Coro­na: Regie­rungs­ver­sa­gen und not­wen­di­ge Gegenwehr

(Sekre­ta­ri­at der ISO, 06.12.2020)

 

1. Einen Erfolg hat der „Lock­down light“ bis­her nicht gebracht. Die Regie­rung hat die Kon­trol­le über die Ent­wick­lung der Pan­de­mie ver­lo­ren, die Zah­len der Infi­zier­ten und der Toten stei­gen unver­dros­sen wei­ter, Kran­ken­häu­ser und Gesund­heits­äm­ter gera­ten an ihr Limit. Hot­spots kön­nen nicht loka­li­siert wer­den. Klar ist nur eins: Das Virus zir­ku­liert in der jün­ge­ren Bevöl­ke­rung und wird von ihr in die älte­ren Alters­grup­pen getra­gen. Es infi­zie­ren sich die Jun­gen, ster­ben tun die Alten. Laut Robert-Koch-Insti­tut ist die 7-Tage-Inzi­denz bei den jun­gen Erwach­se­nen im Alter zwi­schen 15 und 29 Jah­ren beson­ders hoch. Von den bis­lang 17.602 Coro­na-Toten ins­ge­samt waren bis­lang jedoch über 11.000 in einem Alter über 80. In der Grup­pe der 60- bis 69-Jäh­ri­gen gab es mehr als 1500 Tote und bei den 50- bis 59-Jäh­ri­gen noch über 500.

thumbnail of Corona-Erklärung des ISO-Sekretariats v. 06.12.2020

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Es hat auch nicht den Anschein, als woll­ten Bund und Län­der noch ernst­haft etwas tun, um Infek­ti­ons­ver­läu­fe nach­zu­voll­zie­hen. Sie han­geln sich jetzt mit blin­den Maß­nah­men (AHA-Regeln und unge­ziel­te Kon­takt­ver­bo­te) durch die kom­men­den Wochen, bis die ers­ten Imp­fun­gen da sind. Dann wird ihre Stra­te­gie auf­ge­gan­gen sein, die Pan­de­mie mit Kon­takt­ver­bo­ten ein­zu­däm­men und auf einen schnel­len Impf­stoff zu hof­fen ‒ an den zuta­ge getre­te­nen Schwach­stel­len der öffent­li­chen Infra­struk­tur jedoch nichts zu ver­än­dern und den bis­he­ri­gen Stie­fel wei­ter­zu­fah­ren, dass der Staat sei­ne Infra­struk­tur­auf­ga­ben mehr und mehr Pri­va­ten überlässt.

Die Stra­te­gie der Regie­ren­den wird auf­ge­gan­gen sein, und trotz­dem wird sie ein Bei­spiel für eine geschei­ter­te Seu­chen­be­kämp­fung genannt wer­den müs­sen. Denn der Impf­stoff nimmt nur kurz­fris­tig den Druck aus dem Kes­sel; an den Ursa­chen der zuneh­men­den Ver­brei­tung von Seu­chen ändert sich da­durch nichts. Ursa­chen­be­kämp­fung haben die Herr­schen­den nicht betrie­ben, sie kön­nen es auch nicht, ohne ihre Wirt­schafts­wei­se in Fra­ge zu stellen.

2. War­um hat die Regie­rung die Kon­trol­le ver­lo­ren? Im wesent­li­chen aus zwei Gründen:
- Beim ers­ten Lock­down im Früh­jahr ist zuta­ge getre­ten, war­um er über­haupt not­wen­dig war: weil nicht aus­rei­chend Mas­ken, Beatmungs­ge­rä­te, Kran­ken­haus­bet­ten, ins­be­son­de­re in der Inten­siv­me­di­zin zur Ver­fü­gung war; und weil es in Kran­ken­häu­sern, Alten- und Pfle­ge­hei­men und in den Gesund­heits­äm­tern an Per­so­nal fehl­te. Kurz: Weil die ver­schie­de­nen Bun­des­re­gie­run­gen seit den 90er Jah­ren das öffent­li­che Gesund­heits­sys­tem durch sei­ne Aus­rich­tung an betriebs­wirt­schaft­li­cher Ratio­na­li­tät aus­ge­blu­tet haben.

Schutz­ma­te­ri­al ist danach ange­schafft wor­den, an der Per­so­nal­knapp­heit und -über­las­tung hat sich trotz Applaus nichts geän­dert, nicht ein­mal durch Tarif­ver­hand­lun­gen im öffent­li­chen Dienst. Nach wie vor wer­den Kran­ken­häu­ser still­ge­legt, auf die Gesund­heit des Per­so­nals wird hier so wenig Rück­sicht genom­men wie in den Betrie­ben über­haupt. Das ist der Hin­ter­grund für die Panik der Regie­ren­den, das Gesund­heits­sys­tem könn­te kol­la­bie­ren, bevor ein Impf­stoff in aus­rei­chen­der Men­ge parat steht. Die Panik ist berech­tigt, doch dass es soweit kommt, haben sie selbst verursacht.

