Manuel Kellner
Vor 150 Jahren zeigte die Pariser Kommune, was Demokratie der arbeitenden Klassen heißt. Die damals verfeindeten Herrscher Frankreichs und Preußens erkannten jedoch die Gefahr. Sie waren sich deshalb schnell einig, in der blutigen Unterdrückung dieser revolutionären Erhebung gemeinsame Sache zu machen.
Für die ISO und die IV. Internationale ist die Kommune bis heute ein bedeutender politischer Bezugspunkt. Insbesondere unser Genosse Ernest Mandel (1923 - 1995) hat sich mit dem Verhältnis von kapitalistischer und sozialistischer Demokratie auseinandergesetzt.*
Für Mandel ist die bürgerlich-parlamentarische Demokratie moderner Prägung auch nur ein politisches System zur Aufrechterhaltung der Herrschaft der bürgerlichen Klasse.
Während die demokratischen Freiheiten seiner Ansicht nach für die Arbeiterklasse wertvoll sind und verteidigt werden müssen, kritisiert er auch die demokratischste bürgerlich-demokratische Republik als viel zu wenig demokratisch, weil sie eine nur indirekte Demokratie ist, weil sie auf formaler Gleichheit bei faktischer Ungleichheit beruht und weil die ökonomische und soziale Macht der Besitzenden in der Praxis des täglichen Lebens zur Unterwerfung der Besitzlosen führt:
„Erstens ist die bürgerlich-parlamentarische Demokratie eine indirekte Demokratie, in der nur einige tausend oder zehntausend ‚Volksvertreter‘ (Abgeordnete, Senatoren, Bürgermeister, Gemeinderäte etc.) an der Verwaltung teilnehmen. Die übergroße Mehrheit der Bürger ist von einer solchen Teilnahme ausgeschlossen. Ihre einzige ‚Macht‘ besteht darin, alle vier oder fünf Jahre einen Stimmzettel in die Wahlurne zu werfen.
Zweitens ist die politische Gleichheit in einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie eine rein formale und keine wirkliche Gleichheit. Formal haben der Reiche und der Arme das gleiche ‚Recht‘, eine Zeitung zu gründen, deren Betrieb Millionen kostet. Formal haben Reiche und Arme das gleiche ‚Recht‘, im Fernsehen Sendezeit zu kaufen und somit die gleiche ‚Möglichkeit‘, den Wähler zu beeinflussen.
Aber da die Wahrnehmung dieser Rechte gewaltige finanzielle Mittel erfordert, kann sie nur der Reiche voll genießen. Den Kapitalisten wird es gelingen, eine große Wählerschaft zu beeinflussen, die materiell von ihnen abhängig ist, indem sie Zeitungen, Radiostationen und Fernsehzeit dank ihres Geldes kaufen können. Sie kontrollieren Parlamentarier und Regierung kraft ihres Kapitals.
Selbst wenn man schließlich von all diesen Beschränkungen, die der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie eigen sind, absehen und fälschlicherweise annehmen würde, sie sei vollkommen, bliebe immer noch die Tatsache, dass es nur eine politische Demokratie ist. Denn wem nützt eine politische Gleichheit zwischen arm und reich – wenn es sie überhaupt gäbe! – wenn sie Hand in Hand geht mit einer enormen, ständig zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit?
