloßes Überleben bedeutete einen nicht zu unterschätzenden Erfolg.
Ein unschätzbares Erbe
Der viel zu früh verstorben französische Genosse Daniel Bensaid hat geschrieben, dass „die Geschichte des Trotzkismus [ohne Anführungszeichen!] den eminent politischen Anspruch [zeigt], nicht nach- oder aufzugeben, nicht die Waffen zu strecken. Der postume Sieg von Trotzki und seinen bekannten wie unbekannten Erben lag in der Entfaltung von Schätzen von Mut und Geisteskraft, um nicht die Orientierung zu verlieren, während so viele bekannte Köpfe sich aus Überdruss oder Opportunismus den Siegern des Augenblicks anschlossen…
Man muss nur die Ruinenfelder des zersprengten Stalinismus oder der zum Neoliberalismus konvertierten Sozialdemokratie betrachten – jene geschichtliche Konfusion, theoretische Sterilität, politische Inkonsistenz und die Unfähigkeit, eine Vergangenheit zu erklären, die nicht vergehen will –, um den wirklichen Preis jenes Sieges in der Niederlage ermessen zu können. Er bewahrt die Möglichkeit, von Neuem beginnen zu können.