Kapi­ta­lis­ti­sche oder sozia­lis­ti­sche Demokratie?

 

Manu­el Kellner

Vor 150 Jah­ren zeig­te die Pari­ser Kom­mu­ne, was Demo­kra­tie der arbei­ten­den Klas­sen heißt. Die damals ver­fein­de­ten Herr­scher Frank­reichs und Preu­ßens erkann­ten jedoch die Gefahr. Sie waren sich des­halb schnell einig, in der blu­ti­gen Unter­drü­ckung die­ser revo­lu­tio­nä­ren Erhe­bung gemein­sa­me Sache zu machen.

Für die ISO und die IV. Inter­na­tio­na­le ist die Kom­mu­ne bis heu­te ein bedeu­ten­der poli­ti­scher Bezugs­punkt. Ins­be­son­de­re unser Genos­se Ernest Man­del (1923 - 1995) hat sich mit dem Ver­hält­nis von kapi­ta­lis­ti­scher und sozia­lis­ti­scher Demo­kra­tie auseinandergesetzt.*

Demo am 1. Mai 2021 in Paris ( Copyright Photothèque Rouge / Martin Noda / Hans Lucas)

Demo am 1. Mai 2021 in Paris ( Copy­right Pho­to­t­hè­que Rouge / Mar­tin Noda / Hans Lucas)

Für Man­del ist die bür­ger­lich-par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie moder­ner Prä­gung auch nur ein poli­ti­sches Sys­tem zur Auf­recht­erhal­tung der Herr­schaft der bür­ger­li­chen Klasse.

Wäh­rend die demo­kra­ti­schen Frei­hei­ten sei­ner Ansicht nach für die Arbei­ter­klas­se wert­voll sind und ver­tei­digt wer­den müs­sen, kri­ti­siert er auch die demo­kra­tischs­te bür­ger­lich-demo­kra­ti­sche Repu­blik als viel zu wenig demo­kra­tisch, weil sie eine nur indi­rek­te Demo­kra­tie ist, weil sie auf for­ma­ler Gleich­heit bei fak­ti­scher Ungleich­heit beruht und weil die öko­no­mi­sche und sozia­le Macht der Besit­zen­den in der Pra­xis des täg­li­chen Lebens zur Unter­wer­fung der Besitz­lo­sen führt:

Ers­tens ist die bür­ger­lich-par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie eine indi­rek­te Demo­kra­tie, in der nur eini­ge tau­send oder zehn­tau­send ‚Volks­ver­tre­ter‘ (Abge­ord­ne­te, Sena­to­ren, Bür­ger­meis­ter, Gemein­de­rä­te etc.) an der Ver­wal­tung teil­neh­men. Die über­gro­ße Mehr­heit der Bür­ger ist von einer sol­chen Teil­nah­me aus­ge­schlos­sen. Ihre ein­zi­ge ‚Macht‘ besteht dar­in, alle vier oder fünf Jah­re einen Stimm­zet­tel in die Wahl­ur­ne zu werfen.

Zwei­tens ist die poli­ti­sche Gleich­heit in einer bür­ger­lich-par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie eine rein for­ma­le und kei­ne wirk­li­che Gleich­heit. For­mal haben der Rei­che und der Arme das glei­che ‚Recht‘, eine Zei­tung zu grün­den, deren Betrieb Mil­lio­nen kos­tet. For­mal haben Rei­che und Arme das glei­che ‚Recht‘, im Fern­se­hen Sen­de­zeit zu kau­fen und somit die glei­che ‚Mög­lich­keit‘, den Wäh­ler zu beeinflussen.

Aber da die Wahr­neh­mung die­ser Rech­te gewal­ti­ge finan­zi­el­le Mit­tel erfor­dert, kann sie nur der Rei­che voll genie­ßen. Den Kapi­ta­lis­ten wird es gelin­gen, eine gro­ße Wäh­ler­schaft zu beein­flus­sen, die mate­ri­ell von ihnen abhän­gig ist, indem sie Zei­tun­gen, Radio­sta­tio­nen und Fern­seh­zeit dank ihres Gel­des kau­fen kön­nen. Sie kon­trol­lie­ren Par­la­men­ta­ri­er und Regie­rung kraft ihres Kapitals.

