„Gestalten“ oder Gegenmacht stärken?
S. T.
Die Digitalisierung stellt viele Gewissheiten in Frage. Das mag beunruhigen. Doch nichts tun und die Entwicklungen einfach auf sich zukommen lassen, das wäre fatal.
Die Digitalisierung wird vom Kapital immer weiter vorangetrieben. Im privaten Bereich geht mensch damit in der Regel recht locker um. Ein großer Teil der Gesellschaft befürwortet sie und hat sich damit arrangiert. Viele begrüßen diese Entwicklung sogar mit Jubel und sehnen sich nach weitere technische Neuerungen.
Der Einfluss von Technologien in unserem privaten Leben und im Arbeitsalltag lässt sich kaum aufhalten. Branchen und Berufe ändern sich oder sterben komplett aus. Gewerkschaften beschäftigen sich mit den „Chancen und Risiken“ der Digitalisierung für Beschäftigte. Sie sind größtenteils zu dem Schluss gekommen, dass die Digitalisierung zwar nicht zu stoppen, aber im Rahmen der „Mitbestimmung“ zu gestalten sei.
Viele Fragen
Doch, wo vieles noch in der Entwicklung ist, gibt es auch viele Fragen. Und diese betreffen fast alle.
Aus dem DGB-Index „Gute Arbeit 2016“ geht hervor, dass insgesamt 82 Prozent aller Beschäftigten von der Digitalisierung betroffen sind. In der chemischen Industrie sind es sogar 91 Prozent. Die elektronische Kommunikation ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Softwaregesteuerte Arbeitsabläufe und elektronische Geräte wie Scanner oder Datenbrillen zur Erfassung und Kontrolle von Arbeitsabläufen sehen über die Hälfte der Befragten in ihr Arbeitsumfeld einziehen.
Analysen der Folgen von Digitalisierung sind oft uneinheitlich und in sich widersprüchlich. Die Schätzungen, wie viele Arbeitsplätze dadurch wegrationalisiert werden und wie viele neu geschaffen werden, variieren stark.
In der Industrie wird die Digitalisierung in immer schnellerer Taktung neue Fertigungsverfahren, Produkte und Ausbeutungsmodelle hervorbringen – mit weit- reichenden Folgen für die Beschäftigten und ihre Arbeit. Etliche Berufe werden sich verändern, etliche neue (vornehmlich hoch- spezialisierte) werden entstehen.
Künstliche Intelligenz (KI), Big Data und Cloud Computing ermöglichen bisher nicht bekannte Aktivitäten und Analysen. Durch neue Ein- und Ausgabegeräte und neue Verfahren wie die Datenbrille oder die Gestensteuerung werden Tätigkeiten technisch grundlegend verändert.
Wissen ist dann nicht mehr nur ein sprichwörtlicher Machtfaktor. Prozesswissen, die Bedienung elektronischer Geräte sowie der Umgang mit und die Analyse von Informationsmengen aus der digitalisierten Planung, Konstruktion und Fertigung werden zu noch entscheidenderen Faktoren als bisher.
Viele Defizite
Doch es gibt große Defizite bei der Entwicklung der Digitalisierung. Die Beschäftigten und die Betriebsräte werden überwiegend gar nicht oder zu spät einbezogen, wenn es darum geht, die Digitalisierung im Betrieb zu beschleunigen. Drei Viertel der Befragten sagen, dass sie gar keinen oder kaum Einfluss darauf haben, wie digitale Technik eingesetzt wird. Wenn Beschäftigte als Experten ihres eigenen Arbeitens nicht gefragt werden, ist es sicher, dass die Veränderungen zu ihren Lasten gehen.
Zum Beispiel funktioniert in der Kaut- schukverarbeitung einiges wie eh und je. Maschinen, die oft 30, 40 oder sogar 50 Jahre alt sind, werden noch in vielen Betrieben eingesetzt. Und trotzdem hat sich vieles verändert. Seit einigen Jahren sind schrittweise computergestützte Produktionstechniken hinzugekommen. Neue Anlagen sind mittlerweile zu großen Teilen automatisiert. Diese Entwicklung setzt sich kontinuierlich fort, und es ist zu erwarten, dass die Änderungen jetzt nicht mehr langsam, sondern immer schneller kommen.
Viele Herausforderungen
Für betriebliche und gewerkschaftliche Interessenvertretungen stellt die Digitalisierung eine der größten Herausforderungen der Gegenwart dar. Denn es geht um nichts weniger als die Verteidigung von tariflich und gesetzlich geschützten Arbeitsbedingungen in einer brutalisierten Welt der digitalisierten Ausbeutung. Es ist schon jetzt in der Welt von GAFA (Google, Apple, Facebook und Amazon) zu sehen, wie radikal die „schöne neue Arbeitswelt“ entgrenzt und die Gesellschaft im Interesse der Profitmaximierung tiefgreifend verändert wird.
Gewerkschaften und Betriebsräte müssen bei Strafe ihrer weiteren Marginalisierung und einer noch größeren Bedeutungslosigkeit verstehen, was gesellschaftlich, wirtschaftlich und technisch passiert. Es wird nicht ausreichen, sich auf das Eintreten für mehr Qualifizierung sowie Aus- und Weiterbildung zu konzentrieren sowie eine erweiterte „Mitbestimmung“ und eine „sozial verträgliche“ Digitalisierung zu fordern.
Es bedarf einer grundlegenden Wende der Arbeit von Betriebsräten und Gewerkschaften: weg von der „Mitgestaltung“ des Kapitalismus und der Ausbeutung, hin zu einer erfolgreichen Strategie aktiver Stärkung von kämpferischer Gegenmacht in Betrieb und Gesellschaft. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung werden die Fragen der massiven Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalsaugleich sowie der betrieblichen und gesellschaftlichen Kontrolle und Aneignung der digitalen Welt stehen.