Selbst wenn die Armen und die Reichen genau dieselben politischen Rechte hätten, behielten die letzteren ihre gewaltige ökonomische und soziale Macht, die die Armen unvermeidlich im täglichen Leben den Reichen unterwerfen würde, auch in der praktischen Anwendung der politischen Rechte.“1
Grenzen der bürgerlichen Demokratie
Diese grundlegenden Grenzen der bürgerlichen Demokratie werden durch das allgemeine Stimmrecht und die darauf gründende Möglichkeit der Wahl von Vertreterinnen und Vertretern von Arbeiterparteien in die Parlamente nicht angetastet. Wahlrecht und Parlamente sind nur ein Element der bürgerlich-demokratischen Republiken, und zwar eines, dessen Gewicht im Zuge der Entwicklung zurückgeht:
„Es ist bezeichnend, dass in dem Maße, wie das allgemeine Wahlrecht von den arbeitenden Massen erobert wird und Arbeitervertreter ins Parlament einziehen, das Schwergewicht des auf die parlamentarische Demokratie gegründeten Staates sich unweigerlich vom Parlament auf den ständigen Staatsapparat verlagert: ‚Die Minister kommen und gehen, die Polizei bleibt‘. Dieser Staatsapparat befindet sich, was seine Zusammensetzung, die Art und Weise, wie er seine Hierarchie organisiert und was die Mechanismen der Auswahl und des Aufstiegs anbelangt, in vollständiger Übereinstimmung mit dem mittleren und großen Bürgertum. Unlösbare ideologische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedingungen verknüpfen den Staatsapparat mit der Bourgeoisie. Alle hohen Beamten beziehen ein Einkommen, das die Akkumulation privaten Kapitals erlaubt, wenn auch oft in bescheidenem Umfang. Das bewirkt, dass die Leute auch persönlich an der Verteidigung des Privateigentums und an einem ungestörten Gang der kapitalistischen Wirtschaft interessiert sind. Außerdem ist der auf den bürgerlichen Parlamentarismus gegründete Staat mit Leib und Seele mit den goldenen Ketten der finanziellen Abhängigkeit und der öffentlichen Verschuldung an das Kapital gebunden. Keine bürgerliche Regierung kann regieren, ohne ständig Kredite zu verlangen, die von den Banken, vom Finanzkapital, von der Großbourgeoisie kontrolliert werden. Jede antikapitalistische Politik einer Regierung von Arbeiterparteien würde einen sofortigen Zusammenstoß mit der finanziellen und wirtschaftlichen Sabotage der UnternehmerInnen nach sich ziehen. ‚Investitionsstreik‘, Kapitalflucht, Inflation, Schwarzmarkt, Drosselung der Produktion und Arbeitslosigkeit wären die Folgen einer solchen Sabotage.“2
Die repressiven Funktionen des bürgerlichen Staates können in normalen Zeiten für die Masse der abhängig Beschäftigten zurücktreten, weil das normale Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft zur Vorherrschaft der bürgerlichen Ideologie und zur Unangetastetheit der Klassenherrschaft führt. Anders ist dies jedoch in Krisenzeiten, wo auch die bürgerliche Demokratie zeigt, dass der Staat – wie von Marx und Engels analysiert – letzten Endes nur eine Gruppe bewaffneter Menschen im Dienst der Herrschenden ist.3
Freiheit durch sozialistische Demokratie
Mandel legt großen Wert darauf, dass das politische System, das unmittelbar nach der sozialistischen Revolution entsteht, demokratischer sein soll als die demokratischste Republik. Seine allgemeinen Formulierungen zu diesem Thema in popularisierenden Darstellungen zeigen die Verwandtschaft dieser Position mit derjenigen von Marx (oder auch von Lenin wie in dessen Schrift Staat und Revolution, auf die er sich immer wieder beruft), aber durchaus auch mit der anarchistischen Vorstellung einer herrschaftsfreien Gesellschaft, obwohl es sich in der marxistischen Tradition immer noch um einen „Staat“ handelt – aber eben um einen, der den Keim des eigenen Absterbens bereits in sich trägt:
„Der Arbeiterstaat wird demokratischer sein als der auf der parlamentarischen Demokratie beruhende Staat, weil er die direkte Demokratie stark ausdehnen wird. Es wird ein Staat sein, der mit seiner Entstehung schon abzusterben beginnt, indem er weite Bereiche des sozialen Lebens der Selbstverwaltung der betroffenen Bürger (Post, Massenmedien, Gesundheit, Unterricht, Kultur etc.) übertragen wird. Er wird die Massen der in Arbeiterräten organisierten ArbeiterInnen zur direkten Ausübung der Macht heranziehen und wird die Grenze zwischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt niederreißen. Er wird den Karrierismus im öffentlichen Leben beseitigen, indem er die Bezüge der Funktionäre, einschließlich der höchsten, auf den Lohn eines durchschnittlich qualifizierten Arbeiters beschränken wird. Er wird die Herausbildung einer neuen Kaste von Verwaltungsbürokraten mit der Einführung des Grundsatzes der obligatorischen Rotation aller Mandatsträger verhindern.