Selbst wenn man schließ­lich von all die­sen Beschrän­kun­gen, die der bür­ger­lich-par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie eigen sind, abse­hen und fälsch­li­cher­wei­se anneh­men wür­de, sie sei voll­kom­men, blie­be immer noch die Tat­sa­che, dass es nur eine poli­ti­sche Demo­kra­tie ist. Denn wem nützt eine poli­ti­sche Gleich­heit zwi­schen arm und reich – wenn es sie über­haupt gäbe! – wenn sie Hand in Hand geht mit einer enor­men, stän­dig zuneh­men­den wirt­schaft­li­chen und sozia­len Ungleichheit?

Selbst wenn die Armen und die Rei­chen genau die­sel­ben poli­ti­schen Rech­te hät­ten, behiel­ten die letz­te­ren ihre gewal­ti­ge öko­no­mi­sche und sozia­le Macht, die die Armen unver­meid­lich im täg­li­chen Leben den Rei­chen unter­wer­fen wür­de, auch in der prak­ti­schen Anwen­dung der poli­ti­schen Rech­te.“1

Gren­zen der bür­ger­li­chen Demokratie
Die­se grund­le­gen­den Gren­zen der bür­ger­li­chen Demo­kra­tie wer­den durch das all­ge­mei­ne Stimm­recht und die dar­auf grün­den­de Mög­lich­keit der Wahl von Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­tern von Arbei­ter­par­tei­en in die Par­la­men­te nicht ange­tas­tet. Wahl­recht und Par­la­men­te sind nur ein Ele­ment der bür­ger­lich-demo­kra­ti­schen Repu­bli­ken, und zwar eines, des­sen Gewicht im Zuge der Ent­wick­lung zurückgeht:

Das gestürzte Denkmal Napoléons I. [Mai 1871] (Foto: Bruno Braquehais; Gemeinfrei)

Das gestürz­te Denk­mal Napo­lé­ons I. [Mai 1871] (Foto: Bru­no Braqueh­ais; Gemeinfrei)

Es ist bezeich­nend, dass in dem Maße, wie das all­ge­mei­ne Wahl­recht von den arbei­ten­den Mas­sen erobert wird und Arbei­ter­ver­tre­ter ins Par­la­ment ein­zie­hen, das Schwer­ge­wicht des auf die par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie gegrün­de­ten Staa­tes sich unwei­ger­lich vom Par­la­ment auf den stän­di­gen Staats­ap­pa­rat ver­la­gert: ‚Die Minis­ter kom­men und gehen, die Poli­zei bleibt‘. Die­ser Staats­ap­pa­rat befin­det sich, was sei­ne Zusam­men­set­zung, die Art und Wei­se, wie er sei­ne Hier­ar­chie orga­ni­siert und was die Mecha­nis­men der Aus­wahl und des Auf­stiegs anbe­langt, in voll­stän­di­ger Über­ein­stim­mung mit dem mitt­le­ren und gro­ßen Bür­ger­tum. Unlös­ba­re ideo­lo­gi­sche, gesell­schaft­li­che und wirt­schaft­li­che Bedin­gun­gen ver­knüp­fen den Staats­ap­pa­rat mit der Bour­geoi­sie. Alle hohen Beam­ten bezie­hen ein Ein­kom­men, das die Akku­mu­la­ti­on pri­va­ten Kapi­tals erlaubt, wenn auch oft in beschei­de­nem Umfang. Das bewirkt, dass die Leu­te auch per­sön­lich an der Ver­tei­di­gung des Pri­vat­ei­gen­tums und an einem unge­stör­ten Gang der kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schaft inter­es­siert sind. Außer­dem ist der auf den bür­ger­li­chen Par­la­men­ta­ris­mus gegrün­de­te Staat mit Leib und See­le mit den gol­de­nen Ket­ten der finan­zi­el­len Abhän­gig­keit und der öffent­li­chen Ver­schul­dung an das Kapi­tal gebun­den. Kei­ne bür­ger­li­che Regie­rung kann regie­ren, ohne stän­dig Kre­di­te zu ver­lan­gen, die von den Ban­ken, vom Finanz­ka­pi­tal, von der Groß­bour­geoi­sie kon­trol­liert wer­den. Jede anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Poli­tik einer Regie­rung von Arbei­ter­par­tei­en wür­de einen sofor­ti­gen Zusam­men­stoß mit der finan­zi­el­len und wirt­schaft­li­chen Sabo­ta­ge der Unter­neh­me­rIn­nen nach sich zie­hen. ‚Inves­ti­ti­ons­streik‘, Kapi­tal­flucht, Infla­ti­on, Schwarz­markt, Dros­se­lung der Pro­duk­ti­on und Arbeits­lo­sig­keit wären die Fol­gen einer sol­chen Sabo­ta­ge.“2