- Die Maß­nah­men, die flä­chen­de­ckend ver­hängt wer­den, zie­len dar­auf ab, den zwi­schen­mensch­li­chen Kon­takt zu unter­bin­den, damit das Virus sich nicht aus­brei­tet. Das ist an sich rich­tig, wenn es denn ers­tens kon­se­quent und zwei­tens situa­ti­ons­ge­recht durch­ge­setzt wür­de. Bei­des ist nicht der Fall. Nur zwei Bei­spie­le: Kinos und Thea­ter wer­den geschlos­sen, obwohl sie vor­schrifts­ge­mäß auf­ge­rüs­tet haben; Jugend­li­che wer­den von der Park­bank gescheucht, aber der „Black Fri­day“ darf statt­fin­den, der spült ja Geld in die Kas­sen. Men­schen­ge­drän­ge in Geschäf­ten wird gedul­det, über­füll­te Bus­se auch, aber in den Pfle­ge­hei­men gibt es kei­ne Kon­trol­len, ob sich das Per­so­nal an die Vor­schrif­ten hält (in ande­ren Betrie­ben im übri­gen auch nicht).

Was in den nicht kon­sum- und dienst­leis­tungs­na­hen Betrie­ben pas­siert, dar­über erfährt man kaum etwas. Die Gewer­be­auf­sicht wird nicht auf­ge­stockt, damit mehr Kon­trol­len durch­ge­führt wer­den kön­nen. Der Staat übt wei­ter­hin kei­nen Druck aus, dass gera­de in Bran­chen, die als „sys­tem­re­le­vant“ gel­ten wie etwa Trans­port und Logis­tik, Beleg­schaf­ten nicht behin­dert wer­den in ihren Ver­su­chen, Inter­es­sen­ver­tre­tun­gen auf­zu­bau­en, die auch auf die Ein­hal­tung der Arbeits­schutz­ge­set­ze ach­ten könnten.

Tech­ni­sche und orga­ni­sa­to­ri­sche Maß­nah­men wie der Ein­bau von Fil­ter­an­la­gen in öffent­li­chen Räu­men, die kos­ten­lo­se Aus­ga­be von FFP2-Mas­ken, die Auf­sto­ckung von öffent­li­chen Trans­port­mit­teln fin­den nicht statt. Dabei wären sie bil­li­ger als die Sub­ven­tio­nie­rung von Ein­nah­me­aus­fäl­len bei Groß­be­trie­ben, die nur Mit­nah­me­ef­fek­te produzieren.

Sicher gibt es, wie immer und über­all, Men­schen, die sich gegen­über ihren Mit­men­schen nicht ver­ant­wor­tungs­be­wusst ver­hal­ten. Ihnen gegen­über müs­sen sinn­vol­le Maß­nah­men auch mit Nach­druck durch­ge­setzt wer­den. Das Coro­na-Manage­ment der Regie­run­gen ist jedoch geprägt von Ver­nach­läs­si­gung, Inkon­se­quenz und Willkür.

Die letz­te Novel­le des Infek­ti­ons­schutz­ge­set­zes setzt dem Gan­zen die Kro­ne auf: Ohne dass es im gerings­ten den Schutz vor Coro­na ver­bes­sern wür­de, wer­den der Bun­des­re­gie­rung vor­aus­ei­lend umfang­rei­che Voll­mach­ten erteilt, die ihr erlau­ben, das Par­la­ment zu umge­hen – und der Bun­des­tag stimmt auch noch zu.

3. Die Last der Pan­de­mie wird auf die Pri­vat­men­schen abge­wälzt, Frei­heits­rech­te wer­den ohne Not beschnit­ten, eine kol­lek­ti­ve Schul­te­rung in Form von Auf­rüs­tung der Infra­struk­tur und Son­der­hil­fen für die pre­kä­ren Teil der Bevöl­ke­rung, die in Not­la­gen nichts zuzu­set­zen haben, fin­det nicht statt. Die groß­zü­gig aus­ge­gos­se­nen Geld­mit­tel kom­men bei Hartz-IV-Bezie­hen­den, Solo-Selb­stän­di­gen, Kul­tur­schaf­fen­den, Obdach­lo­sen oder Flücht­lin­gen nicht oder kaum an, die Ver­mö­gen der 119 Milliardär*in­nen in Deutsch­land hin­ge­gen sind seit Aus­bruch der Pan­de­mie im März um 20 Pro­zent gestiegen.

Unter­neh­men in der Infor­ma­ti­ons- und Medi­zin­tech­nik, in der Phar­ma­in­dus­trie und im Inter­net­han­del ver­die­nen mit Coro­na eine gol­de­ne Nase. Deut­sche Milliardär*innen ver­zeich­ne­ten wäh­rend der Pan­de­mie einen Ver­mö­gens­an­stieg bis zu 77 Prozent.