Der Arbeiterstaat wird demokratischer sein als der auf der parlamentarischen Demokratie beruhende Staat, weil er die materiellen Grundlagen für die Ausübung der demokratischen Rechte durch alle schafft. Druckereien, Radio- und Fernsehstationen oder Versammlungsräume werden kollektives Eigentum und stehen jeder Gruppe von Arbeitenden, die es wünscht, zur Verfügung. Das Recht, verschiedene politische Organisationen zu gründen, einschließlich einer Opposition, oppositionelle Zeitungen zu vertreiben und als politische Minderheit in Radio, Fernsehen und Presse zu Wort zu kommen, wird von den Arbeiterräten unnachgiebig verteidigt werden. Die allgemeine Bewaffnung der arbeitenden Massen, die Beseitigung der stehenden Armee und des Unterdrückungsapparates, die Wahl der Richter, die vollkommene Öffentlichkeit aller Vorgänge werden die beste Garantie dafür sein, dass keine Minderheit sich das Recht anmaßen kann, irgendeine Gruppe von Werktätigen von der Ausübung der demokratischen Freiheiten auszuschließen.“4
Der Inhalt, über den in einer solchen Rätedemokratie demokratisch entschieden werden soll, ist auch erweitert gegenüber dem, was in die Entscheidungskompetenz bürgerlicher Parlamente fällt. Außer den politischen Entscheidungen geht es vor allem um die übergreifenden wirtschaftlichen Richtungsentscheidungen. Da die großen Produktionsmittel verstaatlicht sind mit dem Ziel, sie wirklich – und nicht nur auf dem Papier – zu vergesellschaften, müssen sie auch von der Gesellschaft verwaltet werden.
Außer den Fragen, die Organen der Selbstverwaltung in den einzelnen Betrieben überlassen werden können, geht es um Probleme, die die ganze Gesellschaft etwas angehen, da sie für deren weitere Geschicke bedeutsam sind. Ob ein Atomkraftwerk gebaut werden soll oder nicht, kann weder von einer Belegschaft noch von einer Gemeinde alleine entschieden werden. Aber auch die Verwendung des Mehrprodukts überhaupt ist eine Frage von allgemein gesellschaftlicher Bedeutung.
Es gibt immer verschiedene Optionen: Sollen die Fortschritte der Arbeitsproduktivität genutzt werden, um mehr Urlaub zu ermöglichen oder um weitere Universitäten zu gründen? Soll die tägliche Arbeitszeit weiter verkürzt werden oder sollen mehr Ressourcen in die Optimierung der Energiegewinnung gesteckt werden? Und wenn dies alles erwünscht ist: In welchen Proportionen sollen die verschiedenen Belange bedacht werden? Eine ganz wichtige Frage ist immer die Investitionsquote, das heißt die Aufteilung der gesellschaftlichen Aufwendungen in die Erweiterung der Produktion (die Zukunft) und in die Erweiterung des Konsums im weiten Sinne des Wortes (die Gegenwart).