Die repres­si­ven Funk­tio­nen des bür­ger­li­chen Staa­tes kön­nen in nor­ma­len Zei­ten für die Mas­se der abhän­gig Beschäf­tig­ten zurück­tre­ten, weil das nor­ma­le Funk­tio­nie­ren der kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schaft und Gesell­schaft zur Vor­herr­schaft der bür­ger­li­chen Ideo­lo­gie und zur Unan­ge­tastet­heit der Klas­sen­herr­schaft führt. Anders ist dies jedoch in Kri­sen­zei­ten, wo auch die bür­ger­li­che Demo­kra­tie zeigt, dass der Staat – wie von Marx und Engels ana­ly­siert – letz­ten Endes nur eine Grup­pe bewaff­ne­ter Men­schen im Dienst der Herr­schen­den ist.3

Frei­heit durch sozia­lis­ti­sche Demokratie
Man­del legt gro­ßen Wert dar­auf, dass das poli­ti­sche Sys­tem, das unmit­tel­bar nach der sozia­lis­ti­schen Revo­lu­ti­on ent­steht, demo­kra­ti­scher sein soll als die demo­kra­tischs­te Repu­blik. Sei­ne all­ge­mei­nen For­mu­lie­run­gen zu die­sem The­ma in popu­la­ri­sie­ren­den Dar­stel­lun­gen zei­gen die Ver­wandt­schaft die­ser Posi­ti­on mit der­je­ni­gen von Marx (oder auch von Lenin wie in des­sen Schrift Staat und Revo­lu­ti­on, auf die er sich immer wie­der beruft), aber durch­aus auch mit der anar­chis­ti­schen Vor­stel­lung einer herr­schafts­frei­en Gesell­schaft, obwohl es sich in der mar­xis­ti­schen Tra­di­ti­on immer noch um einen „Staat“ han­delt – aber eben um einen, der den Keim des eige­nen Abster­bens bereits in sich trägt:

Die von Frauen verteidigte Barrikade am Place Blanche [Mai 1871] (Litographie: Hector Moloch; Gemeinfrei)

Die von Frau­en ver­tei­dig­te Bar­ri­ka­de am Place Blan­che [Mai 1871] (Lito­gra­phie: Hec­tor Moloch; Gemeinfrei)

Der Arbei­ter­staat wird demo­kra­ti­scher sein als der auf der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie beru­hen­de Staat, weil er die direk­te Demo­kra­tie stark aus­deh­nen wird. Es wird ein Staat sein, der mit sei­ner Ent­ste­hung schon abzu­ster­ben beginnt, indem er wei­te Berei­che des sozia­len Lebens der Selbst­ver­wal­tung der betrof­fe­nen Bür­ger (Post, Mas­sen­me­di­en, Gesund­heit, Unter­richt, Kul­tur etc.) über­tra­gen wird. Er wird die Mas­sen der in Arbei­ter­rä­ten orga­ni­sier­ten Arbei­te­rIn­nen zur direk­ten Aus­übung der Macht her­an­zie­hen und wird die Gren­ze zwi­schen gesetz­ge­ben­der und voll­zie­hen­der Gewalt nie­der­rei­ßen. Er wird den Kar­rie­ris­mus im öffent­li­chen Leben besei­ti­gen, indem er die Bezü­ge der Funk­tio­nä­re, ein­schließ­lich der höchs­ten, auf den Lohn eines durch­schnitt­lich qua­li­fi­zier­ten Arbei­ters beschrän­ken wird. Er wird die Her­aus­bil­dung einer neu­en Kas­te von Ver­wal­tungs­bü­ro­kra­ten mit der Ein­füh­rung des Grund­sat­zes der obli­ga­to­ri­schen Rota­ti­on aller Man­dats­trä­ger verhindern.