4. Die Kon­takt­be­schrän­kun­gen bil­den ein ernst­haf­tes Hin­der­nis für die Mobi­li­sie­rung einer Gegen­wehr. Das nut­zen vie­le Unter­neh­men für eine regel­rech­te Aus­beu­tungs­of­fen­si­ve, vor allem in der Auto­mo­bil­in­dus­trie: Daim­ler etwa nutzt die Gunst der Stun­de scham­los, um mehr­fach gege­be­ne Zusa­gen in Bezug auf Arbeits­platz­si­che­run­gen zu bre­chen und sogar mit der Still­le­gung des Stamm­werks Unter­türk­heim zu dro­hen, Opel droht mit meh­re­ren tau­send betriebs­be­ding­ten Kün­di­gun­gen in Rüsselsheim…

Das dicke Ende, näm­lich die vol­len öko­no­mi­schen Aus­wir­kun­gen der Lock­downs, wird aber erst noch kom­men. Trotz Kurz­ar­bei­ter­geld lag die Zahl der Erwerbs­lo­sen im Novem­ber um eine hal­be Mil­li­on über der des Vor­jahrs. Und es ist nur eine Fra­ge der Zeit, wann die Regie­run­gen die Mil­li­ar­den, die sie so groß­zü­gig vor­wie­gend an die Ver­mö­gen­den aus­ge­schüt­tet hat, von den Pre­kä­ren und den abhän­gig Beschäf­tig­ten wie­der zurück­ver­langt – wann also die Schul­den­brem­se wie­der zum obers­ten Gebot wird.

5. In die­ser Situa­ti­on schla­gen wir die fol­gen­den For­de­run­gen für einen Akti­ons­plan vor – auch für eine Zeit „nach Corona“:

► Die Rei­chen müs­sen mit einer Son­der­ver­mö­gens­ab­ga­be („Coro­na-Steu­er“) belas­tet wer­den; die Last der auf­ge­nom­me­nen Schul­den darf nicht auf die Bevöl­ke­rung abge­wälzt werden.

► Kein Geld für Groß­be­trie­be, son­dern für Prekäre.

► Sofort­maß­nah­men für den Aus­bau sowie mehr und bes­ser bezahl­tes Per­so­nal in der Daseins­vor­sor­ge und in der öffent­li­chen Infrastruktur.

► Mas­ken, Impf­stof­fe und ande­re Schutz­maß­nah­men müs­sen gerecht und kos­ten­los ver­teilt werden.

► Die Öko­no­mi­sie­rung des Gesund­heits­we­sen muss gestoppt wer­den: kei­ne wei­te­re Pri­va­ti­sie­rung von Kran­ken­häu­sern, Besei­ti­gung des Sys­tems der Fallpauschalen.

► Am Gesund­heits­we­sen dür­fen Pri­va­te nicht ver­die­nen: der gesam­te Gesund­heits­sek­tor gehört in öffent­li­che Hand, Phar­ma­kon­zer­ne gehö­ren enteignet.

► Gewerk­schaf­ten und Betriebs­rä­te müs­sen ihre Kon­troll­rech­te in Bezug auf Arbeits- und Gesund­heits­schutz im Betrieb wahr­neh­men und sie dort erstrei­ten, wo sie ihnen ver­wehrt werden.

► Ver­bot von Ent­las­sun­gen; Ver­bot jeg­li­cher Ein­schrän­kung der Koali­ti­ons­frei­heit, ins­be­son­de­re auf betrieb­li­cher Ebene.

► Gera­de die am meis­ten benach­tei­lig­ten Men­schen benö­ti­gen wirk­sa­men Gesund­heits­schutz. Das heißt auch Aus­set­zen von Sank­tio­nen, Strom­sper­ren und Zwangs­räu­mun­gen, Anhe­bung des Regel­sat­zes, Bereit­stel­len von Hotel­zim­mern und Woh­nun­gen für Obdach­lo­se und Ille­ga­li­sier­te, Aus­bau von Frau­en­häu­sern für Opfer sexu­el­ler Gewalt. Nie­mand darf zurück­ge­las­sen werden!

► Mas­sen­tier­hal­tung, Wald­ro­dun­gen zuguns­ten von Ver­kehrs­flä­chen, Acker­land und Sied­lun­gen sowie der Ein­satz von Pflan­zen­schutz­mit­teln in der Land­wirt­schaft müs­sen ver­bo­ten wer­den; Koh­le­aus­stieg jetzt!

► Inter­na­tio­na­le Soli­da­ri­tät mit den Opfern der Kli­ma­ka­ta­stro­phe weltweit.

Trotz der Beschrän­kun­gen: Wir müs­sen aktiv werden.

Gesund­heits- und Arbeits­schutz in den Betrie­ben selbst in die Hand nehmen.

Gegen Pri­va­ti­sie­rung und Öko­no­mi­sie­rung kon­se­quent vorgehen.

Lasst uns eine star­ke sozia­le Front gegen Gewerk­schafts­be­kämp­fung, Ent­las­sun­gen und Spar­dik­ta­te bilden!

 

Sekre­ta­ri­at der ISO, 06.12.2020
Inter­na­tio­na­le Sozia­lis­ti­sche Organisation/Vierte Internationale

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