(Teil II)
U.D.
Wir veröffentlichen hier Teil II des Einleitungsreferats unseres Frühjahr-Seminars 2021 zur Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. Der erste Teil erschien in der Mai-Ausgabe von Avanti² Rhein-Neckar.
Inzwischen ist die internationale arbeitende Klasse seit fast fünf Jahrzehnten mit neoliberal-kapitalistischer Politik konfrontiert. Die Folgen davon sind verheerend.
Die globalen Krisen „synchronisieren“ und verschärfen sich. Milliarden von Menschen sind von ihnen betroffen: Klimakrise, Wirtschaftskrisen, globale soziale Ungleichheit, Frauenfeindlichkeit, rassistisch und religiös motivierte Unterdrückung und Gewalt, Erwerbslosigkeit, Wohnungskrise, Armut, Hunger, Kindersterblichkeit, Angriffe auf demokratische Rechte und Menschenrechte, Kriege, Flucht und nicht zuletzt Epidemien oder gar Pandemien.
Gleichzeitig konzentriert sich weltweit Reichtum und damit auch reale Macht auf immer weniger Menschen.
Die massive Weltwirtschaftskrise 2008/2009 hat den neoliberalen Kapitalismus erschüttert und in Frage gestellt. Selbst die Klasse der Kapitalbesitzenden war für kurze Zeit verunsichert. Aber letztendlich hielt sie nicht nur am Neoliberalismus fest, sondern verstärkte ihre Angriffe auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse.
Neoliberalismus in Deutschland
In der Bundesrepublik hatte die SPD/FDP-Regierung bereits Mitte der 1970er und Anfang der 1980er Jahre erste „Sparoperationen“ durchgeführt. Aber das Kapital wollte mehr.
Das FDP-Mitglied Graf Lambsdorff veröffentlichte 1982 das nach ihm benannte „Lambsdorff-Papier“. Dieses Papier führte zum Ende der damaligen SPD/FDP-Regierung und war zugleich das Startsignal und der „Masterplan“ für die neoliberalen Angriffe der folgenden Jahrzehnte in Deutschland.
Neben „kapitalfreundlichen“ Vorschlägen wie die Senkung von Unternehmenssteuern enthielt dieses Papier zahlreiche Forderungen, die sich unmittelbar gegen die arbeitende Klasse richteten.
Zum Beispiel:
• Die „Konsolidierung der Sozialsysteme“ ohne Anhebung der So zialversicherungsbeiträge und Einführung zusätzlicher „privater“ Abgaben und Zuzahlungen („Selbstvorsorge“ und Eigenbeteiligung).
• Die Begrenzung des Arbeitslosengeldbezuges.
• Strengere Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose.
• Abschläge bei der Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze.
• Die Anhebung der Altersgrenze.
• Die Flexibilisierung der Arbeitszeit.
• Weitere Aushebelung des Kündigungsschutzes.
Von „Schwarz-Gelb“ zu „Rot-Grün“
Ab 1982 begann die CDU/CSU/FDP-Regierung unter Kohl/Genscher mit der Umsetzung des im Lambsdorff-Papier formulierten neoliberalen Programms. Ihr war bewusst, dass es dafür Zeit und Beharrlichkeit brauchte. Insbesondere, um auf ideologischem Gebiet die angekündigte „geistig-moralische Wende“ in Deutschland durchzusetzen. Diese Wende sollte den linken „Ungeist“ der 1960er und 1970er Jahre überwinden und die westdeutschen Gewerkschaften politisch und organisatorisch schwächen.
Beharrlichkeit brauchte es tatsächlich. Denn der anfängliche Widerstand, auch der gewerkschaftliche, war stärker als erwartet. Noch 1984 setzte die IG Metall mit einem wochenlangen Streik die 35-Stundenwoche durch.
Dieser Streikkampf übte zwar einen politisierenden Einfluss auf die gesamte Gesellschaft aus, aber er reichte nicht aus, um den neoliberalen Umbruch zu stoppen. So war er das bedeutendste große Aufbäumen der Gewerkschaften vor einer langen Phase des gewerkschaftlichen und politischen Zurückweichens ab Ende der 1980er Jahre.
Die kapitalistische „Wiedervereinigung“ Deutschlands förderte die politische Orientierungslosigkeit der arbeitenden Klasse weiter. Nicht zuletzt dadurch war es den Neoliberalen möglich, auch im vereinigten Deutschland ihre Ideologie erfolgreich zu verankern. Der weltwirtschaftliche Konkurrenzdruck, das Drohen mit Standortverlagerungen, das permanente Schüren von Angst durch Regierung und Kapital führten zur weiteren Anpassung.
Die mehrheitlich sozialdemokratischen Gewerkschaftsführungen wollten und konnten dem politisch nichts entgegensetzen. Sie verfügten weder über ein gesellschaftliches Gegenmodell noch über eine wirksame Strategie gewerkschaftlicher Gegenmacht. Unter diesen Voraussetzungen konnten in den Gewerkschaften und den Betrieben „Standortdenken“ und neoliberale Ideen immer mehr Fuß fassen.
Erst durch diese jahrelange ideologische Infiltrierung wurde der Weg frei gemacht für die entscheidende Verschärfung der neoliberalen Wende. Diese folgte ab 1998 unter der „rot-grünen“ Schröder/Fischer-Regierung. Hilfreich war dabei die enge Verbindung zwischen SPD-Führung und Gewerkschaftsapparat. So konnte „Rot-Grün“ mit seiner Agenda-Politik die von Kohl/Genscher begonnene neoliberale „Wende“ ohne größeren gewerkschaftlichen Widerstand rücksichtslos und „erfolgreich“ zu einem vorläufigen Ende bringen.