Der Arbei­ter­staat wird demo­kra­ti­scher sein als der auf der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie beru­hen­de Staat, weil er die mate­ri­el­len Grund­la­gen für die Aus­übung der demo­kra­ti­schen Rech­te durch alle schafft. Dru­cke­rei­en, Radio- und Fern­seh­sta­tio­nen oder Ver­samm­lungs­räu­me wer­den kol­lek­ti­ves Eigen­tum und ste­hen jeder Grup­pe von Arbei­ten­den, die es wünscht, zur Ver­fü­gung. Das Recht, ver­schie­de­ne poli­ti­sche Orga­ni­sa­tio­nen zu grün­den, ein­schließ­lich einer Oppo­si­ti­on, oppo­si­tio­nel­le Zei­tun­gen zu ver­trei­ben und als poli­ti­sche Min­der­heit in Radio, Fern­se­hen und Pres­se zu Wort zu kom­men, wird von den Arbei­ter­rä­ten unnach­gie­big ver­tei­digt wer­den. Die all­ge­mei­ne Bewaff­nung der arbei­ten­den Mas­sen, die Besei­ti­gung der ste­hen­den Armee und des Unter­drü­ckungs­ap­pa­ra­tes, die Wahl der Rich­ter, die voll­kom­me­ne Öffent­lich­keit aller Vor­gän­ge wer­den die bes­te Garan­tie dafür sein, dass kei­ne Min­der­heit sich das Recht anma­ßen kann, irgend­ei­ne Grup­pe von Werk­tä­ti­gen von der Aus­übung der demo­kra­ti­schen Frei­hei­ten aus­zu­schlie­ßen.“4

Der Inhalt, über den in einer sol­chen Räte­de­mo­kra­tie demo­kra­tisch ent­schie­den wer­den soll, ist auch erwei­tert gegen­über dem, was in die Ent­schei­dungs­kom­pe­tenz bür­ger­li­cher Par­la­men­te fällt. Außer den poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen geht es vor allem um die über­grei­fen­den wirt­schaft­li­chen Rich­tungs­ent­schei­dun­gen. Da die gro­ßen Pro­duk­ti­ons­mit­tel ver­staat­licht sind mit dem Ziel, sie wirk­lich – und nicht nur auf dem Papier – zu ver­ge­sell­schaf­ten, müs­sen sie auch von der Gesell­schaft ver­wal­tet werden.

Außer den Fra­gen, die Orga­nen der Selbst­ver­wal­tung in den ein­zel­nen Betrie­ben über­las­sen wer­den kön­nen, geht es um Pro­ble­me, die die gan­ze Gesell­schaft etwas ange­hen, da sie für deren wei­te­re Geschi­cke bedeut­sam sind. Ob ein Atom­kraft­werk gebaut wer­den soll oder nicht, kann weder von einer Beleg­schaft noch von einer Gemein­de allei­ne ent­schie­den wer­den. Aber auch die Ver­wen­dung des Mehr­pro­dukts über­haupt ist eine Fra­ge von all­ge­mein gesell­schaft­li­cher Bedeutung.

Es gibt immer ver­schie­de­ne Optio­nen: Sol­len die Fort­schrit­te der Arbeits­pro­duk­ti­vi­tät genutzt wer­den, um mehr Urlaub zu ermög­li­chen oder um wei­te­re Uni­ver­si­tä­ten zu grün­den? Soll die täg­li­che Arbeits­zeit wei­ter ver­kürzt wer­den oder sol­len mehr Res­sour­cen in die Opti­mie­rung der Ener­gie­ge­win­nung gesteckt wer­den? Und wenn dies alles erwünscht ist: In wel­chen Pro­por­tio­nen sol­len die ver­schie­de­nen Belan­ge bedacht wer­den? Eine ganz wich­ti­ge Fra­ge ist immer die Inves­ti­ti­ons­quo­te, das heißt die Auf­tei­lung der gesell­schaft­li­chen Auf­wen­dun­gen in die Erwei­te­rung der Pro­duk­ti­on (die Zukunft) und in die Erwei­te­rung des Kon­sums im wei­ten Sin­ne des Wor­tes (die Gegenwart).