Bestmögliche Korrektur von Fehlern
Mandel schließt keineswegs Irrtümer aus, wenn über solche Fragen demokratisch entschieden wird. Er ist aber der Meinung, dass auf demokratischem Weg begangene Fehler am besten korrigiert werden können. Sozialistische Demokratie ist für ihn nicht nur ein politisch-moralisches Erfordernis aufgrund der emanzipatorischen Natur des sozialistischen Ziels, sondern auch ein Mittel für die ökonomische Effizienz der Planwirtschaft in einer Übergangsgesellschaft:
„Die Revolution, die der Sozialismus in der Wirtschafts- und Sozialpolitik mit sich bringt, bedeutet auch, dass die Entscheidung, einen Teil der für den laufenden Konsum potentiell verfügbaren Hilfsquellen der Entwicklung der Produktivkräfte zu opfern, von der Masse der Interessierten selbst getroffen werden muss. Im Gegensatz zum Kapitalismus oder zum System der bürokratischen Planung werden diese Opfer auf freiwilliger Basis gebracht. Es ist möglich (wenn auch keineswegs sicher), dass man hierdurch in bestimmten Fällen keine optimale Wachstumsrate erreicht. Aber selbst in diesem Fall hat der begangene Irrtum eine höchst erzieherische Wirkung und wird sich so bald nicht wiederholen. Lediglich in einem System bürokratischer Planung, in dem jede öffentliche Diskussion und Kritik fehlt, können offensichtliche Irrtümer in der Wirtschaftspolitik […] bestehen bleiben, ohne berichtigt zu werden.“5
Die knapp 60-seitige Einleitung von Mandel zu der von ihm 1971 herausgegebenen Anthologie zu Arbeiterkontrolle, Arbeiterräte, Arbeiterselbstverwaltung6 stellt ein bemerkenswertes Konzentrat seiner politischen Konzeption insgesamt dar. […] [Sie] ist aber auch geeignet, Mandels Position zur sozialistischen Demokratie zu erläutern, sowohl hinsichtlich des Charakters ihrer Institutionen wie auch in Hinblick auf die Verbindung von politischer Herrschaft der Arbeiterklasse, Selbstverwaltung der Betriebe und der gesellschaftlichen Einrichtungen und demokratischer gesamtwirtschaftlicher Planung.
Die Verbindung von Strategie und Ziel ist bei Mandel immer die kollektive Eigenaktivität der Produzentinnen und Produzenten, die vom Objekt zum Subjekt werden, wobei gleichzeitig der Erfolg seines Modells nur vorstellbar ist, wenn es gelingt, einen hohen politischen, kulturellen und verwalterischen Aktivitätsgrad eines großen Teils dieser Produzentinnen und Produzenten aufrecht zu erhalten. Schon daraus ergibt sich die große Bedeutung einer radikalen Verkürzung der Arbeitszeit.
Selbstorganisation im Klassenkampf
Aus fortgeschrittenen Selbstorganisationsformen der Arbeiterinnen und Arbeiter im Klassenkampf entstehen für Mandel die Keimformen der künftigen sozialistischen Republik. Das basisdemokratische Element ist für diese Keimformen charakteristisch:
„Wenn man die Entwicklung eines lokalen Generalstreiks beobachtet; wenn sich dann demokratisch gewählte Streikkomitees nicht nur in einer Fabrik, sondern in allen Fabriken der Stadt (vielmehr noch in der Region, im Land) bilden, die von Vollversammlungen der Streikenden gewählt werden; wenn diese Komitees sich zusammenschließen, sich zentralisieren und ein Organ schaffen, welches regelmäßig seine Delegierten zusammenruft, dann entstehen territoriale Arbeiterräte, Basiszellen des zukünftigen Arbeiterstaates. Der erste ‚Sowjet‘ in Petrograd war nichts anderes als das: ein Rat der Delegierten der Streikkomitees der wichtigsten Fabriken der Stadt.“7
Die Kampfführung selbst muss laut Mandel demokratischen Charakter haben, um erfolgreich zu sein, wie auch analog der Staat, der aus der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse hervorgeht, demokratisch sein muss, ebenso sehr um die Wirtschaft effizient zu führen wie um dem emanzipatorischen Ziel gerecht zu werden:
„Allgemeiner ausgedrückt: die sozialistische Revolution, deren Aufgabe in der Umwandlung der überwältigenden Mehrheit der Arbeiter, der Ausgebeuteten und Unterdrückten von Objekten in Subjekte der Geschichte, von entfremdeten Menschen in solche, die ihr eigenes Schicksal bestimmen, besteht, kann nicht ohne die bewußte Beteiligung der Massen in Angriff genommen werden. Eine solche Revolution kann so wenig hinter dem Rücken der Interessenten realisiert werden, wie ein Wirtschaftsplan nicht ‚hinter dem Rücken‘ derer angewandt werden kann, die die Wirtschaft verwalten.“8