Die Verhaftung von Louise Michel am 24. Mai 1871 (Gemälde: Jules Girardet; Gemeinfrei)

Die Ver­haf­tung von Loui­se Michel am 24. Mai 1871 (Gemäl­de: Jules Girar­det; Gemeinfrei)

Best­mög­li­che Kor­rek­tur von Fehlern
Man­del schließt kei­nes­wegs Irr­tü­mer aus, wenn über sol­che Fra­gen demo­kra­tisch ent­schie­den wird. Er ist aber der Mei­nung, dass auf demo­kra­ti­schem Weg began­ge­ne Feh­ler am bes­ten kor­ri­giert wer­den kön­nen. Sozia­lis­ti­sche Demo­kra­tie ist für ihn nicht nur ein poli­tisch-mora­li­sches Erfor­der­nis auf­grund der eman­zi­pa­to­ri­schen Natur des sozia­lis­ti­schen Ziels, son­dern auch ein Mit­tel für die öko­no­mi­sche Effi­zi­enz der Plan­wirt­schaft in einer Übergangsgesellschaft:

Die Revo­lu­ti­on, die der Sozia­lis­mus in der Wirt­schafts- und Sozi­al­po­li­tik mit sich bringt, bedeu­tet auch, dass die Ent­schei­dung, einen Teil der für den lau­fen­den Kon­sum poten­ti­ell ver­füg­ba­ren Hilfs­quel­len der Ent­wick­lung der Pro­duk­tiv­kräf­te zu opfern, von der Mas­se der Inter­es­sier­ten selbst getrof­fen wer­den muss. Im Gegen­satz zum Kapi­ta­lis­mus oder zum Sys­tem der büro­kra­ti­schen Pla­nung wer­den die­se Opfer auf frei­wil­li­ger Basis gebracht. Es ist mög­lich (wenn auch kei­nes­wegs sicher), dass man hier­durch in bestimm­ten Fäl­len kei­ne opti­ma­le Wachs­tums­ra­te erreicht. Aber selbst in die­sem Fall hat der began­ge­ne Irr­tum eine höchst erzie­he­ri­sche Wir­kung und wird sich so bald nicht wie­der­ho­len. Ledig­lich in einem Sys­tem büro­kra­ti­scher Pla­nung, in dem jede öffent­li­che Dis­kus­si­on und Kri­tik fehlt, kön­nen offen­sicht­li­che Irr­tü­mer in der Wirt­schafts­po­li­tik […] bestehen blei­ben, ohne berich­tigt zu wer­den.“5

Die knapp 60-sei­ti­ge Ein­lei­tung von Man­del zu der von ihm 1971 her­aus­ge­ge­be­nen Antho­lo­gie zu Arbei­ter­kon­trol­le, Arbei­ter­rä­te, Arbei­ter­selbst­ver­wal­tung6 stellt ein bemer­kens­wer­tes Kon­zen­trat sei­ner poli­ti­schen Kon­zep­ti­on ins­ge­samt dar. […] [Sie] ist aber auch geeig­net, Man­dels Posi­ti­on zur sozia­lis­ti­schen Demo­kra­tie zu erläu­tern, sowohl hin­sicht­lich des Cha­rak­ters ihrer Insti­tu­tio­nen wie auch in Hin­blick auf die Ver­bin­dung von poli­ti­scher Herr­schaft der Arbei­ter­klas­se, Selbst­ver­wal­tung der Betrie­be und der gesell­schaft­li­chen Ein­rich­tun­gen und demo­kra­ti­scher gesamt­wirt­schaft­li­cher Planung.

Die Ver­bin­dung von Stra­te­gie und Ziel ist bei Man­del immer die kol­lek­ti­ve Eigen­ak­ti­vi­tät der Pro­du­zen­tin­nen und Pro­du­zen­ten, die vom Objekt zum Sub­jekt wer­den, wobei gleich­zei­tig der Erfolg sei­nes Modells nur vor­stell­bar ist, wenn es gelingt, einen hohen poli­ti­schen, kul­tu­rel­len und ver­wal­te­ri­schen Akti­vi­täts­grad eines gro­ßen Teils die­ser Pro­du­zen­tin­nen und Pro­du­zen­ten auf­recht zu erhal­ten. Schon dar­aus ergibt sich die gro­ße Bedeu­tung einer radi­ka­len Ver­kür­zung der Arbeitszeit.

Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on im Klassenkampf
Aus fort­ge­schrit­te­nen Selbst­or­ga­ni­sa­ti­ons­for­men der Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter im Klas­sen­kampf ent­ste­hen für Man­del die Keim­for­men der künf­ti­gen sozia­lis­ti­schen Repu­blik. Das basis­de­mo­kra­ti­sche Ele­ment ist für die­se Keim­for­men charakteristisch:

Wenn man die Ent­wick­lung eines loka­len Gene­ral­streiks beob­ach­tet; wenn sich dann demo­kra­tisch gewähl­te Streik­ko­mi­tees nicht nur in einer Fabrik, son­dern in allen Fabri­ken der Stadt (viel­mehr noch in der Regi­on, im Land) bil­den, die von Voll­ver­samm­lun­gen der Strei­ken­den gewählt wer­den; wenn die­se Komi­tees sich zusam­men­schlie­ßen, sich zen­tra­li­sie­ren und ein Organ schaf­fen, wel­ches regel­mä­ßig sei­ne Dele­gier­ten zusam­men­ruft, dann ent­ste­hen ter­ri­to­ria­le Arbei­ter­rä­te, Basis­zel­len des zukünf­ti­gen Arbei­ter­staa­tes. Der ers­te ‚Sowjet‘ in Petro­grad war nichts ande­res als das: ein Rat der Dele­gier­ten der Streik­ko­mi­tees der wich­tigs­ten Fabri­ken der Stadt.“7

Die Kampf­füh­rung selbst muss laut Man­del demo­kra­ti­schen Cha­rak­ter haben, um erfolg­reich zu sein, wie auch ana­log der Staat, der aus der Erobe­rung der poli­ti­schen Macht durch die Arbei­ter­klas­se her­vor­geht, demo­kra­tisch sein muss, eben­so sehr um die Wirt­schaft effi­zi­ent zu füh­ren wie um dem eman­zi­pa­to­ri­schen Ziel gerecht zu werden:

All­ge­mei­ner aus­ge­drückt: die sozia­lis­ti­sche Revo­lu­ti­on, deren Auf­ga­be in der Umwand­lung der über­wäl­ti­gen­den Mehr­heit der Arbei­ter, der Aus­ge­beu­te­ten und Unter­drück­ten von Objek­ten in Sub­jek­te der Geschich­te, von ent­frem­de­ten Men­schen in sol­che, die ihr eige­nes Schick­sal bestim­men, besteht, kann nicht ohne die bewuß­te Betei­li­gung der Mas­sen in Angriff genom­men wer­den. Eine sol­che Revo­lu­ti­on kann so wenig hin­ter dem Rücken der Inter­es­sen­ten rea­li­siert wer­den, wie ein Wirt­schafts­plan nicht ‚hin­ter dem Rücken‘ derer ange­wandt wer­den kann, die die Wirt­schaft ver­wal­ten.“8


Fuß­no­ten
1 Ernest Man­del, Ein­füh­rung in den Mar­xis­mus, Frank­furt am Main 1979, S. 112 f.
2 Eben­da, S. 110 f.
3 Vgl. ebd., S. 114.
4 Ebd., S. 116 f. Auf S. 95 f. fin­det sich dort Man­dels Wür­di­gung der Pari­ser Kommune. 
5 Ernest Man­del, Mar­xis­ti­sche Wirt­schafts­theo­rie, Frank­furt am Main 1972, 2. Bde., S. 801 f.
6 Vgl. Ernest Man­del (Hg.), Arbei­ter­kon­trol­le, Arbei­ter­rä­te, Arbei­ter­selbst­ver­wal­tung, Eine Antho­lo­gie, Frank­furt am Main 1971, S. 9 ff. – Die­ser Titel erschien bei der gewerk­schafts­na­hen Euro­päi­schen Ver­lags­an­stalt in der Rei­he „Theo­rie und Pra­xis der Gewerkschaften“.
7 Ebd., S. 14.
8 Ebd., S. 15 f.

* [Der fol­gen­de Text ist ein Aus­zug aus: Manu­el Kell­ner, „Kapi­ta­lis­mus­ana­ly­se, Büro­kra­tie­kri­tik und sozia­lis­ti­sche Stra­te­gie“, Phil. Diss. Uni Mar­burg, 2005, S. 116 ff. (Ver­öf­fent­licht unter dem Titel Gegen Kapi­ta­lis­mus und Büro­kra­tie, Zur sozia­lis­ti­schen Stra­te­gie bei Ernest Man­del, Köln 2009.)
Die ursprüng­li­che Schreib­wei­se ist nicht ver­än­dert wor­den. Ledig­lich die Über­schrift, die Vor­be­mer­kung und die Zwi­schen­über­schrif­ten sind sei­tens der Redak­ti­on hin­zu­ge­fügt und offen­sicht­li­che Schreib­feh­ler kor­ri­giert wor­den. Die Absät­ze und die Fuß­no­ten sind ange­passt worden.]

Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Juni 2021
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